Heller | Das Buch vom Süden | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Heller Das Buch vom Süden

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-552-05784-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-552-05784-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



André Hellers erster großer Roman - ein Herzstück seiner künstlerischen Arbeit. Im Mittelpunkt: der 'fleißige Taugenichts' Julian Passauer. Der knapp nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien geborene Sohn des stellvertretenden Direktors des Kunsthistorischen Museums wächst im Dachgeschoss von Schloss Schönbrunn auf. Vaters lebenslange Sehnsucht nach dem Süden setzt sich in Julian fort. Auf einem Schiff umrundet er Afrika, er studiert eine Zeit lang und wird schließlich Pokerspieler. Erst in der Villa Piazzoli am Gardasee in Italien kommt er scheinbar zur Ruhe und begegnet den Frauen seines Lebens. Und doch zieht es ihn weiter - nach Süden. André Hellers blendender Roman ist ein Lobgesang auf ein altes Österreich, das es so nicht mehr gibt, und auf eine Welt, die es geben könnte.

André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er lebt abwechselnd in Wien, Marrakesch und auf Reisen. Bei Zsolnay sind zuletzt erschienen: Das Buch vom Süden. Roman (2016); Uhren gibt es nicht mehr. Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr (2017); Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Erzählungen aus vielen Jahren (2020) sowie Der Schattentaucher (2024).
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Julians Vater hieß Gottfried Passauer, roch immer nach Tabak und war Doktor der Philosophie und Zoologie. Wenig im Leben vermochte ihn trauriger zu stimmen als der Ausgang des Ersten Weltkriegs im Jahre 1918, denn damals hatte Österreich die Zypressen verloren. Eine Heimat ohne südliche Landschaft, ohne die sich tausendfach überlagernden Geräusche des Hafens von Triest, ohne die herablassenden Gesten der Kellner in den Weinschenken von Cattaro, ohne die Frühlingsgewitter über dem Gardasee bei Riva oder die seidenbespannten Sonnenschirme eleganter Damen auf den Tribünen der Galopprennbahn von Meran war nicht mehr seine Heimat, und so gab es auf Erden nirgendwo mehr Heimat für den Doktor Passauer. Dass seine geliebten Orte und Gegenden nicht auch der Welt abhandengekommen waren, sondern lediglich Österreich, konnte ihn nicht im Geringsten trösten, denn Grenzen waren ihm in der Seele zuwider. Und, dass man fortan von ihm auf den Wegen nach Abbazia und Fiume einen Pass verlangte und Zolldeklarationen – ihn also ausgerechnet in den vertrautesten Gefilden zum Fremden ernannt hatte, verwandelte seinen Respekt gegenüber den für den Krieg und dessen katastrophalen Verlauf verantwortlichen Kaisern Franz Joseph und Karl derart, dass es ihm zur Gewohnheit wurde, sich mit kleinen fotografischen Bildnissen der Majestäten die Virginiazigarren anzuzünden.

So wuchs Julian mit einem Vater auf, der ein Meister der Melancholien und des unstillbaren Heimwehs war und der trotz all des Glücks, das ihn beruflich zum stellvertretenden Direktor des Naturhistorischen Museums in Wien und privat zum Haupt einer erstaunlich facettenreichen kleinen Familie bestimmt hatte, doch häufig bei seinen Freunden und Bekannten den Eindruck erweckte, die Traurigkeit sei ein mächtiger eigener Staat und er dessen Botschafter oder zumindest Generalkonsul in Wien. »Nur im Süden ist Rettun, sagte er bei jeder Gelegenheit, die nach Ratschlägen verlangte. »Ihr habt die Zypressen der Monarchie nicht mehr gekannt. Geht und lebt, wenn irgend möglich, frohen Herzens bei den italienischen oder slowenischen. Alles ist leichter im Süden. Im übertragenen und auch im wirklichen Sinn. Eines Tages wird man wissen, dass sich die Physiker irren, wenn sie behaupten, zehn Kilogramm in Salzburg sind gleich zehn Kilogramm in Assisi. Allein der Gesang der Orpheusgrasmücke, jenes schwarzköpfigen Vogels übermütiger Melodien, könnte das spezifische Gewicht der Dinge in der Landschaft des heiligen Franziskus auf das Erstaunlichste verringern. Zehn Salzburger Kilo wiegen in Assisi wahrscheinlich höchstens ein Drittel. Nur im Süden ist Rettung

