E-Book, Deutsch, 317 Seiten
Heinze / Naegele / Schneiders Wirtschaftliche Potentiale des Alters
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-17-029558-2
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 317 Seiten
ISBN: 978-3-17-029558-2
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Bis vor Kurzem wurde Altern fast ausschließlich als Bedrohung für die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft wahrgenommen. In jüngster Zeit werden stattdessen die Kompetenzen und Potentiale des Alters betont. In dem Buch werden die verschiedenen Facetten dieser Potentiale erstmals umfassend dargestellt: von Begriffen wie Produktivität und Innovation bis zur Bedeutung der Älteren auf formalen und informellen Arbeitsmärkten. Einen Schwerpunkt bildet die Analyse einzelner seniorenwirtschaftlicher Sektoren (u. a. Handel, Handwerk, Wohnungs- und Gesundheitswirtschaft) und Regionen.
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1 Einleitung: Seniorenwirtschaft – ein neuer Wachstumszyklus?
Nach einer jahrzehntelangen Verdrängung hat das Thema »demographischer Wandel« nunmehr Öffentlichkeit und Politik nicht nur erreicht, sondern sorgt für hektische Betriebsamkeit. Dabei zeigt sich aktuell ein gewisser Perspektivenwechsel. Noch vor einigen Jahren wurde das Altern der Gesellschaftnahezu ausschließlich als Bedrohung und Last für die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft wahrgenommen. Nun ändert sich diese Sicht; die jahrzehntelang dominante Defizitthese erhält Konkurrenz durch die Betonung von Kompetenzen und Potentialen. Seitens der Wissenschaft wird schon seit längerem nicht nur auf die Probleme, sondern auch explizit auf die Chancen einer alternden Gesellschaft hingewiesen (zusammenfassend die von Kocka, Staudinger 2009 herausgegebenen Bände zum Thema »Altern in Deutschland«). Auch Politik und Wirtschaft scheinen zunehmend zu erkennen, dass die konsumrelevanten Interessen älterer Menschen eine gute Grundlage sein können, um mit entsprechenden Produkten und Dienstleistungen Nachfrage zu generieren sowie Umsätze und Beschäftigung zu steigern bzw. zu sichern: »Neue Märkte und Berufe entstehen, Altern schafft Bedarf« (Naegele 1999: 436). Im Fünften Altenbericht der Bundesregierung, der die (ökonomischen) »Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« fokussiert, wird der Seniorenwirtschaft ein eigenes Kapitel gewidmet (BMFSFJ 2006). Das für Seniorenpolitik zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat zudem das Programm »Wirtschaftsfaktor Alter – Unternehmen gewinnen« initiiert, welches insbesondere die Expansion der Idee und der Chancen der Seniorenwirtschaft in Deutschland anvisiert. Inzwischen scheint bei den relevanten Wirtschaftsakteuren1angekommen zu sein, über welche Wirtschaftsmacht ältere Menschen verfügen. Experten sprechen – bezogen auf die Gruppe 60 + – derzeit von einer Kaufkraft/Jahr von deutlich über 400 Milliarden Euro (Adlwarth 2008). Bereits heute kaufen sie 45 % aller Neuwagen, 80 % aller Oberklassewagen, 50 % aller Gesichtspflegeprodukte und buchen 50 % aller Reisen (BMFSFJ 2007; Wirtschaftswoche 2006). Angesichts der demographischen Entwicklung, des kollektiven Alterns der Bevölkerung und ihrer stark gestiegenen Kaufkraft werden ältere Verbraucher künftig eine der wichtigsten Kundengruppen auf privaten Konsumgüter- und Dienstleistungsmärkten sein. Dadurch lassen sich – so die Erwartung – erhebliche ökonomische Potentiale für