E-Book, Deutsch, Band 62, 117 Seiten, 117
Reihe: Film-Konzepte
ISBN: 978-3-96707-470-3
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Filmen, die einen hohen Unterhaltungswert mit visueller Ästhetik, technischer Qualität und philosophischer Tiefe in seltenen Einklang bringen, versteht es der Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Christopher Nolan, Kritik und Publikum gleichermaßen zu begeistern. Von experimentellen Independentfilmen wie "Memento" (2000) bis zu globalen Blockbustern wie "The Dark Knight" (2008) und "Inception" (2010) gelingt es Nolan zudem immer wieder, die Grenzen filmischen Erzählens auf verblüffende Weise zu erweitern. Getreu seiner Überzeugung, dass es weniger aufregend ist, bestehende Regeln zu brechen, als vielmehr neue Regeln zu definieren, erweitert er das Potenzial nichtlinearen Erzählens im Kontext fundamentaler Themen wie Zeit, Erinnerung und Identität. Der Band geht diesen Phänomenen nach und präsentiert Nolans Filme in einem breiten Bogen von "Doodlebug" (1997) bis "Tenet" (2020).
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmgeschichte
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Einzelne Filmschauspieler, Filmregisseure, Drehbuchautoren
Weitere Infos & Material
Marcus Stiglegger Ekstasen der Zeitlichkeit
Achronologische Montage und Existenzerkundung in Filmen von Christopher Nolan
Das faktisch geworfene Dasein kann sich nur Zeit »nehmen« und solche verlieren, weil ihm als ekstatisch erstreckter Zeitlichkeit mit der in dieser gründenden Erschlossenheit des Da eine »Zeit« beschieden ist. (Martin Heidegger, Sein und Zeit [2001], S. 410) Die Zeit ist bedeutsam, genau wie die Welt. (Michael Inwood, Heidegger [1999], S. 127) Dasein und Zeitlichkeit
Was können wir von Christopher Nolans Filmen lernen? Zweifellos, wie die Mechanismen des Kinos funktionieren. Auch, wie das Kino Identität konstruieren und in Frage stellen kann. Vor allem aber bekommen wir ein ganz eigenes Gespür dafür, wie Zeit erfahren werden kann – und was die Zeitlichkeit für unser Dasein bedeutet. Nolans Kino ist eine Verführung zur existenzialphilosophischen Reflexion mittels filmischer Zeitkonstruktionen. Und während Nolan seinem Metier gemäß mit der Bild- und Tonebene seiner Filme philosophiert, äußert er sich gerne nur über jenen Formalismus, der seine Filme oft so mathematisch, formalistisch und kalt erscheinen lässt. Diese Kälte verbindet ihn jedoch zugleich mit jenem Ansatz eines deutschen Existenzialismus, den der umstrittene Philosoph Martin Heidegger in seinem Hauptwerk entfaltete. In seinem philosophischen Opus magnum Sein und Zeit entwickelt der Existenzialist eine Theorie des menschlichen »Daseins« in der Welt, das von seinem Tod her bestimmt werde, von entsprechender Sorge geprägt sei und drei Ebenen der Zeitlichkeit umfasse, die auf das Dasein einwirken. Die Ebenen der Zeitlichkeit definiert Heidegger im Kontext der Sorge als 1. Geworfenheit (»Schon-sein-in-der-Welt«) – die Gewesenheit; 2. Verfallenheit (»Sein-bei«) – die Gegenwart; und 3. Entwurf (»Sich-vorweg-sein«) – die Zukunft. In den drei Momenten der Sorge (Geworfenheit, Verfallenheit und Entwurf) »zeitigen sich« stets je alle drei »Ekstasen« (»aus sich herausragen«), was so viel heißt wie: Es gibt keine Vergangenheit ohne Gegenwart und Zukunft usw. Sie fangen nicht an, gehen nicht vorbei oder ineinander über, sondern sind stets miteinander verflochten und »zeitigen sich« ausschließlich zu dritt.1 Um diese komplexe Relation