Heller | Zum Weinen schön, zum Lachen bitter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Heller Zum Weinen schön, zum Lachen bitter

Erzählungen aus vielen Jahren
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-552-05994-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen aus vielen Jahren

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-552-05994-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tiefgründig, schillernd, phantasievoll: Wie in seinem Bestseller 'Das Buch vom Süden' erzählt André Heller ganz besondere, tiefgründige und schillernde Geschichten.
Eine Weltmeisterschaft im Händefalten, Shlomo Herzmanskys wundersames Überleben dank Himmler und ein wildes nächtliches Durcheinander von Lipizzanern mitten in Wien. Alles ist möglich, selbst die Abschaffung des Todes kann einen nicht wirklich erstaunen, wenn man in die Erzählwelt von André Heller eintaucht. Wie in seinem Bestseller 'Das Buch vom Süden' vermischt André Heller Anekdotisches mit Autobiografischem, schafft Bilder und Porträts seiner Welt, die die Vergangenheit in die Gegenwart holt und die Ferne in die Nähe. 'Ein Maupassant, ein Schnitzler, sogar ein Joseph Roth von morgen könnte André Heller werden.' (Joachim Kaiser, Süddeutsche Zeitung)

André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er lebt abwechselnd in Wien, Marrakesch und auf Reisen. Bei Zsolnay sind zuletzt erschienen: Das Buch vom Süden. Roman (2016); Uhren gibt es nicht mehr. Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr (2017); Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Erzählungen aus vielen Jahren (2020) sowie Der Schattentaucher (2024).
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Über die Reisegeschwindigkeit


Der kleinste Ort hat seinen schlechten Kerl, den sie im Grunde alle beneiden, weil sein Leben jenseits des Vorhersehbaren, jenseits des geduldig Ertragenen, jenseits der Spielregeln verläuft. Er dient als Abschreckung vor den Nachtseiten und Abgründen des menschlichen Seins. Und doch bereitet, schon über ihn zu lästern, eine süße Ahnung jener Achterbahnkitzel, denen die Bewohner der Tagseite und freundlichen Ebenen so ganz entsagen müssen.

Freilich gibt es auch unter den schlechten Kerln Kreaturen, die zu träge und mutlos sind, sich aus eigener Kraft zu gestalten, und die als Schmarotzer oder Trabanten stärkerer Persönlichkeiten ihr blasses Auskommen finden. Der wahre schlechte Kerl allerdings ist ein Juwel, das seinen Schliff ganz und gar selbst bestimmt. Sein Funkeln dringt bis tief in die Träume seiner Opfer und Richter, und er beschäftigt eine Armee von Feinden, die ihm unausgesetzt nachstellt. Wie ein König Pfründe und Titel verleiht, so bringt er Ruhelosigkeit und Tränen, Schmach und Staunen unter die Leute. Den Guten gibt er das Bewusstsein ihres Gutseins. Ohne seine Taten hätte das Wort Sünde geringe Bedeutung. Daher beten die klügeren Bischöfe, dass jeder schlechte Kerl die sieben Leben der Katze haben möge.

Den Marcel Kreissel konnte man für die Erfüllung solch eines Gebetes halten. Aus jeder Schurkerei schien er gestärkt hervorzugehen und unwiderstehlicher. Die Wände der Dreizimmerwohnung, die Kreissel gegenüber der Universität am Wiener Ring bewohnte, waren im Laufe der Jahre Zeugen von mehr Versprechen gewesen, als ein Dutzend Menschen hätte jemals halten können. Oft betrachtete Kreissel vom Fenster herab die Studenten und Studentinnen, die aus dem steinernen Bienenkorb der Alma Mater in alle Richtungen schwärmten, und jedes Mal empfand er eine Art aufrichtigen Mitleids mit ihnen. So nutzlos erschien ihm ihr Fleiß und ihre Wissbegier, und so fahrlässig unvorbereitet auf die wirklichen Gefahren des Erwachsenseins entließ man sie in die Wildnis der Welt.

