Hellbrügge / Schneeweiß | Kinder im Schulalter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

Hellbrügge / Schneeweiß Kinder im Schulalter

Verhaltensstörungen, Lernprobleme, Normabweichungen

E-Book, Deutsch, 210 Seiten

ISBN: 978-3-608-20154-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



Mit Beiträgen von Andreas Nickisch, Andreas Straube, Angela Brosch, Astrid Milde-Busch, Beatrice Latal, Caroline Benz, Cordula Engelhardt, Elsbeth Stern, Florian Heinen, Friedrich Voigt, Günther Opp, Helene Werner, Joachim Dattke, Katharina Müller, Manfred Prenzel, Nicole Berger, Oskar Jenni, Remo H. Largo, Rüdiger von Kries und Tanja Kakebeeke.

- International renommierte Autoren
- Thema Bindung stark gefragt
- Bände sind gut eingeführt

Dieses Buch richtet sich an:

- Kinderärzte und Kinderpsychiater
- Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten und Kinderpsychologen
- alle Therapeuten, die sich mit der Diagnostik und Frühbehandlung von psychosozialen und emotionalen Störungen und späteren Folgeerkrankungen beschäftigen
- alle Berufsgruppen, die das Kind und die Eltern betreuen, wie etwa Hebammen und Geburtshelfer, Stillberaterinnen, Krankenschwestern, Psychiater, Neurologen, Psychotherapeuten, Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Seelsorger, Juristen und Eltern.
Hellbrügge / Schneeweiß Kinder im Schulalter jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Teil I
Lehren und Lernen vom Kind her denken und praktizieren
REMO H. LARGO
Schule vom Kind her denken 13

ELSBETH STERN
Jenseits von Lerntypen: Unterschiede als Herausforderung – wie kann Differenzierung aussehen? 25

GÜNTHER OPP UND ANGELA BROSCH
Positive Peerkultur in schulischen Kontexten 36

MANFRED PRENZEL UND KATHARINA MÜLLER
PISA – eine Studie für Staaten oder für Kinder? Einige Befunde vom Kind her gedacht 48

Teil II
Normabweichungen kritisch sehen und integrierenOSKAR JENNI, TANJA KAKEBEEKE, HELENE WERNER UND JON CAFLISCH

Bewegungsverhalten im Kindesalter: Was ist normal? 67
WOLFGANG SCHNEIDER UND NICOLE BERGER

Möglichkeiten der Prävention und Intervention
bei Lese-Rechtschreib-Störungen 84
CAROLINE BENZ

Kindgerechter Umgang mit Hochbegabun 106
BEATRICE LATAL

Die Betreuung von Hochrisikokindern: Wer, wann, wie lang? 119
THEODOR HELLBRÜGGE UND JOACHIM DATTKE

Vorzüge der Montessori-Pädagogik für die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung. 130

Teil III
Lernstörungen interdisziplinär betrachten und beheben
RÜDIGER VON KRIES

Kinderärztliche Herausforderungen im Schulkontext 147
FRIEDEMANN SCHULZE

Die Aufgaben des Kinderarztes bei der Abklärung
von Lernstörungen in der Schule 149
FRIEDRICH VOIGT

Psychologische Diagnostik von Lernstörungen: Begabung,
Verhalten und Motivation 171
ANDREAS NICKISCH

Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen im Schulalter –
Diagnostik und Behandlung 184
CORDULA ENGELHARDT

Die Thüringer Grundschule – Schulentwicklung aus Sicht
der Schulverwaltung 197ASTRID MILDE-BUSCH, ANDREAS STRAUBE, FLORIAN HEINEN UND RÜDIGER VON KRIES

Gesundheitliche Belastungen jugendlicher Gymnasiasten 191
BURKHARD SCHNEEWEISS

Nachwort 203

Herausgeber, Autorinnen, Autoren, Co-Autorinnen, Co-Autoren 206


Vorwort

Lernen gehört zu jedem Kind. Angeborene Neugier ist die Triebfeder für Wissens- und Erfahrungszuwachs. Lernen kennt keine Altersgrenze. Die heutige Zeit mit ihrem rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt erfordert von jedermann eine lebenslange Lernbereitschaft. Erwachsene lernen allerdings anders (und häufig schwerer) als Kinder. Wie aber lernen Kinder? Wie kann man Kindern zu einem Lernen verhelfen, das Freude macht und ihre Lernmotivation fördert?

