E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Hennig Mit Oma in Roma
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1304-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1304-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tessa Hennig schreibt seit vielen Jahren große TV-Unterhaltung und Bestseller-Romane mit Herz und Humor, die auch erfolgreich verfilmt wurden. Wenn sie vom Schreiben eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen gern in den Süden.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Einmal vom Virus befallen, der sich »Bella Italia« nannte, gab es keine Chance auf Heilung. Inge kannte das nur allzu gut. Die in der Regel in Schüben verlaufenden Symptome, sprich Fernweh, Sehnsucht und triefende Melancholie, bekam man lebenslang nicht mehr los. Kurzzeitige Linderung verschafften in solchen Fällen nur noch Pizza und Pasta beim Italiener ums Eck, natürlich auch selbstgemachtes Tiramisu oder ein Schluck Limoncello. Doch erst wenn man sich der Quelle des Unheils, dieser atemberaubenden landschaftlichen Schönheit südlich des Brenners und dem Charme aussetzte, mit dem dieses Land anscheinend die ganze Welt verhexte, spülten Glückshormone einfach alle Trübsal weg. Man war faktisch wieder gesund – bis zum nächsten Schub.
»Du bist dran!« Henriettes stechendem Blick nach zu urteilen, der durch ihre starken Brillengläser gleich noch viel bedrohlicher wirkte, sollte Inge sich besser wieder auf das Kartenspiel konzentrieren, anstatt von Bella Italia zu träumen. Obwohl ihr Otto vorhin ins Blatt gesehen hatte, lag auf dem Tisch vor ihr nun die grüne Sieben. Passt perfekt, wenn man selbst nur noch zwei für Mau-Mau zweckentfremdete grüne Schafkopfkarten in der Hand hielt. Und dann immer behaupten, er hätte keinen Alzheimer. Noch eine Runde, dann war es Zeit für Tee und Kekse, um dabei mit dem ehrenamtlichen Seelsorger endlich die bevorstehende Romfahrt zu besprechen.
Inge legte die grüne Zehn auf den Stapel. »Mau!«, kündigte sie siegessicher an, was ihr feindselige Blicke aus gleich drei Augenpaaren einbrachte.
»Träumt die ganze Zeit vor sich hin und gewinnt schon wieder«, beschwerte sich prompt der Vierte in der allwöchentlichen Kartenrunde des Gemeindehauses Oberkirch. Herbert hielt nämlich noch fünf Karten in der Hand, die gelegentlich so zitterte, dass er dauernd unfreiwillig Teile seines Blatts auf dem Tisch verstreute. Aber die Tabletten nicht nehmen wollen. Auf diese Weise konnte man gar nicht gewinnen.
Bis er seine Karte hinlegte, war genug Zeit, um sich erneut dem aufsteigenden Fieber, sprich dem »Virus«, hinzugeben. Eingefangen hatte Inge ihn sich in jungen Jahren gleich im ersten Italienurlaub Mitte der fünfziger Jahre. Und zwar auf einem Campingplatz am Gardasee, zu dem man seinerzeit noch durch enge Alpenpässe fast einen Tag lang unterwegs war. Inge hatte sofort den alten weißen Käfer vor Augen, Papa am Steuer, in kurzen Hosen und geblümtem Hemd. Ihre Mutter trällerte die »Capri-Fischer« von Schurike, obwohl sie noch nie zuvor dort gewesen war – Folgen des »Infekts«! Die Caprihose musste her. Jahre später trällerte ihre Mutter »Zwei kleine Italiener«. Camping in Cattolica – jahrelang, bis Ende der Sechziger, und es hing einem trotzdem nicht zum Hals heraus.
»Herbert! Ich bitte dich!«, keifte Henriette. Immer wenn sie sich aufregte, zupfte sie am grauen Flaum an ihrer Schläfe herum. Kein Wunder, dass die Stelle unaufhaltsam kahler wurde und nur viel Haarspray etwas Fülle auf ihr Haupt zauberte.