Manchmal hätte er ihnen zurufen wollen: »Schreibt euch in meine Schule ein. Ich werde euch den Blick schärfen für Nutz und Unnütz. Ich zeige euch Kopfbewegungen oder Arten, Briefe zu schreiben, die tausendmal mehr bewirken können als das Studium des bürgerlichen Gesetzbuches. Von denen, die Macht über die Mächtigen haben, will ich euch erzählen: von den Mätressen und Freudenknaben, den Erpressern und Beichtvätern. Vergesst die Portale und Feststiegen, die arabeskengeschmückten Haupteingänge und roten Läufer. Alles, was zählt, ist die Kenntnis der Hintertüren und die geflüsterten Losungsworte, die aus selbstgefälligen oder würdevollen Herrschaften Wachs machen in den Händen von meinesgleichen.«

Aber dann dachte Marcel Kreissel, dass es besser war, zu schweigen und die jungen Leute nichts von alledem wissen zu lassen, da es nie genug Opfer geben konnte: wehrhafte und fügsame, kapitale und marginale, Übungsopfer und solche für Meisterstücke. Im Grunde betrachtete er jeden und jede mit den Augen des vollkommenen Jägers, der sein Wild nach Gefährlichkeit, Schnelligkeit und Kraft einschätzt, um es dann so schmerzlos wie möglich zu erlegen.

Das Universum bestand für Marcel Kreissel ausschließlich aus Opfern, früheren Opfern, künftigen Opfern und Komplizen. Es gab darin auch die Richter und Staatsanwälte, Polizisten, Privatdetektive, Advokaten und Spitzel, aber sie waren Komplizen im höheren Sinne, denen er in besonderer Dankbarkeit verbunden war. Denn obwohl er sie fürchtete, schärften sie durch ihre bloße Existenz seinen Verstand und seine Wachsamkeit und ließen ihn zu einem einzigartigen Präzisionsinstrument der Niedertracht werden.

Als Falschspieler in den besten Kaffeehäusern des ersten und dritten Wiener Bezirkes hatte er seine Lehrjahre während der alliierten Besatzungszeit zwischen 1945 und 1955 begonnen. Damals, als jede Geschicklichkeit ein Kilo Kaffee einbringen konnte oder eine Stange Chesterfieldzigaretten und Kaffee und Zigaretten Leitern in den Himmel waren.

Ein wenig später wurde ihm die Leichtgläubigkeit sehnsüchtiger Frauen bewusst. Und die Tatsache, dass man in Herzensangelegenheiten nur ein einziges Gegenüber irreführen musste, anstatt zwei bis drei wie bei den Pokerspielen, die man überdies nur im Sitzen ausüben konnte, obwohl ihm grundsätzlich im Liegen die besseren Ideen kamen.

Wann immer er anfänglich einer Frau Geld oder andere Vergünstigungen entlockt hatte, erwartete er einen Blitzschlag, einen Stolperer, der ihm die Hand brach, oder sonst wie ein Strafgericht Gottes. Aber nie geschah etwas, und er gelangte zu der Auffassung, dass es Gott entweder nicht gab oder ihm die Gaunereien gegenüber Mädchen und Frauen gleichgültig waren. Marcel Kreissel dachte manchmal sogar, Gott selbst habe sein ganzes unfassbares Universum mit all seinem Überfluss durch geniale Heiratsschwindeleien ergaunert.

So sah er bald in allem Weiblichen eine Einladung, eine unwiderstehliche Gelegenheit. Das Folgenschwerste an seiner neuen Erkenntnis aber war der völlige Verlust von Skrupeln. Ja, sie verkehrten sich geradezu in ihr Gegenteil, denn er empfand jedes Mal eine tiefe Genugtuung, wenn er ein weibliches Wesen auf dem dünnen Eis seiner Vorspiegelungen tanzen ließ, um sie dort haltlos stehen zu lassen, wenn ihre Nützlichkeit als Opfer verbraucht war.

Marcel Kreissel war eigentlich kein schöner Mann, aber in den Stunden seiner Höchstform, wenn er ganz der Erregung über die Hohe Schule des Gaunertums gehörte, bekam sein Gesicht etwas regelrecht Prachtvolles, und man hätte von einem Antlitz sprechen können.