Diese merkwürdigen Theorien verfehlten auf Julian nicht ihre Wirkung. Das Österreich der Zweiten Republik, in das er kurz nach der Niederringung der Nationalsozialisten geboren wurde, erschien ihm, sobald er es nur einigermaßen kennen gelernt hatte, mit seinen neun Bundesländern als Reich des Bleiernen und des Fröstelns. (Napoleon soll ja einmal seinem Generalstab geklagt haben: »Sechs Monate Kälte und sechs Monate Winter, das nennen die Älpler ihr Vaterland Und Ähnliches meinte wohl auch der alte Graf Eltz, als er im Café Wunderer über das Klima im steirischen Altaussee räsonierte: »Das Gute an den dortigen Sommerfrischen ist, es regnet für gewöhnlich nur zweimal in der Saison: zunächst von Anfang Juni bis Anfang August und dann erst wieder von Mitte August bis Ende Oktober)

Immer wieder lebten die Passauers in einer Wolke aus bitterer Sehnsucht, die sich nur während der großen Ferien ganz auflöste, wenn sie, am Abend nach Julians Zeugnisverteilung, in dem nach Kohle und nassen Zeitungen riechenden Schlafwagencoupé nach Venedig fuhren. Die Mama wusste, dass zwischen dem Wiener Südbahnhof und der Endstation Santa Lucia genau 126 größere und kleinere Tunnel zu durchfahren waren, und die ganze Nacht wachte sie, um jeden einzelnen davon mit einem Kopfnicken der Erleichterung zu begrüßen. Sie empfand die Strecke nämlich als musikalisches Phänomen, als reich instrumentierte Partitur, worin Niederösterreich, die Steiermark und Kärnten unterschiedliche elegische Themen bedeuteten, die eins ins andere und zuletzt in das breite Furioso von Julisch-Venetien mündeten. Bei der allgemein bekannten Neigung vieler Eisenbahner zur Unachtsamkeit musste man aber ihrer Meinung nach stets um die sozusagen werkgetreue Aufführung der Strecke besorgt sein. Dies besonders, seitdem sie mehrmals geträumt hatte, dass herrenlose Lokomotiven mitsamt den Waggons imstande waren, bestimmte geographische Abschnitte einfach zu überspringen.

Gottfried Passauer schien die Besorgnis seiner Frau zu teilen, allerdings in der Variante, dass heimtückische Sadisten den Zug nach Norden umleiten könnten und man des Morgens das Panorama von Göteborg oder Helsinki vor Augen hätte anstatt jenes der wundersamen Stadt in der Lagune. Julian schlief auf der Reise unter diesem Baldachin elterlicher Angespanntheit, und wenn er erwachte, sah er für gewöhnlich einen schnurrbärtigen, in tintenblaues Uniformtuch gekleideten Kondukteur, der behände mit Schokoladesplittern und Zimt bestreuten Milchkaffee und Kipferln, die mit Erdbeermarmelade gefüllt waren, servierte.

Dieses Frühstück bedeutete traditionsgemäß das Ende der österreichischen Enge und breitete vor den Passauers eine Region aus, worin des Vaters Weltbild seiner Überzeugung nach allgemeine Anerkennung genoss. Denn er dachte, dass die bei klarem Verstande seienden Bewohner des Südens durchaus wussten, dass sie im eigentlichen Sinn nicht auf Erden lebten, sondern in einem auf unbestimmte Dauer herabgesunkenen Teil des Himmels.

Jeweils zwei Sommer wohnte die Familie, um die Kosten niedrig zu halten, in einer kleinen Pension mit Blick auf die Accademia-Brücke nahe der Zattere. Dafür leistete man sich jeden dritten Sommer ein geräumiges Zimmer im Grand Hotel des Bains. Nachdem die Koffer ausgepackt waren, führte der erste Weg stets zum Strand des Lido, wo sie die letzten Meter zum Adriatischen Meer Hand in Hand liefen. Dann wurden Schuhe und Socken ausgezogen, und als ob die Füße Verdurstende wären, traten sie ins Wasser, und wer als Erster eine makellos schöne Muschel fand, durfte sich während der ganzen Ferien Primus nennen.