Herbert hatte nichts mehr zu zupfen. Er kratzte sich die Glatze.
»Jetzt leg endlich irgendeine Karte hin«, drängte nun auch Otto.
Dann ging alles ganz schnell. Auf ihre Graszehn folgten Herzzehn, Herzneun, Herzacht und die grüne Acht – die letzte Karte in Inges Hand. Trotz des Farbwechsels, den sie Herbert zu verdanken hatte, beendete Inge siegreich das Spiel.
»Mau-Mau!«
»Schon wieder. Das kommt davon, wenn man mit jungen Küken Karten spielt«, kommentierte Herbert und schmunzelte.
Zehn Jahre jünger, und schon war man ein Küken, amüsierte sich Inge.
»Unsere Inge ist halt noch fitter als du«, stichelte ausgerechnet Otto mit Seitenhieb auf Herbert, der erst letzte Woche seinen Fünfundachtzigsten mit ihnen gefeiert hatte. Dann müsste Otto mit Mitte siebzig ja auch noch ein junges Küken sein.
»Fitter? Von was, frage ich mich«, sagte Herbert, den das zu beschäftigen schien.
»Sie trainiert halt ihr Hirn mehr als du«, erklärte Otto.
»Nur weil sie uns die Steuererklärung macht?«, gab Herbert zurück.
»Rechnen hält fit«, rechtfertigte sich Inge, auch wenn sie sich dessen gar nicht so sicher war.
»So ein Quatsch. Wenn ich mein ganzes Leben lang eine ruhige Kugel beim Finanzamt geschoben hätte, wäre ich auch noch fit«, mischte sich nun Henriette ein, die ihre letzten berufstätigen Jahre, soviel Inge wusste, in der Qualitätskontrolle einer Stofftierfabrik gefristet hatte.
»Ruhige Kugel?« Inges Erinnerung nach hatte sie ziemlich viel Stress gehabt. Es fühlte sich nach fast zehn Jahren aber bereits so an wie ein früheres Leben.
»Ist doch so!« Henriette, die manchmal ein richtiger sturer Griesgram sein konnte, ließ einfach nicht locker.
Inge hoffte, dass ihre Freundin nicht gleich wieder damit anfing, ihr all ihre Zipperlein aufzuzählen und zu dem Schluss zu kommen, dass sie es nicht mehr lange machte. Das Stoßgebet half.
Henriette schwieg, doch dafür fing Herbert mit der üblichen Leier an, wenn es um die Planung von Ausflügen ging: »Meint ihr, die lassen mich meinen klappbaren Rollstuhl mitnehmen?«
»Du hast doch deinen Gehstock. Also, ich schieb dich nicht durch Rom«, erwiderte Otto prompt, was Inge nicht wunderte, weil sie sich noch gut an ihre letzte Gemeindefahrt nach Regensburg erinnern konnte. Sobald Herbert irgendetwas interessiert hatte, war er quicklebendig wie ein Wiesel durch die Gassen der Altstadt gewuselt. Sobald er sich etwas anderes hatte ansehen müssen, war aus dem Wiesel ein träges Faultier geworden, und sie hatten sich mit Otto beim Schieben abwechseln müssen.
»Vielleicht schiebt dich ja Thorsten. Also, ich würde mich von dem ja gerne mal durch Rom schieben lassen«, kommentierte Henriette, diesmal zu Recht.
Thorsten sorgte nicht nur berufsbedingt für das Wohlbefinden ihrer Seelen, auch für Phantasien, die man in ihrem Alter normalerweise gar nicht mehr haben dürfte. Wie bestellt, kam er rein. Federnder Schritt, charmantes Lächeln und eine Mappe mit Reiseführern in der Hand. Auch wenn Inge genau wie Henriette seinem Charme erlag, im Moment interessierte sie sich mehr für Rom. Einmal im Leben den Papst sehen. Das war sowieso wichtiger, als mit jungen Küken wie Thorsten zu flirten.