von Dasein, Sorge und Zeitlichkeit in ihrem Verhältnis zu erkunden, führt Heidegger den von ihm spezifisch definierten Begriff der »Ekstase« ein, mit dem er die Relativität und Endlichkeit des Daseins betont, was nicht nur, aber auch seine Sterblichkeit meint, die der Zukunft eine ebenso unbestimmte wie verlässliche Grenze setzt. »Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ›Auf-sich-zu‹, des ›Zurück auf‹, des ›Begegnenlassens von‹. Die Phänomene des zu ..., auf ..., bei ... offenbaren die Zeitlichkeit als das ??stat???? schlechthin.«2 Ekstase oder ékstasis (??stas??) kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen und bedeutet außerhalb von sich selbst. Ekstase ist folglich kennzeichnend für einen veränderten Bewusstseinszustand, der durch ein vermindertes Bewusstsein für andere Objekte oder das völlige Fehlen des Bewusstseins für die Umgebung und alles um sie herum gekennzeichnet ist. Ekstase kann zudem spezifischer ungewöhnliche mentale Räume benennen, die als spirituell wahrgenommen werden. Die letztere Form von Ekstase wäre dann die religiöse Ekstase.3 Christopher Nolans Inszenierungen bauen vom ersten Film an bewusst auf einen kreativen Umgang mit der Zeit, vor allem durch eine Fragmentierung der linearen Narration.4 Wie für Heidegger ist ihm »die Bedeutsamkeit der Zeit (...) grundlegender als die Zeitberechnung oder die Zeitmessung«5. Er erzählt oft vom Ende her und schlüsselt die Zeitebenen nach bestimmten Codes auf; er denkt die filmische Diegese folglich vom metaphorischen oder konkreten Tod her: »Und weil die Zeitlichkeit des Daseins, das sich seine Zeit nehmen muss, endlich ist, sind seine Tage auch schon gezählt.«6 Auf diese Weise unterscheidet sich Nolans Kino von den etablierten Konventionen des US- und Weltkinos der klassischen Ära: David Leans monumentaler Abenteuerfilm LAWRENCE OF ARABIA (LAWRENCE VON ARABIEN, 1962) etwa beginnt mit einer rasanten Motorradfahrt. Es wird die letzte Fahrt des Protagonisten T.E. Lawrence (Peter O’Toole) sein. Bei einem riskanten Ausweichmanöver, das wir zum Teil aus subjektivem Point of View miterleben, kommt er von der Straße ab und stirbt im Straßengraben. Danach erleben wir auf seiner Beerdigung in London einige Gespräche mit, in denen sich die Leute über den ambivalenten Militaristen streiten, der sich zu Lebzeiten bereits selbst zum Kriegshelden stilisiert hatte. Schließlich kehrt die Erzählung in der Zeit um Jahre zurück: Wir sehen Lawrence im britischen Stützpunkt in Arabien, kurz bevor er den Auftrag erhält, Kontakt mit den Beduinen aufzunehmen. Nach konventionellen Erzählstrategien funktioniert diese Rückblickstruktur hervorragend: Obwohl wir zunächst nicht wirklich etwas über den Unfalltoten wissen, bekommen wir diese Informationen unmittelbar im Anschluss an die Unfallsequenz nachgeliefert. In den Beerdigungsdialogen wird bereits seine Zwiespältigkeit angedeutet, sein Fanatismus und sein Heroismus. Erst danach entlässt uns der Film in eine umfassende Erkundung des Lebens eines der undurchschaubarsten Krieger des 20. Jahrhunderts. Sein Leben wird vom Tod her erkundet und in dessen Licht betrachtet. Die Rückblickerzählung, die sich hier sehr schnell als solche offenbart, ist allerdings eine Konvention des Hollywoodkinos – und funktioniert nach klaren Regeln: Der erzählerische Rahmen ist als solcher umgehend zu erkennen gegeben. Überblendungen – nicht selten mit einem musikalischen Thema verbunden bzw. einer Erzählerstimme aus dem Off – leiten