E-Book, Deutsch, Band 2, 192 Seiten
Reihe: Echt böse
Henseleit Echt böse! Den Letzten beißen die Trolle
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5145-9
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
(Band 2)
E-Book, Deutsch, Band 2, 192 Seiten
Reihe: Echt böse
ISBN: 978-3-7336-5145-9
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jack Henseleit wurde an einem Winterabend im Jahre 1991 geboren, kurz nach Mitternacht. Wenn das Wetter dunkel und stürmisch ist, schreibt er Märchen - echte Märchen, in denen Hexen und Goblins unachtsamen Mädchen und Jungen Streiche spielen. Nicht alle Geschichten haben ein glückliches Ende ...
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1 Ein mulmiges Gefühl
»Was, glaubst du, passiert als Nächstes?«, fragte Max.
Anna blickte von ihrem Buch auf und schauderte. Die Mauer, die ihr Vater, der Professor, aus Taschen und Koffern zwischen ihnen gebaut hatte, verdeckte die Lüftungsschlitze für die Rückbank. Mittlerweile war es im Wagen eisig, die Fenster beschlugen.
Max beugte sich zu ihr und flüsterte leise und geheimnisvoll: »Das Wetter ist schon ein bisschen verdächtig, oder? Nebel, Nebel und nochmals Nebel, seit wir gelandet sind. Vielleicht sind es wieder Vampire!«
Jedes seiner Worte wurde von einem weißen Atemwölkchen begleitet.
Anna wischte mit dem Ärmel über die Scheibe und legte die Stirn in Falten.
»Glaube ich nicht«, sagte sie. »Das ist einfach dieses Land.«
Es war ein kalter Vormittag in der englischen Provinz. Dichte Nebelwellen rollten über satte Wiesen und brachen sich am Auto. Grüne Hecken, hoch, undurchdringlich und tauschwer, säumten die Straße zu beiden Seiten wie ein riesiges Labyrinth.
Max ließ sich zurück in seinen Sitz fallen und beäugte skeptisch das trübe Fenster. Anna versuchte, sich wieder auf ihr Buch zu konzentrieren. Dunkle Erinnerungen regten sich in ihr – Erinnerungen an einen zottigen Bären, einen schimmernden Dolch und ein boshaft verzerrtes Gesicht mit lodernden weißen Augen. Stöhnend klappte sie das Buch zu. Egal wie sehr sie sich bemühte, sie würde nicht weiterlesen können. Die Erinnerungen hatten sich festgebissen.
Denn sie hatten Fangzähne.
Annas und Max’ Abenteuer in den Wäldern Transsilvaniens war erst einen Monat her. Zusammen mit ihrer Freundin Isabella hatten die Geschwister eine ganze Reihe gruseliger Geheimnisse gelüftet, zum Beispiel, dass Vampire real – und ziemlich bissig – waren. Man hatte sie auch vor anderen Fabelwesen gewarnt, aber seit der rumänische Max entführt hatte, fürchtete ihr kleiner Bruder sich am allermeisten vor noch mehr Blutsaugern. Bei Regen ging er ungern aus dem Haus, für den Fall, dass wieder ein Vampir das Wetter kontrollierte. Außerdem trug er immer eine Knoblauchzehe bei sich. Anna musste sich erst noch an den stechenden Geruch gewöhnen, der ihn umgab, sogar in der kalten Luft des Wagens.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen – oder vielleicht gerade deswegen – waren sie keinen weiteren Vampiren begegnet, weder zu Hause noch auf der Straße noch in der Schule. Ihre neue Haushälterin war ebenso wenig eine gewesen wie Max’ Lehrerin, obwohl die sich ständig über den Gestank seiner Klamotten beschwert hatte. Ihr Leben war völlig normal verlaufen, genau wie vorher.
