E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Henscheid Denkwürdigkeiten
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-89561-852-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aus meinem Leben
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-89561-852-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eckhard Henscheid, geboren 1941 in Amberg, gehörte neben Robert Gernhardt, Chlodwig Poth, F. W. Bernstein und anderen zur Neuen Frankfurter Schule und 1979 zu den Gründungsmitgliedern der satirischen Zeitschrift Titanic. Er arbeitete als Journalist und Redakteur, bevor er freier Schriftsteller wurde. Sein literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Satiren, Essays und Glossen und darf in seiner Mischung aus Romantik, Ironie und eigenster Stilistik als einzigartig gelten. Eckhard Henscheid lebt mit seiner Frau in Amberg in der Oberpfalz.
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1941–1951
Öga – Bier!« soll der ein- oder zweijährige Eckhard in heimatlichen Biergärten von Tisch zu Tisch wackelnd gerufen bzw. schon kraftvoll gefordert haben; eine frühe und etwas täppische Leidenschaft, die bis zum ca. 40. Geburtstag stark anhielt, ehe sich diese (sagen wir es etwas deutlicher) Sucht dann immer entschiedener »dem Weine« (Heino Jaeger) zuwandte, um in ihm usw. –
Essentieller und mir erinnerlicher sind aber noch die drei kindlichen Geschmacks- bzw. Geruchssensationen, die das gewiß nicht arme, jedoch auch nicht allzu privilegierte Kriegskind heimsuchten; abermals und wie beim Bier dergestalt, daß es sich Schöneres nicht mehr zu denken vermochte:
Erst mit acht Jahren, gegen Ende der ersten Eisenbahnfahrt in des Vaters Heimat, das Rheinland, zum mir in der Folge sehr nahegehenden »alten Vater Rhein« (Robert Schumann), lernte ich im Bahnhof von Godesberg das damals wohl wirklich seltene kohlensäurehaltige Heilquellensprudelwasser kennen und traute, von hochsommerlichem Durst ohnehin halb verschmachtend, angesichts dieser Mundhöhlenpitzeleien meinen Geschmacksknospen oder jedenfalls meinem damals allzu gesunden Menschenverstand nicht mehr. Vorher schon hatte ich, gleichfalls vollends hingerissen, den Geschmack von Kokosnüssen kennengelernt; und wäre dann von der ersten Hl. Kommunion mit Manna-Oblaten sehr enttäuscht gewesen, hätte ich nicht als überbegabtes Kind den Schwindel von wegen sinnlich/übersinnlich bereits ziemlich durchschaut gehabt.
Und hatte aber damals etwa gleichzeitig auch noch die gleichfalls recht seltene Orange geschmeckt bzw. in der davon richtiggehend betäubten Nase erduftet.
Kein Wunder, daß mir gut zehn Jahre später die Textstelle »Siente, siè ’sti sciure arance, nu profumo accussi fino« aus der neapolitanischen Canzone »Torna a Surriento«, also der Preis des Orangenduftes, immer besonders heftig, ja von Haus auf einleuchtete.
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Die Sprache von Babyfotos, allesamt natürlich noch einheitlich schwarzweiß:
1. Ein rundherum heiterster, vor Lachen tendenziell berstender Kugelkopf ohnegleichen des vielleicht neun Wochen alten Buben. Den konnte der Frohsinn nie ganz verlassen.
2. Der noch immer restlos haarfreie und noch gewaltiger ausladende Rundkopf des knapp Einjährigen gottselig auf den Armen der Mutter: Eigentlich war dieser Kopf doch aber eine Widerlegung der Kulturnation und des Menschengeschlechts.
3. Wäre da nicht die unwiderstehliche Hose gewesen, die, gemeint eigentlich als Kurzhose, vom Knie bis direkt unter den Hals reichte. Ein klarer Vorab-Konter der späteren Jugendmode, wo die Hose bereits zu tief sitzt und dann möglichst konturlos nach hinten dem Boden entgegen zu hängen kommt.
