E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Heimlich Inklusion leben!
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-045063-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-17-045063-9
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. em. Dr. Ulrich Heimlich war Universitätsprofessor für Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Lernbehindertenpädagogik und hat sich 40 Jahre lang sowohl in der pädagogischen Praxis als auch in Forschung und Lehre mit dem Thema Inklusion beschäftigt.
Autoren/Hrsg.
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Prolog
In der zweiten Dekade nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und über 40 Jahre nach dem Beginn der Bemühungen um Inklusion befinden sich Menschen mit Behinderung in Deutschland immer noch zum überwiegenden Teil in Sondereinrichtungen (z.?B. Förderschulen, Wohnheimen, Werkstätten). Im Staatenbericht der UN zur Umsetzung der UN-BRK von 2023 wird darauf verwiesen, dass unser Land viel zu wenig in Sachen Inklusion insbesondere im Bildungsbereich unternimmt. Von rechtsradikaler Seite ist sogar das gesamte Projekt Inklusion infrage gestellt worden, zum Glück von breiten Protesten der Zivilgesellschaft beantwortet und kritisiert. Nach vielen Jahren der eigenen beruflichen Tätigkeit als Lehrkraft für Sonderpädagogik an unterschiedlichen Schulformen und als Wissenschaftler in der sonderpädagogischen Lehrkräftebildung an verschiedenen Universitäten stellt sich mir die Frage, warum in unserem Land nicht das gelingt, was in allen europäischen Nachbarstaaten und insbesondere in den skandinavischen Ländern längst Alltag ist: die umfassende und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Bildung und Gesellschaft im Sinne von Inklusion.
Möglicherweise liegt es daran, dass es in unserem konservativen Land einen grundlegenden Widerstand gegen jegliche Formen von Veränderungen gibt, sei es im Bildungsbereich oder im gesellschaftlichen Raum. Die Beharrungskräfte sind immer wieder so stark, dass es am einfachsten zu sein scheint, alles beim Alten zu lassen. Veränderungen schaffen Unsicherheit, Zwang zur Veränderung führt gar zu Widerstand. Ich habe in den letzten Jahren insbesondere im Bildungsbereich Menschen kennengelernt, die ihre gesamte Lebensenergie aufwenden, damit die Zustände so bleiben, wie sie sind, auch wenn sie noch so unzulänglich sind. Deshalb ist das Eintreten für Veränderungen nicht nur im Bildungsbereich so ein zähes und mühsames, manchmal sogar zermürbendes Geschäft.
Vielleicht kommt die Aufrechterhaltung von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung weit weg von der Gesellschaft, nicht selten auf der »grünen Wiese« ohne Kontakt zum sozialen Umfeld, aber auch einem gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismus entgegen. Es mag sein, dass viele Menschen nicht mit ihrer eigenen Verletzbarkeit und Angewiesenheit auf die Hilfe anderer konfrontiert werden wollen. Es wird lieber weggeschaut. So kann die eigene Hilfsbedürftigkeit, die wir als Kinder erlebt haben, und die zunehmende Zerbrechlichkeit als alter Mensch dem Vergessen anheimgegeben werden. Viele Menschen erleben es als Beschädigung ihrer eigenen Identität, wenn sie ihre Selbstbestimmungsfähigkeit aufgeben müssen und auf Hilfe angewiesen sind, und brechen deshalb in Tränen aus. Hier kann man z.?B. von Menschen mit Behinderung lernen, mit Hilfe souverän umzugehen. Darin haben sie eine Stärke entwickelt.
Ein Hauptgrund für das Stocken der Inklusionsentwicklung liegt jedoch meiner Meinung nach in den erstaunlichen Beharrungskräften des Bildungssystems. Der deutsche Sonderweg des Aufbaus von eigenständigen Sonderschulen z.?B. für alle Behinderungsarten hat zu einem differenzierten Sonderschulsystem geführt. Ganz knapp ist der Versuch aufgegeben worden, noch eigene Sonderschulen für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen zu schaffen. Ist eine solches Sonderschulsystem erst einmal geschaffen, dann finden sich auch die Schüler:innen. Das haben alle Schulgründungen in diesem Zusammenhang gezeigt. Das wird ebenso an den höchst unterschiedlichen Zahlen von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in den einzelnen Bundesländern deutlich, die schon einmal zwischen 4?% und 14?% schwanken können. Ich komme zu der Einsicht, dass wir es in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft haben, das System der Sonderbeschulung und das mehrgliedrige Bildungssystem als Ganzes infrage zu stellen. Inklusion ist gewissermaßen ein zusätzlicher Zweig im Bildungssystem geworden, für den ebenfalls neue Schüler:innengruppen erschlossen werden. Die Zahl der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf steigt im Zeitalter der Inklusion kontinuierlich an, zum Erstaunen vieler Verantwortlicher auf der bildungspolitischen Ebene sowie in der Wissenschaft und Forschung. Wir haben das System der separierenden Beschulung im Grunde noch nicht angetastet.
