E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Henry Ein Haus fürs Herz
Erscheinungsjahr 2019
ISBN: 978-3-641-22810-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-22810-1
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Veronica Henry arbeitete für die BBC und als Drehbuchautorin für zahlreiche Fernsehproduktionen, bevor sie sich dem Schreiben von Romanen zuwandte. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Devon, England.
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KAPITEL 1
Belinda erreichte Hunter’s Moon ohne Probleme, denn sie war am Vortag schon einmal hingefahren, um auf keinen Fall zu spät zu kommen.
Sie hatte sich schon mehrmals auf unbeschilderten Straßen heillos verfahren und sich deshalb angewöhnt, vor jeder Begutachtung eine Erkundungsfahrt zu machen. So erschien sie zu ihren Terminen pünktlich und entspannt. Nichts war schlimmer, als schwitzend im Kreis zu fahren und das Navi zu verfluchen.
Nach zwölf Jahren im Geschäft war Belinda die Gelassenheit in Person. Eine Erkundungsfahrt vorab und ein Hauch Puder auf die Wangen, die immer ein bisschen zu rosig waren, und schon strahlte sie eine heitere Gemütsruhe aus, auch wenn sie innerlich ein Nervenbündel war, denn häufig hatte sie so wenig Zeit zwischen zwei Terminen, dass sie dauernd zu spät kam.
Aber heute war sie pünktlich. Und Hunter’s Moon hatte das Potenzial für einen Bieterkrieg. Ihrer Ansicht nach war es das perfekte Objekt. Groß, aber nicht zu groß. Viel Land drum herum, aber nicht zu viel. Heutzutage wollte niemand mehr riesige Grundstücke haben, weil es nur Kosten verursachte, aber zugleich wollten alle möglichst abgeschieden wohnen. So weit Belinda sehen konnte, war die Welt um das Anwesen herum noch in Ordnung. Keine hässlichen Strommasten weit und breit, keine Siedlungen im Bau oder in der Planung, keine Nutzungsbeschränkungen. Natürlich konnte es immer böse Überraschungen geben, wenn man sich genauer umsah, aber Belinda war optimistisch.
Außerdem konnte Hunter’s Moon ein ganz besonderes Merkmal vorweisen: Es hatte einmal der Schriftstellerin Margot Willoughby gehört. Das hob natürlich nicht den Wert des Objekts, doch es verlieh ihm eine romantische Note. In fast jedem Haus, das Belinda begutachtete, stand mindestens eins von Margot Willoughbys Büchern im Regal. Niemand wollte zugeben, dass er solche Schmöker toll fand, und doch wurden sie von allen gelesen. Belinda erinnerte sich an das zerfledderte Exemplar des größten Bestsellers von Margot Willoughby, das in ihrer Klasse die Runde gemacht hatte. Sie musste lächeln. Aus diesem Buch hatte sie viel gelernt.
Ein berühmtes, geschichtsträchtiges Haus in ihrem Schaufenster wäre eine gute Reklame. Sie sah das Schild an der Landstraße schon vor sich: Zu verkaufen – Immobilien Belinda Baxter. Darunter ein kleiner weißer Pfeil in Richtung Abzweigung.
Sie verlangsamte das Tempo, als sie zwischen den hohen Hecken über den holprigen Weg fuhr. Sie wollte nicht den Unterboden ihres Wagens beschädigen und auch nicht riskieren, dass der Lack Kratzer bekam, auch wenn sie sich den SUV extra zugelegt hatte, um auf solchen unbefestigten Wegen zurechtzukommen. Er war jetzt schon über fünfzehn Jahre alt, aber gut gepflegt. In ihrer Branche kam es darauf an, erfolgreich zu wirken, und das A und O war ein schickes Auto.