Wachstum und neue Arbeitsplätze erschließen. Tatsächlich besaßen – historisch betrachtet – Ältere noch nie eine größere Marktmacht als heute. Auch neueste empirische Studien über Einkommenslage und -dynamik sowie über Vermögen und Verschuldung beschreiben diese Zielgruppe als außerordentlich bedeutsam für die private Nachfrage. Dies gilt insbesondere für Westdeutschland. So liegt das Geldvermögen älterer Menschen im Durchschnitt deutlich über dem Niveau aller Haushalte (Adlwarth 2008; DIW 2007; Eitner 2009; Fachinger 2009). Für die zukünftige Entwicklung lässt sich mit großer Sicherheit prognostizieren, dass »die Einkommen der Älteren bis dahin [2030] preisbereinigt um etwa 20–48 % zunehmen werden« (Motel-Klingebiel, Zeman 2007: 71). Zur Seniorenwirtschaft werden u. a. solche Branchen gezählt, deren Leistungen verstärkt von älteren Menschen bzw. von jenen, die sich auf das Alter vorbereiten, in Anspruch genommen werden. Diese ist dabei nicht als ein eigenständiger, klar abgrenzbarer Wirtschaftsbereich zu verstehen, sondern vielmehr als ein Querschnittsmarkt, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche umfasst. Dazu gehören u. a. der Gesundheits- und Pflegemarkt, soziale und hauswirtschaftliche Dienste, Wohnen und Handwerk, private Versicherungs- und Finanzdienstleistungen (z. B. im Zusammenhang mit der privaten Altersvorsorge), die großen Bereiche Freizeit, Tourismus, Kommunikation, Bildung, Unterhaltung und Kultur sowie die damit zusammenhängenden Bereiche der Informationstechnik und der Neuen Medien. Nach vorliegenden Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sind vor allem die folgenden Gütergruppen »demographiereagibel«, d. h. hier steigen die Verbrauchsausgaben mit dem Alter der Konsumenten: Wohnen (inkl. Energie und Wohnungsinstandsetzung) (kontinuierlich steigend),
Gesundheit und Pflege (mit einem deutlichem Anstieg ab einem Lebensalter von 75 Jahren),
soziale Dienstleistungen,
Freizeit, Kultur und Unterhaltung (mit Rückgängen in der Altersgruppe der über 75-Jährigen),
Urlaub und Reisen.
Mit der politischen Förderung des Konzepts der Seniorenwirtschaft als eigenständigem Politikfeld werden unterschiedliche gesellschaftliche wie ökonomische Ziele assoziiert: Mikroökonomisch: Hierbei geht es um die Nutzung der demographisch beeinflussten/veränderten Konsumgüternachfrage für Innovationen, Umsatz- und Absatzerfolge im einzelbetrieblichen wie gesamtwirtschaftlichen Waren-, Produkt- und Dienstleistungsangebot sowie für die Entwicklung und Bearbeitung neuer Märkte. Im Einzelnen werden neue, demographiesensible Produkte und Dienstleistungen erschlossen/entwickelt. Diese sind dabei teilweise durchaus altenspezifischer Art wie etwa Hausnotrufsysteme oder spezielle hauswirtschaftliche Dienste für Ältere; zunehmend fallen darunter aber auch solche, die in das Konzept des universal design eingebunden sind und auf ein seniorenspezifisches oder -typisierendes Marketingkonzept verzichten. Makroökonomisch: Nutzung der gestiegenen Marktmacht/Kaufkraft älterer Menschen zur Stärkung der privaten Binnennachfrage. Dies gilt für alle großen Wirtschaftsbereiche mehr oder weniger gleichermaßen. So sind bereits heute die über 50-Jährigen in vielen Gütergruppen (z. B. Nahrungsmittel, Bekleidung, Reisen) für annähernd 50 % der Konsumausgaben verantwortlich. Szenarien zeigen, dass im Jahr 2035 die über 50-Jährigen knapp 60 % der Gesamtkonsumausgaben tätigen werden. Arbeitsmarktpolitisch: Schaffung neuer bzw. Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. Diese für die Gesundheitswirtschaft schon sehr früh (z. B. vom Sachverständigenrat im Gesundheitswesen) betonten Wachstums- und Beschäftigungseffekte (SVR-KAIG 1996) lassen sich insbesondere, z. B. anhand einer kürzlich vorgelegten Studie des IW zur demographisch induzierten Bedeutungszunahme des Pflegesektors, für die professionelle Pflege (s. Kap. 8.9.1) feststellen (Enste, Imperz 2008). Gesellschaftspolitisch: Der Verweis auf die vorhandenen Potentiale einer alternden Gesellschaft und Vorschläge, wie diese Potentiale ökonomisch und gesellschaftlich besser genutzt werden können, relativieren demographische Krisenszenarien. Gerontologisch: Diese Perspektive zielt insbesondere auf die Unterstützung der selbstständigen Lebensführung im Alter und die Erhöhung der Lebensqualität älterer Menschen durch ein entsprechendes Güter- und Dienstleistungsangebot. Dies war ein Anknüpfungspunkt für das erste Memorandum zur »Wirtschaftskraft Alter« vom März 1999, mit dem das IAT (Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen) und die FFG (Forschungsgesellschaft für Gerontologie, Dortmund) erstmalig bundesweit auf die wachsende Bedeutung der Seniorenwirtschaft hingewiesen (Barkholdt et al. 1999) und damit z. B. in NRW den Anstoß für die Landesinitiative Seniorenwirtschaft gegeben haben (s. Kap. 10.1). Allerdings sind derartige Beschäftigungs- und Wachstumseffekte nicht voraussetzungslos zu erreichen. Es bedarf auch im Bereich der Seniorenwirtschaft förderlicher Rahmenbedingungen. Insbesondere der Alterssicherungs- und der Rentenpolitik kommt eine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der Steuerungsmöglichkeiten im »Seniorenmarkt« zu. Wie zu zeigen sein wird, betreffen förderliche Rahmenbedingungen dabei nicht nur die Nachfrage-, sondern auch die Angebotsseite. Verschiedene Studien weisen dem sogenannten Silver Market gute bis sehr gute Entwicklungsperspektiven zu, wenngleich die Effekte etwa von (ggf. weiteren) Reformen der Alterssicherung oder der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Situation nur schwer abzuschätzen sind. Aus sozialwissenschaftlicher und gerontologischer Sicht gibt es erst wenige Studien, die sich explizit dieses Feldes annehmen. Im Rahmen makroökonomischer Potentialanalysen werden zumeist nur Indikatoren wie Altersstruktur und Produktivität der Beschäftigten aufgerufen, während die reale Bedeutung des »Wirtschaftsfaktors Alter« nur langsam in den Blick der Forschung gelangt. Es ist inzwischen jedoch Konsens, dass sich intern differenzierte »Wachstumsmärkte« des Alters herauskristallisieren, z. B. intensive Formen der »Service-Ökonomie« für Hochaltrige oder Wellness- und gesundheitsförderliche Angebote für das »junge Alter«. Auch wenn die tangierten Branchen mit unterschiedlicher Intensität langsam reagieren, gilt: Die Option, dass ein Land wie Deutschland mit einer der ältesten Bevölkerung der Welt zu einem »Leitmarkt« für wirtschaftlich-soziale Innovationen für das Alter werden könnte, wird derzeit noch nicht breit diskutiert. Die Fokussierung auf den Wirtschaftsfaktor Alter birgt allerdings auch Gefahren in sich, weil die Fixierung auf die privilegierten Alten mit hoher Kaufkraft gesellschaftliche Spaltungstendenzen und soziale Ungleichheiten verschärfen kann. Es wird dann weiteres Sozialkapital (zusätzlich zum vorhandenen ökonomischen Kapital) dort akkumuliert, wo es ohnehin...