So verwundert es nicht, dass Inklusion immer noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, sondern eher im Bereich wissenschaftlicher Diskurse bleibt. Wenn Inklusion ähnlich wie in den skandinavischen Ländern oder in den USA gesellschaftlicher und bildungspolitischer Alltag sein soll, so ist dazu nicht weniger als ein demokratischer Umbau des Bildungssystems und eine gesamtgesellschaftliche Reform vonnöten. Dazu sollten zunächst einmal liebgewordene Denkverbote aufgegeben werden – nach dem Muster »Geht nicht, weil ...« oder »Das haben wir ja noch nie so gemacht!«. Menschen mit Behinderung werden nach wie vor bei der Wahrnehmung ihrer Rechte so viele Steine in den Weg gelegt, dass sie nicht selten entnervt aufgeben und auf Leistungen, die ihnen gesetzlich zustehen, lieber verzichten. Deshalb ist es so wichtig, dass Menschen mit Behinderung endlich vermehrt in der Öffentlichkeit sichtbar sind und ihre Belange selbst in die Hand nehmen. Sie lassen nicht mehr andere für sich sprechen, sondern sprechen selbst in eigener Sache. Auch Künstler:innen mit Behinderung wie Schauspieler:innen, Maler:innen, Musiker:innen oder Kabarettist:innen wollen öffentlich wahrgenommen und mit ihren spezifischen Fähigkeiten ernst genommen werden. Das gilt ebenfalls für andere marginalisierte Gruppen, die aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer kulturellen Herkunft an den Rand gedrängt werden.
Inklusion berührt letztlich die Grundlagen unseres demokratischen Gemeinwesens. Demokratie bedeutet nicht, alle paar Jahre ein Kreuz auf einem Wahlzettel zu machen. Demokratie soll eine Lebensform sein. In demokratischen Gesellschaften soll idealerweise eine soziale Erfahrung möglich werden, an der alle teilhaben und zu der alle etwas beitragen können. Insofern sollten in einer demokratischen Gesellschaft wie der unseren andere Formen des Umgangs miteinander gelebt werden. Wir müssen lernen, aufmerksamer miteinander umzugehen. Dann könnten viele inklusive Momente der Begegnung und des Voneinander-Lernens entstehen. Wenn man sich diesen Anspruch an eine wirklich demokratische Gemeinschaft bewusst macht, wird rasch deutlich, wie weit wir davon noch entfernt sind.
Mit diesem Buch möchte ich gern das Thema Inklusion mitten in die Gesellschaft holen. Inklusion sollte alltägliche Erfahrung sein, beim Einkaufen, im Restaurant, bei der Arbeit und selbstverständlich ebenso in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Anfangen müsste diese Reform im Bildungssystem. Wir sollen lernen, Demokratie auch im Bildungssystem als Lebensform zu praktizieren, um damit Inklusion möglich zu machen.
Dabei ist zunächst zu klären, wie inklusive Momente überhaupt zustande kommen (? Kap. 1). Es geht nicht nur um Teilhabe, sondern ebenfalls um Teilgabe und letztlich um Teil-Sein. Menschen, die be-hindert werden, wollen z.?B. nicht nur großzügigerweise alle Rechte wahrnehmen können, die alle anderen Menschen wie selbstverständlich wahrnehmen. Sie wollen ebenfalls etwas einbringen, etwas geben. Diese Erfahrung wäre also noch zu machen, wirklich etwas voneinander zu lernen, damit alle teilsein können. Dies würde voraussetzen, dass wir das Verbindende zwischen Menschen suchen und nicht das Trennende, sondern gemeinsame Erfahrungen zulassen. Aus dem Voneinander-Lernen könnte so ein Miteinander und Füreinander entstehen.
Wollen wir solche inklusiven Situationen schaffen, so stehen wir vor der Aufgabe, auf die vielen unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse je nach Geschlecht, sozialem und kulturellem Hintergrund sowie nach individuellen Fähigkeiten offen einzugehen (? Kap. 2, 3 und 4). Auf diesem Wege können zukünftig Situationen entstehen, in denen alle willkommen sind und die Begegnung zwischen unterschiedlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bewusst als Reichtum angesehen wird.
Dazu ist es erforderlich, dass wir die Ressourcen in uns und in unserem jeweiligen Umfeld aktivieren. Diese Ressourcen kommen nicht von allein, man kann nicht bloß auf sie warten. Man muss sie aktiv erschließen und Angebote für alle Sinne gestalten, damit Teilhabe gelingt (? Kap. 5). Damit sind jedoch keine Inseln gemeint, die isoliert von ihrer Umgebung ein ideales Umfeld schaffen. Vielmehr geht es darum, die sozialräumliche Einbettung von Bildungseinrichtungen bewusst zu entwickeln und vielfältige Kontakte zum Stadtteil und zur Gemeinde aufzubauen, so dass regionale Netzwerke geschaffen werden (? Kap. 6).
Auf diesem Weg könnte eine Gesellschaft entstehen, die im besten Sinne des Wortes »schöpferisch« wird und so in der Lage ist, die anstehenden Probleme in einer gemeinsamen Anstrengung kreativ zu lösen. Das zeigt sich gegenwärtig bereits in vielen kulturellen Projekten (? Kap. 7).
Bei all diesen Entwicklungen hat sich eine Ressource als...