Trotz aller Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten in unserem föderalen Bildungssystem herrscht allgemeine Übereinstimmung, dass Schule Freude bereiten und jeden Schüler und jede Schülerin erfolgreich auf die Anforderungen des zukünftigen Lebens vorbereiten soll. Warum gehen aber viele Kinder und Jugendliche freudlos zur Schule? Warum haben sie 'keinen Bock' auf Lernen? Wie kann Schule ein Ort des Frohsinns werden, zu dem sich alle – Schüler wie Lehrer – hingezogen fühlen? Wie kann integrativer Unterricht von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gelingen?

Der Wunsch und das Ziel einer guten Schule stellt eine Herausforderung an viele Fachdisziplinen und Laien dar – Lehrer, Erzieher, Ärzte, Sozialpädiater, Psychologen, Soziologen, Logopäden, Ergotherapeuten und nicht zuletzt Eltern. Kinderärzte, aber nicht nur sie, werden zunehmend zu schulischen Problemen befragt. Die folgenden Beiträge geben Einblicke in ein kindergerechtes Lernen und vermitteln praktische Handlungskompetenz.

Wir danken dem Verlag Klett-Cotta für die Möglichkeit, die überarbeiteten Referate des Symposiums 'Aktuelle Herausforderungen der Sozialpädiatrie' am 27. und 28. November 2010 im Auditorium Maximum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, in diesem Band zu veröffentlichen und damit einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Herrn Dr. Beyer, Lektor des Verlags für den Bereich Psychologie/Psychotherapie/Psychoanalyse, danken wir für seine verständnisvolle Unterstützung und für gute Ratschläge.

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Theodor Hellbrügge Prof. Dr. Burkhard Schneeweiß

TEIL I

Lehren und Lernen vom Kind her denken und praktizieren

REMO H. LARGO
Schule vom Kind her denken Seit einigen Jahren stehen die Kinder und die Schule im Fokus der öffentlichen Diskussion. Die Kinder und Jugendlichen, weil sie in ihrem körperlichen und psychischen Wohlbefinden zunehmend auf vielfache Weise beeinträchtigt sind. Psychosomatische Erkrankungen wie Schlafstörungen, Magersucht und Depressionen nehmen zu. 400 000 deutsche Kinder mit der Diagnose ADHS werden mit Ritalin ruhiggestellt. Alkohol- und Drogenkonsum ängstigen Eltern und Lehrer. Psychische und physische Gewalt gehört in gewissen Schulen zum Alltag. Autorasen und Amoklaufen werden zu neuen Bedrohungen. Jugendliche begehen überdurchschnittlich häufig Suizid. Immer mehr Schüler fühlen sich in der Schule leistungsmäßig und sozial ausgegrenzt. Zu viele Hauptschüler verlassen die Schule ohne Abschluss und Lehrstelle.

Auch die Schule ist in Bedrängnis. Die Resultate der PISA-Studien haben bei Bildungspolitikern und Bildungswissenschaftlern wie auch in der Bevölkerung tiefe Zweifel am bestehenden System geweckt (Max-Planck-Institut 2000, IPN – Leibniz-Institut 2003, 2006). Die Studien zeigen unter anderem auf, wie sehr Kinder aus bildungsfernen Familien in unserem Bildungssystem benachteiligt werden. In der Öffentlichkeit und in der Politik wird kaum eine Debatte so heftig geführt wie die über die Vor- und Nachteile von Gesamtschule und gegliederter Schule. Die gesellschaftliche Verunsicherung erzwang hektische und überstürzte Bildungsreformen, die wiederum zu übertriebenen Leistungsanforderungen bei den Kindern sowie großem Druck bei Eltern und Lehrern geführt haben. So werden die Kinder schon mit dem Schuleintritt auf ein erfolgreiches Überstehen der Selektion für das Turbogymnasium gedrillt. Deutschlands Eltern geben jährlich mehr als eine Milliarde Euro für privaten Nachhilfeunterricht aus (Dohmen 2008). Die vorzeitige schulische Auslese schafft nicht nur einen enormen Leistungsdruck, er benachteiligt auch viele Kinder. Die Lehrer leiden unter einem überladenen Lehrplan und kämpfen immer häufiger mit erzieherischen Schwierigkeiten.

