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E-Book, Deutsch, 127 Seiten

Hengstler Fare


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-85420-886-0
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, 127 Seiten

ISBN: 978-3-85420-886-0
Verlag: Droschl, M
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In einem kleinen Dorf auf Kreta wächst, aufgezogen von zwei Frauen, in einer Art matriarchalischer Idylle ein junger Mann heran, der mit einem außerordentlichen Talent begabt ist: er ist ein Koch, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Also verläßt er als junger Erwachsener seine Insel und geht nach Athen, um sich dort an einer Fachschule ausbilden zu lassen. Und damit beginnt eine sensationelle Karriere - als Koch, aber auch als Liebhaber -, die Iannis wieder zurück auf seine ?unterentwickelte? Insel bringt und hier zu den seltsamsten Entwicklungen und Problemen führt.Zu den Menschen, denen er im Lauf seines Lebens begegnet, gehören auch Vertreter aus der Kunstwelt, Käufer wie Produzenten, und der legendäre John Fare, der sich im Lauf einer seiner Selbstverstümmelungsaktionen in den Sechziger- Jahren ums Leben brachte.Wilhelm Hengstler erzählt in einem beeindruckend kühlen Tonfall eine Geschichte im Spannungsfeld von Vitalität und Untergang, eine Geschichte von Ehrgeiz und Korruption und den möglichen oder unmöglichen Auswegen aus diesem Dilemma. Die sinnliche, archaische Atmosphäre der griechischen Insellandschaft bildet den größtmöglichen Kontrast zur völlig entfremdeten zeitgenössischen Welt des Erfolgs und der Industrialisierung auf der einen Seite, aber auch zum Sog des Verschwindens und Unsichtbarwerdens andererseits.Eine Erzählung, die rätselhaft und unvermittelt vor dem Leser steht und einem nicht mehr aus dem Kopf geht!