4. Wenn ich heute schon mal die Bilanz meines Lebens ziehe, so überragt fast allen späteren Glanz ein Weihnachtsfoto des dem Babyalter lang Entwachsenen, des vielleicht bereits Dreijährigen; der da mit angespannter Miene auch schon zu lesen versteht, nämlich in einem Bilderbuch »Kikeriki« über seinen Freund, den Gockelhahn. Mit dem Blick, der deutlich besagt, so was Schönes dürfe es doch gar nicht geben.
Meine frühe Maler- und die viel spätere literarische Begabung waren da schon unverhinderbar und nicht mehr aufzuhalten.
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»Wer ist stärker, Löwe oder Tiger?«
Wenn meine Mutter Glück hatte, dann hörte sie auf ihre Antwort (»Löwe bzw. »Tiger«) die heftig kopfnickend einverständige Antwort des ca. Vierjährigen:
»Isaa!« Meint: Ist auch, ist richtig.
Hatte sie weniger Glück, kriegte sie bei der Antwort »Löwe« ein triumphal rechthaberisches »Nein, Tiger!« zu hören. Und genauso penetrant umgekehrt, natürlich, je nach Bedarf.
Zu vermuten steht, daß sich aus diesem frühen Widerspruchs- und Rechthabergeist bereits so onto- wie phylogenetisch meine spätere Existenz als widerborstiger Kritiker, Satiriker, als humoristischer Romancier herschreibt. Das Konziliante war mir wohl mein ganzes Leben auch nicht fremd; das affirmativ Akzeptanzfreudige und seelenruhig mit Gott und Welt Einverständige weniger, fast nie gegeben.
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Hitlers Hinschied am 30.4.1945 kurz vor halb vier Uhr sah mich als 3,5jähriger noch kaum auf dem Posten. Allerdings, etwa ein halbes Jahr früher hißte ich zusammen mit meiner Mutter für irgendeinen Parteistraßenumzug noch recht überzeugt eine Hakenkreuzfahne; in jenem noch im Jahr 2010 existenten Schaft am Schlafzimmerfenster, der später auch für die schönen junigelben Wimpel des Fronleichnamsumzugs herhalten sollte. Sodaß mein persönliches »Heraustreten aus dem Schatten Hitlers« (Franz Josef Strauß) zwar mählich und im Prinzip gewährleistet war, sich aber naturgemäß noch eine Weile hinzog.
Wiedergutmachung leistete ich 1968ff. mit der mehrfachen Teilnahme an Anti-NPD-Aufläufen wider die Besuche der Bundes- und Landesvorsitzenden Thadden und Pöhlmann. Um, wahrnehmend die fortschreitende historische Ahnungslosigkeit der Nachwachsenden, dereinst aber nun doch mal Nägel mit Köpfen draus zu machen. Mit der Behauptung nämlich, z.B. gegenüber zulauschenden Studenten, ich sei am 20.7.1944 bei Stauffenbergs Anschlag im Führerhauptquartier leitend mit von der Partie wenn schon nicht Partei gewesen.
Nämlich genaugenommen als rechtzeitig seit 1942 »dem weiteren Widerstandskreis der ‹Weißen Rose› zugehöriger« (Hildeg. Hamm-Brücher in ihrer Kurzbiografie von 1970) Kämpfer gegen den sog. Hitler-Ungeist und die sog. Nazi-Barbarei. Ja, weißgott, in diesem Verein war ich ab Ende 1941 auch schon, was denn sonst.
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Das Gefühlsinteresse des etwa Fünfjährigen und bereits wintersportbegeisterten Kindes an gefrorenen Bächen und Rinnsalen, namentlich an den kleinen Eisschollen und an den rundlichen oder länglichen Schlieren ihres Geäders unter der weißgrauen Decke, es läßt mir keine andere Deutung zu, als daß ich damals schon das innerste Thema der Schubertschen »Winterreise« wenn nicht gemütsmäßig vorausimaginiert, so doch halbkünstlerisch vorausgeahnt habe.