Es gibt zahlreiche Gründe für die Zunahme der Belastungen, unter denen Kinder und Schule gleichermaßen leiden. Einer der wichtigsten ist zweifelsohne, dass das Bildungswesen in einer engen Wechselbeziehung mit den sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen steht. Bis in die 1970er Jahre hinein bestand hier über Generationen hinweg eine gewisse Kontinuität, welche die Stabilität in der Schule gewährleistete. Seither haben Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft einen Wandel durchgemacht, den wir in seinem ganzen Ausmaß noch nicht richtig begreifen, den wir jedoch spüren und der uns beunruhigt. Es ist keine Übertreibung, wenn dieser Wandel zumindest in einigen Aspekten als Zäsur in der Menschheitsgeschichte bezeichnet wird. Und es erstaunt daher nicht, dass die Schule davon zutiefst betroffen ist.

Wandel in Familie, Kultur und Wirtschaft Mit der Einführung der Antibabypille vor 40 Jahren hat das Kind in der Familie eine neue Bedeutung bekommen. In der bisherigen Menschheitsgeschichte bedeuteten Kinder Schicksal. Oftmals kamen zu viele auf die Welt, nicht selten stellten sie eine große Belastung für die Eltern dar. Heutzutage werden nur noch wenige Kinder geboren. Dank der modernen Familienplanung sind bis zu 80 Prozent der Kinder Wunschkinder. Sich für ein Kind zu entscheiden bedeutet für die Eltern, zwischen Familie, beruflicher Karriere und materiellem Wohlstand abwägen zu müssen. Haben sie ein Kind, dann wollen sie auch alles richtig machen. Überspitzt gesagt: Das Kind soll ein Erfolg werden. Damit wird es namentlich in der Mittel- und Oberschicht oft zum Projekt; das erwünschte Resultat soll ein hochbegabtes Kind sein. Eine durchschnittliche Begabung, so scheint es, genügt manchen Eltern nicht mehr. Mit dieser Erwartung ist der Druck auf das Kind und auch die Schule enorm gestiegen.

In den vergangenen 30 Jahren kam es zu kulturellen und technologischen Umwälzungen, die zu einer tiefen Kluft zwischen den Generationen geführt haben. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, Eltern und Lehrer gehörten einer anderen Zeit an als die Kinder – was das Erziehen und Unterrichten kompliziert und anspruchsvoll gestaltet. Eine Kontinuität der Traditionen lässt sich beim besten Willen kaum mehr aufrechterhalten. Während sich die jungen Menschen scheinbar mühelos laufend Neues aneignen, erleben die älteren eine enorme Entwertung ihrer eigenen Lebenserfahrung. In der Vergangenheit verfügte der ältere Mensch auf Grund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen über eine natürliche Autorität und wurde als Ratgeber geschätzt. Nun hat der technische Fortschritt, vor allem im IT-Bereich, sowie die Globalisierung und allgemeine Verfügbarkeit von Informationen diese Hierarchie zumindest nachhaltig erschüttert, wenn nicht umgedreht. Mit dem technologischen Fortschritt haben Kinder und Jugendliche keine Probleme, umso mehr aber die Erwachsenen. Deren Wertvorstellungen werden in Frage gestellt, ihr Wissensmonopol erweist sich als brüchig und ihre Kompetenzen altern im Schnellzugtempo. Es ist wohl ebenfalls erstmalig in der Menschheitsgeschichte, dass die junge Generation in wichtigen Bereichen kompetenter ist als die ältere. Die kulturellen Verwerfungen stellen soziale Hierarchien in Frage und bringen sie sogar zum Einsturz, was die älteren Menschen verständlicherweise sehr verunsichert. So ist die begrenzte Medienkompetenz von Eltern und Lehrern ein Tabuthema. Wenn Kinder in der Grundschule lernen, von Hand zu schreiben, ist dagegen nichts einzuwenden. Spätestens beim Schulabgang müssen jedoch alle Schüler bestens mit dem Zehnfingersystem vertraut sein, denn niemand schreibt in der Wirtschaft noch von Hand. Power Point-Präsentationen zu erstellen und souverän vorzuführen muss genauso zur Ausrüstung der Schulabsolventen gehören wie die Beherrschung der gängigen PC-Programme oder das Recherchieren im Internet. Die größte Schwachstelle in einer zukunftsorientierten Bildungsstrategie sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen mit ihren beschränkten Kompetenzen. Lehrer, die auf die Bedeutung der Handschrift pochen, weil sie die Bedienung des Computers nicht beherrschen und diese auch nicht lernen wollen, schaden den Kindern. Es kann deshalb nicht oft genug wiederholt werden: Eltern und Lehrer müssen sich weiterbilden, wenn sie nicht zum Hemmschuh für die Entwicklung der Kinder werden wollen.