Als sie auf das Tor zufuhr, beschleunigte sich ihr Puls. Kurz vor einem Termin bekam sie jedes Mal so etwas wie Lampenfieber, denn alles hing von ihrem Auftritt ab. Wenn sie das Falsche sagte, nicht den richtigen Ton traf, war die Provision dahin. Natürlich kannte sie ihren Text auswendig, aber ganz ohne Improvisation ging es nicht. Man musste den Verkäufern sehr genau zuhören. Normalerweise konnte sie ganz gut einschätzen, was sie wollten, aber oft genug auch nicht, und deswegen bereitete sie sich sorgfältig vor, wenn sie zu einer Begutachtung fuhr. Auf die Fakten kam es an.
Sie betrachtete das Tor. Die steinernen Säulen waren eindrucksvoll, aber die schmiedeeisernen Torflügel hingen schief in den Angeln und lagen halb in der Hecke wie Betrunkene. Belinda ging ihre Checkliste durch – Reparaturarbeiten und kosmetische Veränderungen, die durchgeführt werden mussten, bevor das Objekt zum Verkauf angeboten werden konnte. Die Verkäufer protestierten zwar in der Regel, aber wenn man einen guten Preis erzielen wollte, kam es auf die Präsentation an. Die Torflügel mussten gestrichen und wieder richtig eingehängt werden, das würde gleich einen anderen Eindruck machen.
Ihr Wagen schaukelte, als sie in die holprige Einfahrt einbog. Mächtige Eichen streckten schützend ihre Äste über den Weg und spendeten Schatten. Belinda warf einen Blick auf den Beifahrersitz, um sich zu vergewissern, dass sie alles dabeihatte, was sie brauchte. Ihr iPad in einer eleganten Hülle, Laptop und Stift. Lasermessgerät. Exposés von anderen Villen, die sie verkauft hatte. Im Kofferraum lagen eine Wachsjacke und ein Paar Gummistiefel für die Begehung des Grundstücks.
Im Grunde war dieses Equipment überflüssig, denn letztlich kam es auf ihren Charme und ihr Wissen an, wenn sie den Auftrag bekommen wollte. Sie musste den Leuten das Gefühl geben, dass sie bei ihr in sicheren Händen waren, dass sie ihnen alle Mühen und Unannehmlichkeiten abnehmen würde. »Wir kümmern uns darum«, war ihr Lieblingssatz, egal, ob es darum ging, einen Auszug aus dem Grundbuch oder einen Meter Kaminholz zu besorgen.
Kurz vor der letzten Kurve hielt sie an und überprüfte ihr Aussehen im Rückspiegel. Es war wichtig, dass ihre Wimperntusche nicht verschmiert war und sie keinen Lippenstift an den Zähnen hatte. Sie musste gepflegt wirken, aber nicht übermäßig gestylt. Sie wollte ihre Kunden schließlich nicht einschüchtern. Wobei sie gar nicht in der Lage wäre, irgendjemanden einzuschüchtern. Sie selbst reagierte schnell verschüchtert, wenn jemand grob wurde. Aber wenn Leute sie freundlich behandelten, war sie die Zuvorkommenheit in Person. Ihre Garderobe war entsprechend konservativ: taillierte Blazer zu eng anliegenden, kurzen Röcken oder schwingende Kleider. Ihr dunkles Haar trug sie zu einem französischen Zopf geflochten. Sie hatte grüne Augen und volle, sinnliche Lippen, die sie jetzt mit pinkfarbenem Lippenstift nachzog.
Dann schloss sie wie immer für einen Augenblick der inneren Einkehr die Augen. Im Geiste wünschte sie allen, die von dem Verkauf des Objekts betroffen sein würden, viel Glück. Denn eigentlich ging es nie nur um den Verkäufer. Wenn es sich bei dem Objekt um eine große Liegenschaft handelte, konnte sich der Verkauf auf das Leben Dutzender Menschen auswirken.