Das Fräulein Aurelia Donatelli jedenfalls hatte von allem Anfang an nicht die geringste Chance gegen dieses Übermaß an Wirkung, das sich als schlechter Kerl in Gestalt von Marcel Kreissel auf ihre umfassend unerfahrene Person stürzte. Sie war aus reichem katholischem Veroneser Hause und von jener Ausgewaschenheit des Wesens, die manchen sogar ihre beträchtliche Hübschheit übersehen lassen konnte. In Wien hielt sie sich auf, um die deutsche Sprache, die man in diesem Fall wohl die österreichische nennen muss, zu studieren. Ihre Familie hatte Großes und durchaus nicht nur auf Verehelichung Gerichtetes mit ihr vor. Das Fliesen- und Sanitäranlagen-Imperium der Donatellis erstreckte sich über ganz Norditalien, und das einzige Kind sollte nach Erlangung des akademischen Grades mehrere Zweigstellen zur selbstständigen Führung erhalten.

Marcel Kreissel hatte sich Aurelia bei einer Veranstaltung der Stiftung Pro Oriente genähert. (Es waren diese kirchlichen und halbkirchlichen Organisationen, die ein unübertreffliches Revier für seine Beutezüge darstellten, weil die Wachsamkeit der Menschen im Schatten Roms weit unter gewöhnliche Fahrlässigkeit hinabsank. Nur die allerwenigsten besitzen nämlich die Fantasie, den Teufel gerade im Hause seines Erfinders und zugleich größten Widersachers zu erwarten.)

Ein Luftwesen sei er, sagte Marcel Kreissel. Ein alles und jedes aus der Vogelperspektive betrachtendes. Er arbeite zur Zeit an einer Geografie der menschlichen Scheitel, Haarwirbel und Haarschnitte, die dem Fachkundigen die Deutung des wahren Charakters jedweden Frisurenträgers ermöglichten.

Aurelia hörte gar nicht wirklich, was er sagte, sie war zu sehr damit beschäftigt, darüber zu staunen, wie er es sagte. Als gebe es zwischen ihnen ein unbezweifelbares Einverständnis, dem viele klärende Gespräche vorangegangen waren und das sich nun als süße nahrhafte Frucht zu ihrer Verfügung hielt. Und augenblicklich war sie bereit, von dieser Frucht zu essen. Das erste Mal in ihrem Leben begegnete sie nämlich von Angesicht zu Angesicht jemandem, der ein Bürger jenes geheimnisvollen Territoriums war, das sie jenseits der Eltern, jenseits der Verwandten, Freunde und Bekannten, jenseits der Ratschläge ihrer Lehrer und Erzieher seit längerem geahnt und erhofft hatte. Ihre Verstörung über Ton und Benehmen des Mannes, der sich als Marcel Kreissel vorgestellt hatte, schüchterte sie nicht ein, ganz im Gegenteil, sie diente ihr als Bestätigung, dass die gewohnten seichten Gewässer hinter ihr lagen und die Tiefen namenloser Abenteuer erreicht waren. Endlich, dachte sie. Denn so viel verstand sie von der Schifffahrt, dass im Seichten keine großen, schnellen und stolzen Dampfer fahren konnten, und sie fühlte sich nicht fürs Ruderboot geboren.

Marcel Kreissel war ein guter Liebhaber. Das gehört zur Grundausstattung des schlechten Kerls und lässt die Opfer sich zuletzt nicht gar so betrogen vorkommen, weil doch Millionen Menschen freiwillig viel dafür gäben, einige Male unverlogen lustvoll jauchzen zu...


Heller, André
André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er lebt abwechselnd in Wien, Marrakesch und auf Reisen. Bei Zsolnay sind zuletzt erschienen: Das Buch vom Süden. Roman (2016); Uhren gibt es nicht mehr. Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr (2017); Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Erzählungen aus vielen Jahren (2020) sowie Der Schattentaucher (2024).



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