Heisenberg | Lukusch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

Heisenberg Lukusch

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79096-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

ISBN: 978-3-406-79096-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Benjamin Heisenbergs Roman „Lukusch“ ist eine wilde und witzige Fahrt durch die unfassbare Geschichte des jungen Schachtalents Anton Lukusch und seines grobschlächtigen Sidekicks Igor. Klug und lässig zugleich spielt dieser Roman mit den Möglichkeiten des Erzählens und sprengt dabei seine eigenen Grenzen.

Anton Lukusch war ein ganz normaler Junge aus Prypjat – bis zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986. Gemeinsam mit anderen Kindern wird er von der Hilfsorganisation Shelta nach Westdeutschland gebracht, um der hohen Strahlenbelastung zu entkommen. Dort beginnt für ihn ein ganz neues Leben: Durch Zufall wird Lukuschs analytisches Talent beim Schachspielen entdeckt. Ein Überflieger, ein Wunderkind – die Bundesrepublik jubelt! Vor den Augen der Öffentlichkeit gewinnt er eine Partie gegen Bundeskanzler Helmut Kohl, knackt ein scheinbar unlösbares Rätsel bei "Wetten, dass…" und wird sogar von internationalen Konzernen als Berater verpflichtet. Ihn selbst scheint seine spektakuläre Erfolgsgeschichte kaum zu interessieren. Wie ferngesteuert löst Anton alle ihm gestellten Aufgaben, lächelt brav in die Kameras und lässt sich von seinem Umfeld herumreichen wie ein teures Spielzeug, mit dem man im Scheinwerferlicht glänzen kann. Ist dieser Junge wirklich „nur“ ein herausragendes Talent, und was hat es mit seinem ständigen Schatten Igor auf sich? Antons spurloses Verschwinden ist nur der Anfang höchst kurioser Entwicklungen …