Sie wusste immer noch nicht, warum Hunter’s Moon verkauft wurde. Die drei Hauptgründe, die jemanden zum Verkauf einer Immobilie bewogen, waren Schulden, Scheidung oder Tod. Solche Kunden musste man mit Samthandschuhen anfassen, denn da waren viele Gefühle im Spiel: Trauer, Reue, Stolz, Angst … Das Problem war, dass die Leute sich häufig verstellten und nicht mit der Wahrheit herausrückten. Sie taten so, als wäre alles in bester Ordnung, und in Wirklichkeit hatten sie irgendeine Leiche im Keller.
Natürlich kam es immer wieder vor, dass Belinda sich die ganze Mühe umsonst machte. Die Leute entdeckten in irgendeiner Anzeige ihr Traumobjekt und wollten daraufhin ihr Haus verkaufen, stellten dann aber fest, dass sie dafür nicht genug Geld bekommen würden und sich das neue Heim nicht leisten konnten, vor allem, seit es immer schwieriger geworden war, einen Baukredit zu bekommen.
Belinda glaubte jedoch nicht, dass dies hier der Fall sein würde. Als sie um die Kurve und auf die Lichtung fuhr, auf der das Haus stand, wurde sie von der hellen Aprilsonne geblendet. Sie hielt sich schützend eine Hand über die Augen und sah sofort, dass Hunter’s Moon kein Haus war, aus dem man auszog, wenn man nicht dazu gezwungen war.
Sie fuhr langsam um den Springbrunnen herum, der in der Mitte des mit Kies bestreuten Vorplatzes stand. Die Brunnenskulptur – eine von einem Delfin umschlungene Putte – war verwittert und von Moos bedeckt. Belinda lächelte. Genau solche Besonderheiten waren es, in die die Leute sich augenblicklich verliebten.
Als sie sich umdrehte, um das Haus zu betrachten, blieb ihr fast das Herz stehen. Wenn sie das perfekte Haus hätte beschreiben sollen, dann wäre es wohl dieses gewesen. Es war aus hellem Cotswold-Sandstein erbaut, Moos und Flechten sorgten für weiche Konturen. Belinda schätzte, dass es mindestens zweihundert Jahre alt war. Es war dreigeschossig, Höhe und Breite bildeten eine vollkommene Harmonie. Die hohen Sprossenfenster blinzelten im Sonnenlicht. Aus dem steilen, grauen Dach ragten zwei robuste Schornsteine. Eine breite Treppe führte zu einer kanariengelb gestrichenen Haustür, die flankiert wurde von zwei viereckigen Pflanzkübeln mit Buchsbaumkugeln. Eine alte, knorrige Glyzinie war bis über die Fenster im Erdgeschoss geklettert.
Von dem runden Vorplatz aus führten breite Steinstufen hinunter in einen Garten mit Blumenbeeten und einem Seerosenteich in der Mitte, der von einer dichten Buchenhecke eingefasst war. In der Ferne waren sanfte Hügel zu sehen, auf denen vereinzelte Schafe grasten. Ein Bach glitzerte silbrig in der Sonne.
Belinda stieß einen tiefen Seufzer aus, in dem eine Mischung aus Behagen und Neid lagen. Sie wandte sich der Hausfront zu und wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als oben die Haustür aufging und ihr ein goldenes Fellknäuel entgegenstürmte, das sie sofort aufgeregt zu beschnuppern begann. Belinda hatte mit der Zeit gelernt, mit ungestümen Hunden umzugehen. Sie beugte sich also hinunter, um diesem Exemplar die Ohren zu kraulen.
Dem Hund folgte eine nicht mehr junge Frau, schlank, in einer weiten, weißen Leinenbluse, ausgewaschenen Röhrenjeans und Turnschuhen.
»Teddy!«, sagte die Frau vorwurfsvoll. Sie packte den Hund am Halsband. »Aus, Teddy!«
Teddy konnte nicht aufhören, Belindas Beine zu beschnüffeln.
Die Frau sah Belinda entschuldigend an. »Keine Angst, der tut nichts.«
Belinda verkniff sich die Bemerkung, dass alle Hundebesitzer das sagten, aber sie merkte, dass Teddy harmlos war. Sie kraulte ihm den Kopf.
»Was ist das für eine...