Schließlich hat auch unsere Wirtschaft im Verlauf des 20.Jahrhunderts einen tief greifenden Strukturwandel durchgemacht. Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank von fast 60 auf unter fünf Prozent. Der industrielle Sektor verblieb bis in die 1970er Jahre bei rund 50 Prozent und ist seither unter 30 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg der Dienstleistungssektor auf rund 70 Prozent. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind zu modernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften geworden. Kommt hinzu, dass die Wirtschaft zunehmend einen globalen Charakter annimmt. So kann es nicht erstaunen, dass diffuse Globalisierungsängste weite Kreise der Bevölkerung erfasst haben. Spätestens seit der jüngsten Finanzkrise macht sich die Befürchtung breit: Möglicherweise haben wir den Gipfel des Wohlstands erreicht, nachdem es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wirtschaftlich beinahe ständig aufwärts gegangen ist. Von nun an könnte es wieder abwärts gehen. Und eine Mehrheit der Bevölkerung befürchtet auch, dass die sozialen Unterschiede immer größer und die soziale Isolation noch ausgeprägter werden und zugleich die Sicherheit und Kalkulierbarkeit der eigenen Biographie abnehmen wird (IfD Allensbach 2006). Vor 20 Jahren wähnte man sich noch in der Gewissheit, mit einer soliden Ausbildung und gutem Arbeitseinsatz werde einem die internationale Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nichts anhaben können. Lange Zeit fühlte man sich mit einem Abitur und erst recht mit einem Hochschulstudium für immer auf der sicheren Seite des Lebens. Mit dieser Sicherheit ist es vorbei. Zwar sind ein Abitur und ein Hochschuldiplom immer noch dienlich, aber eine Garantie auf einen guten Job bieten sie immer weniger. Man kann sich auch nicht mehr mit 25 Jahren in einem Beruf für den Rest des Lebens etablieren, sondern muss sich unter Umständen – so verlangt es die Wirtschaft – selbst im Alter von 40 oder 50 Jahren beruflich neu orientieren. Weite Kreise der Gesellschaft sind von existentiellen Ängsten geplagt, die sie als Druck an die Kinder weitergegeben. Der immer stärker werdende Wettbewerb im Bildungswesen zwischen den Kindern, Familien und Schulen hat zu einer eigentlichen Treibjagd geführt. Prüfungen, Noten und Selektionskriterien bestimmen den Schulalltag der Kinder. Wir müssen endlich einsehen, dass die Kinder unter dem immensen schulischen Druck leiden und in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. Festgefahrene Vorstellungen und Eigeninteressen, Ängste und falsche Erwartungen dürfen uns Erwachsene nicht mehr daran hindern, uns auf die Bedürfnisse der Kinder einzustellen.