Heisenberg Lukusch jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


«Um kurz nach vier?» «Ja. Ich hab mich auch gewundert.» «Aber herausgekommen ist niemand.» Sie schüttelt den Kopf und von einem Moment auf den anderen wird sie unruhig. «Mach mal an.» Sie meint das Auto. «Und fahr mal da nach links.» Die Lüftung bläst nur kleine Sichtlöcher in die beschlagenen Scheiben. Ich muss mich nach vorne lehnen, um beim Rangieren nicht in den Straßengraben zu fahren. Die Straße macht am Schloss eine leichte Biegung. Dahinter beginnt ein Waldstück mit hochstämmigen Laubbäumen. Der Park des Schlosses ist größer, als wir vom Haupttor aus vermutet haben. Einige Hundert Meter weit folgen wir der Außenmauer. Vor uns kreuzt eine zweite befahrene Straße. Sie begrenzt den Schlosspark nach Norden. Wir biegen ab. Nur hundert Meter weiter stoßen wir auf ein zweites Tor, genauso gestaltet wie das Tor auf der Westseite. «Mist.» Maria klatscht sich mit der Hand auf den Schenkel. «Aah – Autos umgeparkt?!» Es macht mir Freude, den Finger in die Wunde zu legen. Aber sie ärgert sich gerade zu sehr, um Späße zu machen. «Ach komm – als hättest du das geahnt.» «Wer parkt morgens um vier seine Autos um?» «Jajajajaja – Herr Oberlehrer.» Wir sitzen einen Moment schweigend nebeneinander und starren auf das Tor. Von weiteren Schachpartien, die Igor spielen soll, haben wir nichts gelesen. Vielleicht ist er noch am Flughafen, aber wahrscheinlich schon in der Luft irgendwo zwischen Brüssel und Minsk. «Mir reicht es – fahren wir heim.» Sie ist wirklich frustriert. Mir dagegen geht es so gut wie lange nicht mehr. Ist es die Frische des Morgens oder der Anblick der Störche oder genieße ich einfach, mit ihr unterwegs zu sein? Die Sonne kippt langsam über den Horizont. Der Nebel schwindet. Das Licht wird warm und hart. Maria, neben mir, sieht heute Morgen erstmals aus wie eine Mittvierzigerin. Was macht sie so unglücklich? Dass wir Anton nicht getroffen haben? Ich sehe mich im Rückspiegel und bin überrascht. Ist dieser schneidige Mann im besten jugendlichen Alter der gleiche wie der Misanthrop vom Vorabend. Sind ihre schlechte Laune und meine jugendliche Frische umgekehrt proportional korreliert? Ich drücke die Wiederwahltaste. Es läutet in der Freisprechanlage. Ich fahre los. «All Team Services, Cestnik, what can I do for you?» «Doinel here, again.» «Sir.» «Mr Cestnik, this is an unusual question – a shot in the blue so to say – do you speak Russian?» Kurzes Lachen. «I do, Sir.» «Sag’s ihm, Maria.» Sie zögert, bevor sie sich zu mir und dem Mikro der Sprechanlage hinüberbeugt, und spricht. «Golova, zeljonyj, Lug, voda, Zhizn’, uzhalit’, molnija, dlinnyj, ozhidanije, korabl’ – mehr weiß ich nicht mehr.» «Can you repeat?» «Golova, zeljonyj, Lug, voda, Zhizn’, uzhalit’, molnija, dlinnyj, ozhidanije, korabl’.» «Head, green, meadow, water, life, stitch, lightning, long, waiting, ship. – That’s what I understand.» Maria wird ganz aufgeregt. «Kopf, Grün, Wiese, Wasser, Leben, Stich, Blitz, lang, wartend, Schiff», wiederholt sie leise und laut: «Can you repeat, Mr Cestnik!» «Head, green … I think, then: meadow, water … can you repeat?» Maria wiederholt die restlichen Worte. Er übersetzt noch mal: «Life, stitch, lightning, long, waiting, ship.» «Thank you sooo much, soo, soo much – you made my day.» Das hätte sie jetzt auch zu mir sagen können. Cestnik ist geschmeichelt. «It was a pleasure. You have a good Russian pronunciation.» «Thank you, thank you, Mr Cestnik!», schreit sie mir ins Ohr und ihm ins Mikro. Ich lege auf. Meine gute Laune ist verflogen. Mein Ohr schmerzt. Umgekehrt proportional – definitiv. Was soll das: Kopf, Grün, Wiese, Wasser, Leben, Stich, Blitz, lang, wartend, Schiff? Ist Igor in Therapie? Sind das Jung’sche Assoziationsketten oder irgendein geheimer Code? Irgendwo tief innen meldet sich eine Erinnerung, aber ich kann sie nicht greifen. Da spüre ich Marias Lippen auf meinen. Ihr Kopf nimmt mir die Sicht. Ich wage nicht zu atmen. Ihr Kuss ist zärtlich und herzhaft zugleich. Ich hoffe, die Straße bleibt gerade, und schließe die Augen. «Non