Österreichs Beamte, so wird oft gesagt, haben weitaus mehr Rechte als Pflichten. Ihre berufliche Haupttätigkeit liege im kunstvollen Verlangsamen des Aktenflusses und der Verschleppung wichtiger Entscheidungen. Für diese Kaste, deren Glaubensbekenntnis der Protektionismus sei, wird durch Vermischung von Privatem und Amtlichem allerdings beinah alles möglich im Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Voraussetzung für das Inkrafttreten der Protektion und ihres ausführenden Verhaltens, der Intervention, ist die Zugehörigkeit zu einer sogenannten Gesinnungsgemeinschaft, worunter von den Religionen bis zum Kegelklub und von den Parteien bis zum gemeinsamen Fleischhauer nahezu alles firmieren kann.

Julians Vater hatte von jeher all diesen Vereinigungen und deren Ritualen entsagt. Weder als Vorgesetzter noch als Beamter kannte er ein anderes Prinzip als jenes der Korrektheit plus, wie er es formulierte, »ein paar größere Brösel Gütezuschläge für arme Teufe. Seine Mitarbeiter waren von ihm streng nach ihren Fähigkeiten und nicht nach Proporzgesichtspunkten ausgewählt, und dieser Umstand trug entschieden zum guten Ruf bei, den das Wiener Naturhistorische Museum, zumindest während der fünfziger und sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, weltweit in Fachkreisen genoss. Manche fragten sich zu Recht, ob Gottfried Passauers Untadeligkeit nicht eine Verhütungsmaßnahme für jedwede Staatskarriere hätte bedeuten müssen. Und tatsächlich lag sein Aufstieg in einem Irrtum begründet.

Der Bundeskanzler Leopold Figl hatte ihn nämlich für den Bruder eines steiermärkischen Volksparteigranden und Bauernbundfunktionärs namens Albrecht Passauer gehalten, der in Wahrheit mit Julians Familie weder verwandt noch bekannt war. Durch diese Verwechslung beflügelt, verfügte er an einem nebeligen Oktobertag des Jahres 1946 die Berufung des Dr. Gottfried Passauer auf den Posten des durch Entnazifizierungen vakant gewordenen Ersten Direktors des Instituts. Zunächst kommissarisch! Als Figl acht Wochen später anlässlich einer Gefälligkeit, die er sich von Albrecht Passauer mit Hinweisen auf die Protektionierung seines Bruders erbitten wollte, den wahren Sachverhalt erfuhr, degradierte er Gottfried Passauer, um Aufsehen zu vermeiden, zum nichtkommissarischen Vizedirektor, was dieser bis zu seinem Herztod mit 76 Jahren am Abend des 12. August 1971 auch blieb. Zeit seines Lebens erfuhr er niemals von jener für ihn so günstigen Verwechslung, und Julian wusste davon auch nur, weil ihm ein pensionierter Sektionschef des Unterrichtsministeriums beim Leichenschmaus nach seines Vaters Begräbnis am Hietzinger Friedhof den Sachverhalt aufgedeckt hatte. (»Manchmal geschieht auch in Österreich das Richtig, sagte der Graf Eltz, »aber leider fast immer unabsichtlich)

Gottfried Passauer hatte sich dereinst für eine Dienstwohnung mit geringem Komfort, aber einzigartiger Umgebung und Aussicht entschieden. So wohnte die dreiköpfige Familie in sieben parkseitigen, ehemaligen Dienerzimmern des obersten Geschosses von Schloss Schönbrunn, der habsburgischen Sommerresidenz zu Wien. Die mit einer irritierenden, vom...


Heller, André
André Heller wurde 1947 in Wien geboren. Er lebt abwechselnd in Wien, Marrakesch und auf Reisen. Bei Zsolnay sind zuletzt erschienen: Das Buch vom Süden. Roman (2016); Uhren gibt es nicht mehr. Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr (2017); Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Erzählungen aus vielen Jahren (2020) sowie Der Schattentaucher (2024).



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