Wie die Schule kindgerecht wird Die Kinder leben im 21. Jahrhundert, Eltern und Lehrer sind im 20.Jahrhundert aufgewachsen, und das Bildungssystem stammt aus dem 19.Jahrhundert. Die Konsequenzen, die sich aus den aktuellen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Umwälzungen ergeben, zu akzeptieren und sie in der Gesellschaft wirksam umzusetzen, stellt uns vor eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Niemand kann voraussehen, in was für einer Welt die Kinder von heute in 20 Jahren leben werden. Die Bedeutung, welche die Informationstechnologie in Gesellschaft und Wirtschaft einnimmt, war selbst vor zehn Jahren erst in vagen Umrissen erkennbar. Wir sollten uns daher vor überstürzten Reformen hüten, die sich an einer hypothetischen wirtschaftlichen und technologischen Zukunft ausrichten. Im Gemenge der Veränderungen und deren Auswirkungen auf Eltern, Lehrer und Politik lauert eine große Gefahr: Das Kind geht vergessen. Darauf müssen wir unser Augenmerk richten. Wir brauchen Reformen, die sich am Kind und seiner Entwicklung orientieren. Solche Reformen können nie falsch sein.

Eine kindgerechte Schule hat die folgende Zielsetzung: Das Kind soll mit einem guten Selbstwertgefühl die Schule verlassen, um seine Zukunft mit Zuversicht in Angriff zu nehmen. Der junge Erwachsene soll überzeugt sein: Ich schaffe es! Ich werde mich in dieser Gesellschaft behaupten! Ein solch gesundes Selbstwertgefühl basiert auf einer positiven Schulerfahrung, das heißt, die schulischen Anforderungen waren für ihn mehrheitlich gut zu bewältigen und überwiegend mit Erfolg verbunden. Der junge Mensch konnte in der Schule alle wesentlichen Facetten seines Wesens entwickeln, insbesondere seine Stärken, also all die Fähigkeiten, auf denen er seine zukünftige Existenz aufbauen wird. Er hat aber auch gelernt, mit seinen Schwächen umzugehen und diese als ein Teil seines Wesens zu akzeptieren. Er weiß, dass ihn die Schwächen wohl einschränken, aber sein Selbstwertgefühl nicht beeinträchtigen, weil er auf seine Stärken vertrauen kann. Er hat sich Wissen und Fertigkeiten, vor allem aber Lernstrategien angeeignet. Und schließlich hat er in der Schule seine sozialen Kompetenzen entwickelt sowie einen Sinn für die Gemeinschaft und ethische Werte vermittelt bekommen.

Damit sich ein Kind so entwickeln kann, muss die Schule die folgenden Grundbedingungen erfüllen:

Geborgenheit und Zuwendung Wie die Nahrung zum Wachsen braucht das Kind Geborgenheit und Zuwendung, um sich entwickeln zu können. Ein Schüler kann nur dann gut lernen, wenn er sich geborgen und angenommen fühlt. Die Bedeutung der kindlichen Bindung (Bowlby 1969, 1975; Brisch et al. 2002) würden weder Fachleute noch Laien für die ersten Lebensjahre und das Aufwachsen in der Familie in Zweifel ziehen. Warum sollte dieses Bedürfnis mit dem Eintritt in die Schule plötzlich verschwunden sein oder auf die Familie beschränkt bleiben? Für das Kind wird der Lehrer zu einer Bezugsperson, von der es wahrgenommen und angenommen werden will. Je jünger ein Kind ist, desto mehr erwartet es, dass der Lehrer emotional zu ihm steht, es beschützt und ihm Hilfe bietet, wenn es danach fragt. Der Anspruch vorbehaltloser Akzeptanz, den das Kind an den Lehrer stellt, ist weit kleiner als derjenige, den es von seinen Eltern einfordert, aber er besteht zweifellos.

Eine beziehungsorientierte Pädagogik wird immer noch häufig als 'Wohlfühlpädagogik' abgetan, während sich eine 'gute' Schule durch Leistungsdruck auszeichnet. Verschiedene Studien zeigen jedoch: Mit einer guten Schüler-Lehrer-Beziehung verbessern sich die schulischen Leistungen. Die Schüler lernen nicht nur für sich, sondern auch für den Lehrer, weil sie ihn nicht enttäuschen wollen. Können sie einen Lehrer hingegen nicht ausstehen, so werden sie sich nicht auf ihn und sein Fach einlassen und sich erst recht nicht für ihn ins Zeug legen. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Lehrer ist eine wichtige Grundlage für den Lernerfolg (Rutter 1980, Vuille et al. 2004).