Anna schloss die Augen. Nach ihrem Sieg über den Vampir war sie heilfroh gewesen, dass er ihnen nun nie wieder etwas anhaben konnte. Aber … war es nicht auch aufregend gewesen, in die Schlossruine zu schleichen und auf dem Rücken des Bären durch den sturmgepeitschten Wald zu reiten? Oder den magischen Dolch in der unheimlichen alten Pension zu finden – einen Dolch, den sie seither stets dabeihatte, versteckt in seiner Scheide? In allen Büchern, die sie je über England gelesen hatte, wurde es als Land voller Rätsel beschrieben, als Land, in dem kluge Kinder einen ständigen Kampf gegen Diebe und Schmuggler führten und die Verbrecher durch Geheimgänge und verborgene Räume verfolgten. Sicher gab es hier auch Fabelwesen. Wäre es wirklich so schlimm, eins zu treffen, jetzt wo sie den weißen Dolch hatten und sich verteidigen konnten?
Irgendetwas berührte Anna an der Schulter.
Sie öffnete die Augen. Da lag etwas Totes und zappelte wie eine Spinne mit den bleichen Gliedern. Als es bemerkte, dass es ertappt worden war, erstarrte es, ein Fingerbeinchen erhoben, keinen Schritt von Annas nacktem Hals entfernt.
, quiekte sie.
Ihr Vater auf dem Vordersitz schrie gedämpft auf und riss das Lenkrad herum. Sie schlingerten zur Seite, direkt auf die Hecken zu. Anna keuchte, als Blätter und Zweige gegen die Fenster schlugen. Ein weiterer ruckartiger Schlenker, und alle Räder waren zurück auf der Straße. Die Kinder atmeten erleichtert auf. Der Professor hatte das Auto wieder unter Kontrolle.
»Was ist dahinten los?«, fragte er verärgert. »Das war sehr gefährlich.«
»’tschuldigung«, murmelte Anna betreten. »Aber das war Max’ Schuld.«
»Stimmt gar nicht«, protestierte ihr kleiner Bruder.
»Stimmt wohl«, zischte Anna. »Ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du dieses von mir fernhalten sollst!«
»Dafür kann ich nichts. Du weißt genau, dass es manchmal einfach loswandert.«
Anna verengte die Augen. Jetzt hatte er sie an die eine wirklich schreckliche Folge ihres Abenteuers erinnert: seine tote rechte Hand. Der Vampir hatte alles Blut und Leben herausgesaugt, und auch einen Monat später hatte sich ihr Zustand nicht gebessert. Unter der graugrün gefärbten, schlaffen Haut konnte man alle Knochen erkennen. Außerdem behauptete Max, dass sich seine Finger von allein bewegten, ohne dass er es mitbekam, aber Anna war sich nicht sicher, ob sie das glauben sollte. Ein unkontrollierbar wanderndes Händchen war die perfekte Ausrede, um sie ärgern zu können, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen.
»Tut mir leid«, brummte Max kleinlaut. »Das wollte ich nicht.«
Anna hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihn immer noch anfunkelte.
»Schon okay.« Ihre Miene wurde freundlicher. »Versuch einfach, es nicht wieder zu tun.«
»Was nicht wieder zu tun?«, fragte ihr Vater.
»Ach, nichts.« Anna beugte sich vor und wechselte das Thema. »Sind wir bald da?«
Wie so oft türmte sich auf dem Beifahrersitz ein Stapel Karten. Ganz oben lag ein relativ neuer Straßenatlas; er wurde von einem seltsamen Stein beschwert, den der Professor von einer Forschungsreise mitgebracht hatte. Doch als Anna genauer hinschaute, verflog ihre anfängliche Zufriedenheit schnell. Ein dichtes Gewirr aus Straßen und Wegen überzog die Landkarte, und wie es aussah, hatte ihr Vater selbst noch ein paar Linien dazugezeichnet. Anscheinend war England tatsächlich ein Labyrinth.
»Ja, fast.« Der Professor kniff die Augen zusammen, als eine dicke Nebelwolke gegen die Windschutzscheibe waberte. »Oder wir sind schon vorbei. Das ist nicht so leicht zu erkennen.«
»Halten wir doch an und fragen«, schlug Max vor.
