Hemmann / Müller | Das Alphabet der Trauer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 107 Seiten, E-Buch Text

Reihe: Edition Leidfaden ? Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer

Hemmann / Müller Das Alphabet der Trauer

Mit Texten zum tieferen Verständnis von Verlusten
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-647-99658-5
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Mit Texten zum tieferen Verständnis von Verlusten

E-Book, Deutsch, 107 Seiten, E-Buch Text

Reihe: Edition Leidfaden ? Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer

ISBN: 978-3-647-99658-5
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Lesen und Schreiben, Sprechen und Zuhören sind Mittel, Trauer und Verluste zu verstehen. Die besondere Zeit der Trauer bietet die Chance, die eigene Sensibilität neu auf das Lesen und Verstehen von Texten auszurichten. Die Bandbreite des Traueralphabets reicht von Wut, Liebe, Angst, Loslassen, Zeit, Materie und Körper bis zum letzten Atemzug. All diese Themen finden sich im Romanausschnitt, Reisebericht, Interview oder Brief, die in diesem Buch zusammengestellt sind. Der methodische Teil der Textarbeit liefert Trauerbegleitern ein reiches Spektrum für die kreative Anwendung: die Vervollständigung von Texten, das Finden eigener Worte, das Zuhören, die Diskussion, die Beantwortung von Fragen und vieles mehr.

Isabella Hemmann, M. A., ist Schriftstellerin und Fachautorin mit den Schwerpunkten Bewusstsein im Alltag, Geist-Körper-Verhältnis, Tod, Freiheit, Himmelsverortung, Ego.
Hemmann / Müller Das Alphabet der Trauer jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


II Erfahrungen aus der Praxis: Lesen und Verstehen als lebendige Auseinandersetzung mit Tod und Sterben

Die folgenden Fallbeispiele geben einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten des Verstehens, die uns das Lesen und Schreiben, das Erzählen und Zuhören in der Trauer und der Begleitung geben können.

Helene und die Liebesbriefe

Die Mutter von Helene starb mit 79 Jahren an Herzversagen. Helene suchte das Gespräch mit mir, als die Restfamilie, bestehend aus einem älteren Bruder und dem Vater, nach dem Tod der Mutter immer weniger miteinander sprach und sie selbst nicht mehr wusste, wie sie mit ihren widersprüchlichen Gefühlen für ihre Mutter umgehen sollte.

Helene hatte eine Ausbildung als Zahntechnikerin gemacht und war während der Ausbildung schwanger geworden. Ihre berufliche Entwicklung lief mit Kind und alleinerziehend anders ab, als die Mutter es sich gewünscht hatte. Helenes Sohn studiert mittlerweile in einer anderen Stadt, Helene lebt allein und unterstützte ihre Eltern in den letzten Jahren viel in der Bewältigung des Alltags. Helene sagte gleich bei unserem ersten Gespräch: »Meine Mutter hat mich ihr Leben lang nicht akzeptiert, egal, was ich alles für sie getan habe, und jetzt, da sie tot ist, vermisse ich sie! Ist das nicht schrecklich?« Der Vater war einige Wochen zuvor in ein Altersheim gezogen und die Geschwister standen vor der Aufgabe, das Elternhaus aufzulösen und zu verkaufen. »Mein Bruder und ich stehen uns nicht besonders nah und jetzt habe ich das Gefühl, er drückt sich vor den schweren Aufgaben, alles bleibt an mir hängen, wie immer. Ich möchte ja auch nicht die Kleider meiner Mutter aussortieren, aber einer muss es doch machen. Und niemand fragt mich, wie ich das schaffe. Wie immer.« Bei diesem Treffen schimpfte sie viel über ihre Familie. Sie wollte nicht, dass ich irgendetwas sagte, sie betonte: »Ich will diesen ganzen Druck und diese Wut endlich mal rauslassen, sonst platze ich noch!« Es war ein langer Fluss von Anklagen gegen den Druck und die Erwartungen der Mutter in Bezug auf ihre Karriere und Lebensführung und die Enttäuschung über den frühen Enkel. Helene fühlte sich immer zweitrangig und hatte das Gefühl, dem Bruder wurde immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht und ihm gegenüber auch mehr Zugeständnisse gemacht.