Das emotionale Wohlbefinden des Kindes hängt im Weiteren von der Beziehung zwischen Lehrern und Eltern ab. Je größer die Vertrauensbasis zwischen Lehrern und Eltern ist, je mehr sich die Eltern mit den Lehrern identifizieren können, umso wohler fühlt sich das Kind. Das Vertrauen, das Eltern der Schule entgegenbringen, ist unglaublich groß. Sie schicken ihr Kind 800 bis 1000 Stunden pro Jahr in diese Institution. Sie erwarten zu Recht, dass sie die Personen, denen sie ihr Kind anvertrauen, ausreichend kennen lernen. Lehrer-ElternKontakte beschränken sich jedoch häufig auf Elternabende, und die werden von den Lehrern als stressig und von den Eltern als unbefriedigend erlebt. Es reicht einfach nicht, die Eltern zweimal pro Jahr in die Schule einzuladen, um ihnen den Lehrplan und die Organisation der Schule zu präsentieren, die sie in der Kürze ohnehin nicht verstehen. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Eltern und Lehrern kann nur mit einem gewissen zeitlichen Aufwand entstehen. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die innerhalb der ersten drei Monate nach Schulbeginn alle Eltern zu Hause besuchen, weil sie deren Bedürfnisse, Erwartungen und Lebensbedingungen kennen lernen wollen. Beim Gespräch am Küchentisch oder gar einem gemeinsamen Essen mit der Familie entsteht ein persönliches Vertrauensverhältnis, das sich wiederum positiv auf die Beziehung zum Kind, sein Leistungsvermögen und sein Verhalten auswirkt. Die aufgewendeten Stunden werden durch ein besseres Klima und eine größere Lernbereitschaft in den Schulstunden allemal wieder wettgemacht.

Der Lehrer selbst ist schließlich auch auf ein vertrauensvolles und stimulierendes Klima am Arbeitsplatz angewiesen. Nur wenn er sich in der Schule wohl fühlt, wird er gern hingehen und engagiert unterrichten. Deshalb sollten Lehrer auch in ihrem eigenen Interesse aufhören, Einzelkämpfer zu sein. In einer teamorientierten Schule ist nicht mehr der einzelne Lehrer Kern der Schule, sondern das Kollegium. Die Lehrer unterstützen sich gegenseitig in ihrer Arbeit mit den Kindern: Gemeinsam beobachten sie, wie man mit Kindern umgehen kann; sie lernen, konstruktiv zu kritisieren und mit Kritik lösungsorientiert umzu gehen; sie erproben Rollenspiele in Gesprächsführung und wenden Coachings in Elterngesprächen an. Lehrer arbeiten besser, wenn sie sich vom Kollegium akzeptiert und unterstützt fühlen. Und je vertrauensvoller die Beziehungen der Lehrer untereinander sind, desto besser sind die Leistungen der Kinder.

Wohlbefinden und Lernbereitschaft eines Kindes werden erheblich beeinträchtigt, wenn das Kind sich vom Lehrer ignoriert oder gar abgelehnt fühlt, wenn es von anderen Kindern ausgegrenzt wird oder wenn es spürt, dass seine Eltern dem Lehrer gegenüber Vorbehalte haben. Das beeinträchtigte Kind kann verhaltensauffällig werden, den Unterricht stören oder sich innerlich davon verabschieden. Es versucht, die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich zu ziehen, manchmal auch durch aggressives Verhalten. Oder es verkriecht sich. Manche Kinder werden psychosomatisch krank und leiden an Schlafstörungen, Bauchschmerzen oder nächtlichem Einnässen. Immer häufiger verweigern Kinder den Schulbesuch (Effe 2008). Sie gehen über Monate oder gar Jahre hinweg nicht mehr in die Schule, allgemeine Schulpflicht hin oder her. Die Schule ist ein Beziehungsnetz, dessen Qualität den Schulerfolg entscheidend prägt. Je besser die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, unter den Lehrern und unter den Schülern sowie zwischen der Schule und den Eltern sind, desto größer ist der Schulerfolg der Kinder (Rutter 1980, Vuille et al. 2004).