Inge stand wie angewachsen vor ihrem Kleiderschrank, der die ganze Wand ihres Schlafzimmers füllte und in der Mitte verspiegelt war. Sah sie wirklich aus wie Judi Dench, vielmehr »M«, die ehemalige Chefin des Geheimagenten 007? Thorstens Worte! Durfte ein katholischer Seelsorger älteren Damen überhaupt solche Komplimente machen? Kein Wunder, dass er einen damit um den Finger wickelte und sich mit Ausnahme von Otto und Herbert ausschließlich Frauen für die Fahrt eingeschrieben hatten – angeblich ja nur, um »den Papst« zu sehen. Den gleichen Kurzhaarschnitt, wenngleich ein helleres Grau, und die gleichen blauen Augen wie die Dench hatte Inge jedenfalls. Zumindest in dieser Hinsicht hatte Thorsten recht. Vielleicht ergab sich auch eine gewisse Ähnlichkeit, wenn sie lächelte, was allerdings in den letzten Jahren mangels Gelegenheit nicht mehr so oft vorgekommen war. Inge testete das gleich mal und stellte dabei zu ihrer Ernüchterung fest, dass ihre Mundwinkel in den letzten Jahren erlahmt zu sein schienen. Es kostete richtig Mühe, dem Spiegelbild ein Lächeln zu schenken. Und dann gelang es doch. Ja! Judi Dench stand vor ihr – zumindest mit etwas Phantasie und ohne Lesebrille. In einem unterschieden sie sich jedoch. Judi Dench wusste zumindest in ihrer Rolle als Chefin des britischen Geheimdienstes stets, was zu tun war. Inge wusste es nicht. Wo war nur ihre Entscheidungsfreudigkeit geblieben? Irgendwie eingeschlafen. In diesem Fall beschäftigte sie die Frage, was sie in Rom anziehen sollte. Der geöffnete Kleiderschrank lieferte keine Antwort. Das meiste ihres Bestands an Blusen, Kleidern und Hosen schied sowieso aus – zu warm oder zu langweilig. Inge fragte sich bei der Gelegenheit, warum sie die Trauerbekleidung noch aufbewahrte. Der Tod ihres Mannes lag mittlerweile fünf Jahre zurück. Sicher, man konnte Schwarzes gut kombinieren, doch der Hauptgrund war wohl, dass sich alle paar Wochen ein Gemeindemitglied aus den Seniorenkreisen für immer verabschiedete.
»Dann brauchste die schwarze Uniform doch wieder«, hatte Henriette ihr geraten, als sie im Frühjahr gemeinsam ihren Kleiderbestand unter die Lupe genommen hatten, um für die Altkleideraktion zu sammeln. Im Falle Rom schied Schwarz jedoch aus, weil es, soviel Inge wusste, im Juli brütend heiß sein konnte. Wo waren nur die hübschen luftigen Sommerkleider? Einen auf jung machen? Dolce Vita sommerlich frisch? Gedankengut dieser Art war vermutlich eine Auswirkung des »Infekts«. Aber Italien in Beige oder Grau? Das war kaum vorstellbar. Allerdings war fraglich, ob ihr die verspielt gemusterten Sachen noch passten. Sie lagen in einem luftdicht versiegelten Kleidersack, der sich, flink von unter dem Bett hervorgezogen, mit einem leise vernehmbaren »Pffff« öffnen ließ. Das Rote hatte sie sogar erst kürzlich gekauft. »Kürzlich« war gut. Es war im letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Mann gewesen, in einer Boutique am Strand von Maspalomas. Inge musste sich sofort mit dem Kleid in der Hand setzen. Obwohl sie es vor dem Vakuumversiegeln gewaschen hatte, schien es immer noch nach der Sonnenmilch zu duften, die er so gern gemocht hatte. Im Nu überfielen sie tausend Erinnerungen an ihn, an sein Lächeln, seine Stimme, die Art, wie er sie in den Arm genommen hatte, seine Hand, wenn er ihr zärtlich über den Rücken gefahren war. Inge seufzte, jedoch ohne lähmende Traurigkeit. Sie dachte...