Nach einer Weile rief sie wieder an und war sehr aufgeregt, sie wollte über einen Fund sprechen. Als sie kam, sah sie sehr traurig und verwirrt aus. Schweigend legte sie einen kleinen Stapel Briefe auf den Tisch und fing an zu weinen. Nach einer Weile konnte sie wieder sprechen und sagte: »Ich weiß nicht, ob das richtig war, aber ich habe sie alle gelesen. Es tut mir so leid.« Sie erzählte, dass sie diese Briefe gut versteckt in einem alten Koffer der Mutter gefunden hatte. Erst wollte sie sie auf keinen Fall lesen, aber eines Nachts konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Die Briefe waren jene, die ihr Vater ihrer Mutter in der Zeit ihres Kennenlernens geschrieben hatte, sie datierten bis zur Verlobung. Was Helene so verwirrt hatte, war der offensichtliche Zustand ihrer Mutter. Aus den Briefen ging klar hervor, dass sie vor der Hochzeit schwanger war, dieses Kind gar nicht wollte und Helenes Bruder entgegen allen Behauptungen nicht das eheliche Wunschkind war, das ihre Mutter Zeit ihres Lebens aus ihm gemacht hatte. »Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass sie sehr zufrieden mit ihrem Leben sei und ihren Beruf gern für ihre Familie aufgegeben hatte. Aber ehrlich gesagt, habe ich meine Mutter immer als unzufriedene Frau erlebt. Meine Eltern passten gar nicht richtig zusammen.« Immer wieder wurde Helenes Erzählen von Weinen unterbrochen. »Meine Eltern haben nur wegen meines Bruders geheiratet.«

Sie schwieg nun eine ganze Weile. Irgendwann stand sie auf und ging unruhig im Raum hin und her. Als sie sich wieder zu mir setzte, sprachen wir weiter. Ich fragte sie, ob sie ihre Mutter verstehen könnte, denn in der Jugendzeit ihrer Mutter war ein uneheliches Kind noch etwas ganz anderes als heute. Helene rang mit sich und meinte, ihre Mutter hätte ja zumindest irgendwann mal mit der Wahrheit rausrücken können. Oder ihr Vater hätte mal etwas sagen können. »Vielleicht hat Ihre Mutter es irgendwann nicht mehr gekonnt. Vielleicht hat sie sich auch geschämt. Wenn sie ein ungewolltes Kind doch zur Welt bringt und einen Mann heiratet, der nicht ganz passt, ist ihr das Verleugnen der Wahrheit vielleicht zur zweiten Natur geworden.« »Meine Mutter war ganz anders, als ich immer gedacht habe. Ich finde es grauenhaft, dass ich das jetzt weiß. Was soll ich denn jetzt machen? Meinem Bruder sagen, dass er nicht der Prinz ist, für den er sich hält? Meinem Vater sagen, dass ich seine Briefe gelesen habe? Hab ich alles falsch gemacht?« Bei diesem Treffen wollte Helene nicht mehr viel reden. Als sie ging, war sie gefasster als bei ihrer Ankunft und versprach, sich bald zu melden. »Für irgendetwas muss das ja alles gut sein, oder?«

Es war bei diesem dritten Treffen, dass wir über ihre Trauer, ihre Wut und ihre neue Sicht auf die Mutter sprechen konnten. Helene wollte unbedingt, dass die Briefe einen Sinn hatten. »Ich schäme mich, dass ich sie gelesen habe, aber ich bin auch froh. Meine Mutter hat sich ihr ganzes Leben lang belogen, aber vielleicht hatte sie gar keine andere Wahl. Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, als lerne ich sie jetzt erst richtig kennen. Ich weiß nicht mal, ob ich sie jetzt lieber mag, aber ich kann sie besser verstehen.« Ich sprach sie auf ihre eigene Rolle in der Familie an. Sie antwortete sofort: »Ich sollte leben, wie sie nicht konnte, davon bin ich überzeugt. Wie schrecklich. Sie hat mich nie mein eigenes Leben führen lassen. Aber jetzt kann ich mir denken, wie sie sich fühlte, als mein Max geboren wurde. Als wenn sich alles wiederholt.« Nach einer Weile sprach sie wieder: »Ich bin so traurig über alles. Dass sie tot ist, dass wir nie gesprochen haben, dass sie mich nie akzeptiert hat. Und dass mein Vater so zurückgezogen war, eigentlich immer. Und trotzdem bin ich jetzt auch froh, dass sie die Briefe aufgehoben hat und ich sie gelesen habe. Es ist wie eine heimliche Verbindung zwischen uns.«

Nach einigen Monaten meldete sich Helene nochmals bei mir und erzählte mir, dass sie ihren Vater im Heim besuchte hatte und das erste Mal das Gefühl hatte, ihm wirklich zu begegnen. Nein, er sei wie immer, aber sie könne jetzt anders damit umgehen.