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2.
Zwischen den Häusern von Kalamaki, die durch Neid und Vorwurf zusammengehalten wurden, hinter Steinmauern, durch die weder der Lärm von Streit noch die Stille des Unglücks drang, und wo doch Minuten später jeder Bescheid wußte, wuchs Iannis als ein Bankert auf. Mater certus est, pater incertus. Seine Mutter war Anna, die Schwester Marias; aber kein Bauer gab damit an, auf einem Tanzfest bei Anna gelegen zu sein, von keinem der fliegenden Händler erinnerte man sich, daß er vor neun Monaten durchgekommen und gelandet war. Anna gebar das Kind ohne Zeugen und ohne Beistand der Hebamme. Während der ersten Wochen war der Neugeborene wie tief von der Sonne gebräunt und sein Haar kraus. Das Gerücht kam auf, einer der Gatos, der Zigeuner, die damals noch in den Höhlen von Matala auf der andren Seite des Höhenzuges hausten, sei der Vater. Aber selbst wenn man sich vergegenwärtigte, wie diese Zigeuner und ihre in Fetzen dahinschreitenden Frauen sich mitten im Sonnenlicht aufzulösen schienen, blieb es unwahrscheinlich, daß der Kindeserzeuger nicht einmal mit der Hüfte ein Gatter gestreift, nicht einmal einen Schatten im Mondlicht geworfen oder seinen Körpergeruch in einer Nische haften lassen und damit die Hunde zum Bellen gereizt hätte. Unvorstellbar war allerdings auch, daß Anna nachts nach Matala gerannt wäre, ohne dabei von dem Jaulen der Hirten begleitet zu werden. Zudem verlor Iannis binnen Monatsfrist seine Locken, an deren Stelle bräunliches, dünnes Haar nachwuchs. Seine Herkunft väterlicherseits sollte also im Dunkeln bleiben. Und selbst wenn es ein Gato gewesen wäre – der Vater hätte dem Sohn nie mit geheimem Stolz, der Sohn niemals ahnungslos dem Vater begegnen können, da die Zigeuner bald danach den jungen Leuten wichen, die ihre Höhlen berühmt machen sollten. Anna war schön, was den Haß der Frauen auf sie steigerte. Ehefrauen, die für ihre Familie schufteten, verfolgten die Schwangere ebenso wie Ledige, die an ihrer Keuschheit litten. Man hörte auf mit der Schwangeren zu sprechen, versperrte ihr den Eingang zum Dorfladen und fing den Bäcker ab, um ihr das Brot wegzukaufen. Sie und ihre Schwester stammten von den Dodekanes, genauer aus Olympos, und waren entlang einer Abstammungslinie – verwirrender als die mythologischen Varianten von Dionysos’ Herkunft – zu weitläufigem Besitz oberhalb der Küste und mehreren Häusern im Dorf gekommen. Vor allem eine in Olympos geübte Tradition, die die Schwestern in dieses Erbe gesetzt hatte, das einige der Dorfbewohner insgeheim als ihr Eigentum beanspruchten, erregte Mißfallen in Kalamaki. In Olympos herrscht noch heute das Matriarchat. Die Männer, gewählt von ihren zukünftigen Frauen, haben keine andere Aufgabe, als das schützende Hochbett zu bestellen. Familienbesitz und -gewalt gehen jeweils auf die älteste Schwester über, der die jüngeren zu dienen haben. Als Zeichen ihrer Würde trägt diese Älteste, auch Kanakara genannt, Ketten aus Goldmünzen. Diese Münzen, über Generationen von den Urgroßvätern, Vätern, Brüdern auf ihren Fahrten übers Meer gesammelt, werden zu einem goldenen Kettenhemd, genannt Kollines, auf der Brust der geschmückten Braut vernetzt. Maria war verheiratet gewesen, hatte ihren Mann aber, bevor dieser von sich aus das Weite suchte, nach olympischem Brauch verstoßen. Jene im Dorf, die sich durch die Kanakara um ihr Erbe betrogen fühlten, setzten das Gerücht in Umlauf, daß Maria ihrem Mann nur zuvorgekommen sei, um sich die kostspieligere, staatliche Trennung zu ersparen. Die dreifache Schmähung – das Scheitern ihrer Ehe, die schändliche Mutterschaft der Schwester und das Fehlen des Kindesvaters – verwandelten den Mißmut der Kanakara in Jähzorn und Übellaunigkeit. Unaufhörlich die Speisen, die ihr die Schwester reichte, in sich hineinschlingend, hockte Maria im Schatten der Veranda und blickte über das Meer in Richtung Karpathos, der Insel ihrer Jugend. Es war, als wollte sie mit all den Gerichten die Welt selbst hinabwürgen, von der sie, das Geschenk der ersten Geburt einmal ausgenommen, immer nur enttäuscht worden war: Schmortopf, überbackene Muscheln, Weißkohl mit Schweinefleisch, Suppe mit Hack-fleischbällchen, Sirupkuchen, mit Reis gefüllte Seeigel – die jüngere Schwester beschränkte sich mit ihren Rezepten keineswegs auf das heimatliche Karpathos. So erlaubte der Speiseplan der Kanakara sich die Kykladen ebensogut wie die Sporaden und Attika ebensogut wie Kreta einzuverleiben, ohne Thrakien, Thessalien, die Chalkidike, Zypern oder sonst eine Landschaft Griechenlands auszulassen. Gemäß der olympischen Tradition führte Anna, die jüngere Schwester, ein Leben als Dienstmagd der Kanakara. Sie sammelte im Morgengrauen harzreiches Gestrüpp für das Feuer, bestellte die Felder, versorgte das Vieh, verhandelte mit Zulieferern