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Für Kleist erfüllte sich die »Gegenwart Gottes« in der Stille der Wälder wie im Geschwätz der Quelle (Brief an die Braut Wilhelmine vom 3.9.1800); für Goethe im Zusammenhang mit Eckermanns stark penetranten Belehrungen über den Kuckuck vor den Toren Weimars, welche der alte Dichter zuerst noch etwas verbittert mit Lob quittiert: »Ich sehe, man mag in die Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit« (26.9.1827); dann aber (8.10.1827) sich aufrappelnd oder schon grimmig oder halt einfach nur machtvoll angezwitschert als Bilanzurteil über das Benehmen des inkommensurablen Kuckucks: »Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne!«
So weit würde ich nicht gehen, dem Kuckuck das ausgerechnet zuzuvermuten – die Gegenwart enthüllte sich mir zeitlebens wohl auch nie als All-, sondern allenfalls als Teilgegenwart Gottes, und auch die mehr als zweischneidig. Ja für mich ziemlich blamabel. In der Adventszeit 1947 dürfte es gewesen sein, da wurde mir Gott halbwegs gegenwärtig, er kam als gottkongruentes Christkind zu mir, wie schwere- und gewichtlos, aber doch in kleiner Menschengestalt, kam er in die elterliche Küche geschneit und stellte lautlos irgendetwas Gnadenreiches auf dem Tisch ab, um mich ebenso schwere- und lautlos wieder zu verlassen. Als ich eine halbe Stunde danach meiner seltsamerweise aushäusigen Schwester von dem Wunder berichtete, noch immer erregt und gleichzeitig aber auch wie gebannt, betäubt, windelweich seligkeitsbetäubt, ja wohl erstarrt vor Glück oder vielmehr eben höherer Seligkeit, vor dem, was ich später »das Numinose« zu nennen lernte, vor dem wie auf Engels- bzw. eben Christusschwingen Erschienenen, verzaubert vom ganz und gar noch unbekannten Extraterrestrisch-Metaphysischen: Da zeigte sie, die ältere und bübische Schwester, sich erstaunlich ungerührt, weil klar, sie war ja das Christkind gewesen. Was ich erst später erfuhr, zu meinem Leidwesen erfuhr, denn bis dahin hatte ich an meiner kleinen Gottbegegnung unangefochten festgehalten – und wenn ich heute überlege, welche spätere Begegnung dieser des Sechsjährigen gleichgekommen wäre, dann gerate ich in Verlegenheit – die Stille der Wälder war es jedenfalls nicht und der Kuckuck schon gleich gar nicht; eher schon einmal 1999 zu Weimar der mitternächtliche Gesang einer Nachtigall –
Eine – Frau? Eine Kantilene? Nein. Genug, wenn mir im Verlauf dieses Buchs noch etwas sowohl mir als Gott einigermaßen Äquivalentes und Brauchbares einfällt, trag ich’s nach. Versprochen.
»Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott« (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher) als der unentrinnbare Grund des Religiösen, Göttlichen – der ist mir aber öfter begegnet. Davon gleichfalls später, vielleicht.
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»Manche schöne Erscheinung des Glaubens und der Gemütlichkeit« (Heine, Wintermärchen) kreuzte und prägte damals oder etwas später die religiöse Werdung der durchaus empfänglichen Knabenseele. Ja freilich, keine wirklich religiösen, aber doch sehr para- und protoreligiöse Gestalten und Gesellen, Geistliche, die sich aufs Errichten von Zeltlagern oder auch nur auf die helfende, im Gegensatz zur heiligmachenden Gnade verstanden, andererseits aber auch aufs immerfortige Schafkopfspielen, katholische Geistliche und Würdenträger und Eiferer, und die empfindsame Knabenseele verstand sie nur allzu gut und allzu willig, ich...