Peter und die preiswerte Einäscherung

Der Vater von Peter starb nach einer plötzlichen Erkrankung und er hatte, wie es seine lebenslange Angewohnheit war, alle diesbezüglichen Angelegenheiten lange vor seiner Erkrankung geregelt. Er ließ in der Familie keinen Zweifel aufkommen, wie er zur letzten Ruhe kommen wollte: »Ich will verbrannt werden, und zwar so billig wie möglich. Ich hab im Leben mein Geld nicht zum Fenster rausgeworfen und ich werde im Tod nicht damit anfangen. Wenn ich tot bin, bin ich tot. Mit meinem Geld könnt ihr nachher machen, was ihr wollt. Und mit meiner Asche auch.« Der Kummer in der Familie war groß, es starb ein geliebter Mensch. Sie weinten viel und hemmungslos und hielten sich an seine Anweisungen. »Es hat mir und uns so viel Halt gegeben, zu wissen, was er wollte und in seinem Sinne handeln zu können. Ganz ehrlich, keiner von uns war in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir mussten noch mitten im Weinkrampf mit dem Bestatter reden.« Peter erzählte mir von der absurden Situation beim Bestatter, der ihnen die verschiedenen Ausstattungsmöglichkeiten anbot, und wie ihm die offensichtlich wohlhabende Familie unter Tränen immer wieder einstimmig beschied: »Nein, nein, so billig wie möglich.«

Ich hatte seinen Vater einmal kurz kennengelernt und ihn als angenehmen, sehr humorvollen Familienmenschen erlebt. Ich erinnerte mich an eine abfällige Bemerkung, die er während unseres Gespräches über die Kirche machte. Ich fragte Peter: »Habt ihr eine Trauerfeier organisiert? War er zum Ende der Kirche gegenüber milder gestimmt?« Peter schüttelte den Kopf. »Kein Geld zu viel, keine Kirchenfeier. Mir fiel das schwer, aber schließlich ging es ja um ihn, nicht um mich. Wir haben uns einfach an seinen letzten Willen gehalten.« Er erzählte, wie die Familie schließlich verfahren war. »Wir wollten ihm seinen Lieblingsanzug anziehen und waren baff, dass wir das nicht durften. Wir mussten tatsächlich so ein schreckliches Kunststoffhemd kaufen. Aber natürlich das preiswerteste. Ich weiß wirklich nicht, wann ich je so viel geweint und gelacht habe. Wir waren so traurig. Mein Vater hat schon einen sehr speziellen Humor gehabt. Obwohl er das mit dem Geld ernst meinte, es sollte uns dienen und nicht für einen teuren Sarg ausgegeben werden. Er wusste ja immer, dass wir ihn lieben. Und weißt du, was er zum Schluss immer sagte? ›Ihr werdet noch oft an mich denken. So einen wie mich gibt es nur einmal.‹ An Selbstbewusstsein hat es ihm nie gefehlt.«

Während er erzählte, machte Peter gleichzeitig einen traurigen und auch gelösten Eindruck auf mich, ich ließ ihn weiter erzählen. »Die preiswerteste Einäscherung gibt es in den Niederlanden. Er hatte ja sogar schon die Broschüren organisiert. Das haben wir also alles...


Müller, Monika
Monika Müller, M. A., war Leiterin von ALPHA Rheinland, der Ansprechstelle in NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung mit Sitz in Bonn. Sie ist Dozentin und Supervisorin im Bereich Trauerbegleitung und Spiritual Care. Geschäftsführende Herausgeberin von 'Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer'.

Hemmann, Isabella
Isabella Hemmann, M. A., ist Schriftstellerin und Fachautorin mit den Schwerpunkten Bewusstsein im Alltag, Geist-Körper-Verhältnis, Tod, Freiheit, Himmelsverortung, Ego.

Isabella Hemmann, M. A., ist Dozentin in der Erwachsenenbildung sowie Autorin mit den Schwerpunkten Tod, Trauer, Körper-Geist-Verhältnis.



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