und Taglöhnern, besorgte die Wäsche, wartete der älteren Schwester auf und brachte das Essen auf den Tisch. Virtuos nützte sie die verschieden heißen Stellen des Herdes, indem sie, geleitet nur von Erfahrung, Töpfe und Pfannen andauernd verschob, um Suppen zur Wallung zu bringen, Gemüse gar zu kochen, Fleisch zu braten oder Fische zu grillen. Dabei hatte sie vor Iannis’ Geburt nicht einmal die Befriedigung, für einen Mann zu kochen. Die Kanakara hatte niemanden als sich selbst, der ihr unter Schlingen und Würgen, unter Rülpsen und Afterlauten mit fettigen Fingern die Wangen streichelte, auf denen im Lauf der Jahre immer dichter die Haare wuchsen. Der Anblick bärtiger Frauen ist eine der Drohungen der Natur, mit denen sie, spielerisch Widernatürliches schaffend, die Menschen erschreckt. Das Dorf mochte Anna verziehen haben, die Kanakara nicht. Hatte die ältere Schwester den Reichtum, so bestand das Erbe der Jüngeren in ihrer Schönheit. Anna, eine aus Cranachs Paradiesbild entflohene Eva, wirkte in ihrer Zartheit unzerstörbarer als der Adam daneben. Sie erregte das Mißfallen schwererer Frauen, wenn die Männer der Vorübergehenden nachstarrten. Aber deren Blicke, begehrlich vor und höhnisch während Annas Schwangerschaft, waren nach ihrer Entbindung vor allem gleichgültig. Annas Knabenhaftigkeit verwandelte sich in bloße Abgezehrtheit, ihre Geschmeidigkeit in eine ganz auf die endlose Arbeit gerichtete Flinkheit.. Die Kanakara ließ ihr nicht einmal Zeit zum Essen. Nur manchmal, während Anna die Töpfe nach ihrem ganz eigenen Verfahren auf dem heißen Herd verschob, langte sie nach einem Bissen, den sie später, sobald Iannis erst Zähne im Mund hatte, noch mit ihm teilte. Von seiner Mutter erbte Iannis Talent und Leidenschaft für das Kochen. Sein Leben lang sollte ihm der Tag im Gedächtnis bleiben, an dem es ihm das erste Mal gelang, ein Ei mit einer Hand aufzuschlagen. Salz, das zwischen seinen Fingern haften blieb, erregte ihn. Den niederen Arbeiten, wie dem Schrubben der Töpfe, Scheuern der Pfannen und dem Polieren des Silberbestecks, folgten die vorbereitenden Arbeiten, das Waschen und Zupfen des Salates, das Auslösen der Erbsen, das Einweichen der Bohnen, das Teilen des Paprikas, das Schneiden der Fisolen, das Putzen der Karotten und das Schälen, immer wieder das Schälen der Kartoffeln, der Gurken, der Zwiebeln oder des Knoblauchs. Daran schloß sich das entscheidende Einmaleins der Küche an – das Braten und Grillen, Backen und Kochen, Dämpfen und Schmoren, die feinen Unterschiede zwischen Sautieren und Sieden, Blanchieren und Pochieren, Frittieren und Flambieren. Äußerungen über seine Stimmung waren selten. Seiner Mutter machte er gelegentlich Vorhaltungen, daß sie sich von der Kanakara schinden und durch erfundene Beschuldigungen und übellaunige Vorhaltungen aus der Fassung bringen ließ. Er begriff nicht, warum Anna keine Partei für ihn ergriff, wenn ihn die Kanakara einen Bastard oder Auswurf der Hölle schalt, oder, sich immer mehr in ihren Zorn hineinsteigernd, schrie, wie dankbar sie beide – die Hure und ihr Bankert – für die Zuflucht bei ihr sein müßten. Selbst Spielkameraden und Schulgenossen ließen ihn seine mysteriöse Herkunft weniger spüren. Indem die Mutter vorgab, diese Ausbrüche nicht zu hören, nahm sie Iannis das Vertrauen in sich und diese Welt. Daß sie es vorzog zu schweigen, statt sich wenigstens um seinetwillen zu empören, sollte ihn bis ans Ende dieser Geschichte verstören. Anna wehrte seine Vorwürfe ab. – Sie hat ein schwaches Herz. Im Grunde ist sie ein gütiger Mensch. – Vielleicht, sagte Iannis, aber woran merkt man das? – Damals, Anna spielte auf ihre Schwangerschaft an, war sie die einzige, die mich nicht im Stich ließ. Solche aufrührerischen Gespräche fanden im Garten statt: Nicht zwischen den Blumenbeeten, deren Schönheit der Kanakara vorbehalten blieb, sondern im Küchengarten, in dem Anna neben Oregano und Thymian, Basilikum und Rosmarin, Majoran und Minze auch seltenere Gewürze wie Lavendel zog oder Exotisches wie Safran und Sesam, Anis und Eukalyptus. Niemand wußte, wie sie von all diesen Pflanzen erfahren hatte und woher die Samen stammten – womöglich aus derselben Quelle, die auch ihren Schoß befruchtet hatte. Die Sklavenarbeiten des Wassertragens, des Gießens, Harkens, Jätens und der Bekämpfung des Ungeziefers zählten wie die Verrichtungen in der Küche zum Alphabet seines künftigen Berufs, während die intensiveren Düfte der Abenddämmerung zu dessen Poesie wurden. Der einzige Unfall während seiner Kinderarbeit stieß ihm zu, als er im Bestreben, der Mutter zu helfen, mit einem Glasballon voll Raki auf der Stiege stürzte und sich den Bauch aufschnitt. Die klaffende Wunde mußte in der Hauptstadt genäht werden, und auf der Fahrt dahin wäre er, das...



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