über in eine vorgelagerte Zeitebene. Wir dürfen wissen, dass Lawrence bei diesem Motorradunfall gestorben ist, da es sich hierbei um ein historisches Faktum handelt. Der Film muss also keine finale Spannung auf sein Schicksal aufbauen. Vielmehr braucht Lean die Beerdigungsdialoge als Aufhänger für sein vielschichtiges Porträt. Dabei kennzeichnet der Film seine diegetische Gegenwart stets als eine Dimension der bereits abgeschlossenen Vergangenheit. Er bleibt stets der Gewesenheit verbunden. Filmische Konventionen der Zeitlichkeit
Die filmische Rückblende, wie sie auch David Lean etabliert, zeigt Ereignisse, die chronologisch vor der Handlungsgegenwart liegen. Eine Rückblende wird daher meist inhaltlich oder motivisch durch die subjektive Erinnerung eines Protagonisten motiviert: Bei Lean sehen wir in der Montage deutlich, wie sie formal markiert werden kann. Solche Mittel können langsame Überblendungen, Wechsel von Farbe in Schwarz-Weiß, Voice-Over etc. sein. Bei Nolan können die Ebenen farblich markiert (MEMENTO), die Grenzen dabei aber dennoch verwischt werden. Rückblenden haben eine aufklärerische Funktion, sie können zum Beispiel einen Tathergang klären, und sind so im Detektivfilm, vor allem seit dem klassischen Film noir, ein beliebtes Mittel, oder sie können die psychische Verfasstheit einer Figur begründen. Die Rückblende taucht bereits im Stummfilm auf und entwickelte immer komplexere Formen. Im klassischen Kino ist der wahrhaftige Status der Rückblende meist unhinterfragt – entsprechend markierte Szenen zeigen eine authentische Gewesenheit. Es gab und gibt jedoch Filme, deren Rückblenden schlicht lügen – wie in Alfred Hitchcocks STAGE FRIGHT (DIE ROTE LOLA, 1950) – oder deren Zuverlässigkeit nachdrücklich in Frage steht, wie in Akira Kurosawas RASHOMON (RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN, 1950). Geradliniger als in STAGE FRIGHT bediente sich Alfred Hitchcocks Psychothriller REBECCA (1940) einer zyklischen Rückblendenstruktur: »Jede Nacht kehre ich zurück nach Manderlay ...«. Das sind die aus dem Off gesprochenen Worte der Protagonistin (Joan Fontaine), zu denen wir das düstere Anwesen betreten, das sie bezeichnen. Auch hier wird im Rahmen bereits deutlich: Die Protagonistin ist eine Überlebende, sie wird uns in die Vergangenheit als Zeugin begleiten, nicht jedoch, um den historischen Charakter der Erzählung zu betonen – wie David Lean –, sondern um der Erzählung einen epischen Atem zu verleihen, die schwarze Romantik des Vergangenen und Untergegangenen. Wir erkennen diese Rückblendenstrukturen an, denn sie erhellen eine Vergangenheit, die uns interessiert aus der relativen Gegenwart des Films. Zugleich erscheinen Rückblendenerzählungen glaubhaft, da sie mit dem Status der Zeugenschaft arbeiten. Nicht von ungefähr arbeiten zahlreiche Filme über die Holocaustthematik mit komplexen Rückblendenstrukturen, die die Filmwissenschaftlerin Annette Insdorf als »meaningful montage« bezeichnet. Gegenwart und Vergangenheit werden in ein unmittelbares – manchmal assoziatives – Verhältnis gesetzt, das die eine Ebene durch die andere erhellt. Auf diese Weise funktioniert Sidney Lumets New Yorker Überlebenden-Drama THE PAWNBROKER (DER PFANDLEIHER, 1964) ebenso wie Liliana Cavanis IL PORTIERE DI NOTTE (DER NACHTPORTIER, 1974) und Alan J. Pakulas Melodram SOPHIE’S CHOICE (SOPHIES ENTSCHEIDUNG, 1982). Die seelischen Schäden der Protagonistinnen und Protagonisten werden hier in der komplexen Montage von...