siamo pedine» (Wir sind keine Schachfiguren), italienische Textilarbeiterinnen und -arbeiter demonstrieren mit einem Bild des jungen Schachtalents und Industrieberaters Anton Lukusch gegen den Abbau ihrer Arbeitsplätze. DER PRESSEDIENST, ROM 20.6.1990 NORDITALIEN: ARBEITSKAMPF DER TEXTILARBEITER von Michaela Tornitore PRATO. Zehntausende Textilarbeiterinnen und -arbeiter folgten am Mittwoch einem Streikaufruf des Gewerkschaftsverbands C. G. I. L (Confederazione Generale Italiana del Lavoro), nachdem die zum Santorini-Konzern gehörige Tessuti Amati am Montag angekündigt hatte, ihre in Prato angesiedelten Fertigungsstätten in Italien ganz zu schließen und 3000 ihrer Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Seit geraumer Zeit kursierten Gerüchte, die italienische Textil- und Modeindustrie werde im harten Preiskampf mit asiatischen Herstellern Produktionskapazitäten in Italien abbauen. Betriebsräte mehrerer Firmen der Santorini-Gruppe, C. M. A. Moretta, EB Fashion sowie der Tessuti Amati sagten voraus, die Hersteller planten, langfristig einen großen Teil der rund eine Million Beschäftigten in Italien mit Billiglohnkräften chinesischer und osteuropäischer Subunternehmen zu ersetzen. Laut einem Bericht des Corriere della Sera wurde die Tessuti Amati durch den Investor SBI zu dem weitreichenden Schritt gezwungen. Aus Vorstandskreisen sickerte durch, die SBI habe sich wegen gefallener Kurse der Santorini-Aktie durch das junge Schachtalent Anton Lukusch beraten lassen. Lukusch, der innerhalb eines Programmes für Tschernobyl-Flüchtlinge nach Westdeutschland kam, erlangte Bekanntheit durch sein außergewöhnliches Schachtalent. Seit Mitte 1989 begleitete er als externer Berater Strukturreformen verschiedenster Unternehmen. Italienische Medien und Demonstranten nahmen die Berichte auf und kritisierten den Umgang der Investoren mit der heimischen Mode- und Textilindustrie. Auf Transparenten wurde Lukusch als «piccolo diavolo» (Kleiner Teufel) und «piccolo sanguisuga» (Kleiner Blutsauger) tituliert. «Jahrelang haben die Unternehmen von den Arbeitern große finanzielle Opfer verlangt», klagte Antonio Guidi, Vorsitzender des Betriebsrats der Tessuti Amati. «Ist das fair? Ist es normal, dass ein einzelner Manager Millionen verdient und Tausende von Familien mit ihrem Geld nicht bis Mitte des Monats auskommen? Jetzt schicken sie schon Kinder als Sündenböcke vor. Sollen sie doch selbst dafür geradestehen, dass sie nichts anderes interessiert als der Shareholder Value!» «Nee, Simon – Chantilly Lace ist so was wie Brüssler Spitze, also embroidery auf Englisch oder wie sagt man auf Deutsch – na ja, Spitze eben.» «Embroidery ist aber Stickerei.» «Stimmt – nein, ich meine Spitze, also eben lace.» «Ach so, ich dachte, lace hätte was mit shoe laces, also Schnürbändeln, zu tun.» Im Radio läuft der Rock ’n’ Roll Chantilly Lace von Jiles Perry «The Big Bopper» Richardson von 1958, meine Lieblingsära in der Rockmusik. Ich muss bei dem Titel an Marias Sandalenbänder denken – sie nicht. Der Zollbeamte auf der deutschen Seite der Grenze grinst uns an. Ist unsere Fröhlichkeit so ansteckend oder hat er nur das FCB-Sgraffito auf meiner Autotür gesehen? Seit Maria mich geküsst hat und ich nicht vor Freude in den Straßengraben gefahren bin, ist Friede zwischen uns eingekehrt, als hätten wir nur auf diese Berührung gewartet. Wir genießen es beide. «Willkommen in Deutschland», sagt der Grenzer. «Gleichfalls.» «Danke.» Maria schaut mich erstaunt an. Ich beschleunige zurück auf die Autobahn. «Wieso gleichfalls?» «Ich wollte höflich sein.» Sie lacht mich aus. Was wird jetzt geschehen? Werde ich sie einfach wieder bei Jürgen und den Kindern absetzen, als wäre nichts gewesen? Ich bin es leid, alleine zu leben. Lange Zeit haben mich kurze Beziehungen über Wasser gehalten, aber die Trauer, die Dramen halte ich nicht mehr aus. Ich habe sie alle...


Benjamin Heisenberg, geboren 1974 in Tübingen, arbeitet als Regisseur, Autor und bildender Künstler. Seine Arbeiten erhielten namhafte Auszeichnungen.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.