Kindgerechtes Lernen ' Erkläre mir, und ich vergesse. Zeige mir, und ich erinnere. Lass es mich tun, und ich verstehe.' Die Erkenntnis von Konfuzius beinhaltet die Quintessenz echten Lernens: Es ist aktiv, selbstbestimmt und beruht auf eigenen Erfahrungen. Das Drama unserer Schule besteht darin, dass weder Eltern noch Lehrer daran glauben. Sie halten sich lieber an den Spruch: 'Übung macht den Meister.' Ohne das Wiederholen, Vertiefen und Automatisieren von Inhalten – so ihre Überzeugung – gibt es kein Lernen. In einer bestimmten Weise haben sie Recht: Ohne Auswendiglernen kann man weder Prüfungen bestehen noch gute Noten bekommen. Nur: Garantieren gute Noten auch echtes Verstehen und Kompetenz?

Ein Verständnis stellt sich dann ein und bleibt langfristig erhalten, wenn die neuen Kenntnisse mit den bereits bestehenden durch Erfahrung vernetzt werden. Dies setzt voraus, dass das Verinnerlichen nicht durch mechanisches Üben, sondern durch das Kind selbstbestimmt und aktiv geschieht. Es muss also dort mit der Erfahrung ansetzen, wo es entwicklungsmäßig steht. Auch eigene Lernstrategien kann sich das Kind nur durch selbstbestimmtes Handeln aneignen, indem es eigenständig herausfindet, welche Vorgehensweise erfolgreich ist und welche nicht. Es lernt so, wie es am wirkungsvollsten lernen kann. Eine solche pädagogische Haltung bedeutet Abschiednehmen vom sturen Auswendiglernen, aber auch einen Verzicht auf Prüfungen und Noten als Antreiber zum Pseudolernen, weil man den Kindern nicht zutraut, dass sie von sich aus lernen wollen. Ein Unterricht, der den Kindern aufgezwungen wird, ist wenig lernwirksam. Das Lernen wird dann gefördert, wenn sich die Kinder aktiv daran beteiligen wollen.

Individualisiertes Unterrichten Die PISA-Studien zeigen eindrücklich, dass die Leistungsunterschiede unter den Schülern im Verlauf der Schulzeit immer stärker zunehmen (Max-PlanckInstitut 2000, IPN – Leibniz-Institut 2003, 2006). Diesen Ungleichheiten kann man nur durch eine konsequente Individualisierung des Unterrichts gerecht werden. Jedes Kind soll seinem individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand gemäß lernen können. Wird der Unterricht nicht individualisiert, leidet ein erheblicher Prozentsatz der Schüler an Über- oder Unterforderung. Die Auswirkungen sind eine tief greifende Demotivierung beim Lernen, weil Erfolgserlebnisse oftmals über Jahre hinweg ausbleiben. Damit verbunden sind unzählige Enttäuschungen und Versagensgefühle, die zu einem verminderten Selbstwertgefühl führen.

Eine wichtige Aufgabe eines individualisierten Unterrichts besteht darin, die Stärken eines jeden Kindes aufzuspüren und zu fördern. Idealerweise sollte jeder Schüler seine eigentlichen Begabungen so gut wie möglich entwickeln können. Mit ihnen wird er langfristig sein Leben meistern. Einige Schulen haben diese Vorstellung aufgegriffen, indem sich die Schüler für sogenannte Schwerpunkte entscheiden können, in denen sie vermehrt gefördert werden. Dabei sollten aber nicht nur die traditionellen Fächer wie Mathematik oder Sprachen gewählt werden können, sondern auch künstlerisches Gestalten, Musik oder Sport. Was genauso zur Individualisierung des Unterrichts gehört: Die Schule versucht nicht mehr Schwächen zu eliminieren, sondern hilft dem Kind, mit ihnen umzugehen und sie als Teil seines Wesens zu akzeptieren.