»Sei nicht albern«, meinte der Professor. »Da draußen ist doch niemand.«
Anna spähte auf die Straße vor ihnen. Ihr Vater hatte wohl recht.
Plötzlich tauchte eine Gestalt aus dem Grau auf.
Der Professor trat auf die Bremse. Anna und Max wurden gegen ihre Gurte geschleudert. Annas Buch rutschte ihr vom Schoß und landete schwungvoll auf dem Boden. Die Gestalt kam näher und streckte einen Arm aus, die Finger zur Faust geballt. Entsetzt beobachteten die Geschwister, wie der Arm sich hob und die Faust laut gegen die Scheibe auf der Fahrerseite schlug.
»Machen Sie das Fenster auf«, befahl die Gestalt mit dumpfer Stimme.
»Tu es nicht, Dad!«, flehte Max.
Der Professor schluckte. Mit zitternder Hand kurbelte er die Scheibe runter und keuchte, als die frische Morgenluft ins Auto wehte.
Ein Kopf beugte sich herein – das kantige Gesicht einer Frau. Ihre Haut war blass von der Kälte, und ihr rabenschwarzes Haar zeichnete sich scharf gegen den Nebel ab. In der Hand hatte sie eine große Blechdose.
»Morgen. Gehören Sie zum Suchtrupp?«
»Ähm … wie bitte?«, fragte der Professor.
Die Frau runzelte die Stirn.
»Ach, Sie sind von außerhalb? Vergessen Sie’s. Dann nur den Zoll, bitte.«
Der Professor blinzelte sie an. Sein Mund stand halboffen. Die Frau musterte ihn streng.
»Da vorn kommt eine Zollbrücke. Sie müssen bezahlen, um sie zu benutzen. Achtzig Pence pro Wagen.«
Anna schnallte sich ab, lehnte sich zwischen die Vordersitze und blickte angestrengt nach draußen. Sie konnte keine Brücke erkennen, und der Professor hatte offensichtlich auch nicht mit einer gerechnet. Verwirrt tastete er nach dem Straßenatlas und hielt ihn sich dicht vors Gesicht.
»Da ist jemand hinter uns«, sagte Max leise.
Anna drehte sich um. Ein zweites Auto schälte sich aus dem Nebel. Seine Scheinwerfer leuchteten schwach. Max sank auf seinem Sitz zusammen, als hätte er Angst davor, gesehen zu werden.
Die Frau tippte ungeduldig gegen die Tür.
»Achtzig Pence, oder Sie müssen umdrehen. Sie blockieren die Straße.«
Der Professor murmelte etwas Unverständliches und fuhr mit dem Finger eine rote Linie nach, die eindeutig nachträglich eingezeichnet worden war. Die Frau klappte wieder den Mund auf. Schnell griff Anna nach dem Münzbeutel ihres Vaters und öffnete ihn.
Er war gefüllt mit Kleingeld aus aller Herren Länder. Manches wirkte so alt und ungewöhnlich, dass es bestimmt nicht mehr in Benutzung war – wenn es sich unter der schwarzgrünen Dreckkruste überhaupt noch identifizieren ließ. Mit vor Kälte tauben Fingern wühlte sie so lange, bis sie zwei große silberne Münzen mit den magischen Worten FIFTY PENCE darauf entdeckte.
»Ich habe kein Wechselgeld«, sagte die Frau, als Anna ihr die Münzen reichte. »Ich kann nicht rausgeben.«
»Nicht schlimm«, erwiderte Anna. Es war schließlich nicht ihr Geld. »Aber würden Sie uns verraten, wo wir sind?«
»Ich weiß, wo wir sind«, brummte ihr Vater, allerdings nicht sonderlich laut.
Anna ignorierte ihn und schaute die Frau hoffnungsvoll an. Die schürzte die Lippen.
»Wenn ihr hinter der...