Es ist eine weit verbreitete Furcht unter Lehrern, aber auch unter Eltern, eine solche pädagogische Haltung verleite zu der vorschnellen Kapitulation, eine Lernschwäche als unkorrigierbar zu akzeptieren. Zusätzlich haben viele das Gefühl, sie hätten als Lehrer oder Eltern versagt. Eine persönliche Enttäuschung über das Kind und seine Leistungen mag auch noch mitschwingen. All dies führt dazu, dass man das Kind lieber zu viel antreibt als zu wenig. Doch ein solcher Druck ist nicht ohne negative Auswirkungen auf das Kind, die oftmals schlimmer sind als die Gefahr einer möglichen Leistungsminderung: Das Kind wird in seinem Selbstwertgefühl und seiner Lernmotivation beeinträchtigt.

An vielen Schulen bekennt man sich mittlerweile im Grundsatz zum individualisierten Unterricht. Es besteht jedoch eine große Unsicherheit darüber, wie dieser im Schulalltag zu gestalten ist, dabei muss er gar nicht von Grund auf neu erfunden werden. In der Vergangenheit wurden Kinder in altersgemischten Klassen unterrichtet, weil es – vor allem in ländlichen Gegenden – nicht genug Kinder gab, um Jahrgangsklassen einzurichten. Erst- bis Drittklässler bildeten beispielsweise zusammen eine Klasse sowie Viert-, Fünft- und Sechstklässler. In diesen Klassen wurden die Kinder nicht nach ihrem Alter, sondern nach dem individuellen Entwicklungsstand in Lerngruppen eingeteilt und unterrichtet.

Manche Eltern befürchten, ihr Kind könne, wenn es schwächeren Klassenkameraden hilft, selber weniger Fortschritte machen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, weil dadurch die Sozialkompetenz, aber auch das Lernen des stärkeren Kindes gefördert werden: Lernen durch Lehren. Kinder sind zudem oft bessere Lehrmeister als Erwachsene. Kinder lernen voneinander leichter als von Erwachsenen, weil sie sich in ihrem Denken und ihrer Sprache näher sind. Gemeinsames Lernen stärkt überdies das Kommunikations- und Beziehungsverhalten und damit den Zusammenhalt unter den Kindern.

Eine Individualisierung des Unterrichts wird zu einer Notwendigkeit, wenn teilleistungsschwache, behinderte und verhaltensauffällige Kinder, die bisher in Sonderklassen unterrichtet wurden, in Regelklassen integriert werden. Bis vor 20 Jahren galt mehrheitlich die Doktrin der Separation, weil man dadurch einerseits die Regelklassen entlasten wollte und sich anderseits eine bessere Schulung der Behinderten erhofft hatte. 1994 verabschiedete die UNO


Schneeweiß, Burkhard
Burkhard Schneeweiß, Prof. Dr. med. habil., ist Kinderarzt und ehem. Chefarzt der Kinderklinik 'Martin-Luther-King' des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité.

Hellbrügge, Theodor
Theodor Hellbrügge (1919-2014), Prof. Dr. med., Dr. h.c. mult., em. Professor für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war ein Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und ein bedeutender Kinderarzt.

Schneeweiß, Burkhard
Burkhard Schneeweiß, Prof. Dr. med. habil., ist Kinderarzt und ehem. Chefarzt der Kinderklinik 'Martin-Luther-King' des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité.

Hellbrügge, Theodor
Theodor Hellbrügge (1919-2014), Prof. Dr. med., Dr. h.c. mult., em. Professor für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war ein Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und ein bedeutender Kinderarzt.

Theodor Hellbrügge (1919-2014), Prof. Dr. med., Dr. h.c. mult., em. Professor für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war ein Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und ein bedeutender Kinderarzt.

Burkhard Schneeweiß, Prof. Dr. med. habil., ist Kinderarzt und ehem. Chefarzt der Kinderklinik 'Martin-Luther-King' des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité.

Theodor Hellbrügge (1919-2014), Prof. Dr. med., Dr. h.c. mult., em. Professor für Sozialpädiatrie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, war ein Pionier und Begründer der Sozialpädiatrie in der modernen Kinderheilkunde und ein bedeutender Kinderarzt.

Burkhard Schneeweiß, Prof. Dr. med. habil., ist Kinderarzt und ehem. Chefarzt der Kinderklinik 'Martin-Luther-King' des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain, Akademisches Lehrkrankenhaus der Charité.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.