E-Book, Deutsch, Band 3, 309 Seiten
Reihe: Pfarrer Fischer
Heim Toskanisches Blut
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8392-6118-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 3, 309 Seiten
Reihe: Pfarrer Fischer
ISBN: 978-3-8392-6118-7
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Weihnachten in Florenz: Die Tourismus-Agentin Giulia Franca feiert mit Familie und Freunden Heiligabend. Doch noch vor dem Festessen stolpert ihre Mutter in der Basilica di Santa Maria Novella über die erste Leiche. Ein Racheakt gegen misshandelnde und mordende Männer? Die Spur führt zur Anti-Femminicidio-Bewegung, die gegen häusliche Gewalt kämpft. Justus Fischer, katholischer Pfarrer aus Konstanz, soll eingreifen …
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Am Abend vor Heiligabend saß Giulia Franca an ihrem Küchentisch und stierte auf ein leeres Blatt Papier. Sie war vor wenigen Tagen umgezogen in die Via Guelfa, Ecke Via de’ Ginori, in ein Zweizimmerappartement in einem ehemaligen Kloster in der Altstadt, mitten im San-Lorenzo-Viertel. Und hatte sich hinreißen lassen, ihre alte Familie einzuladen, die als solche schon lange nicht mehr existierte: Tommaso, ihren Exmann, die beiden erwachsenen Söhne Diego und Simone. So etwas hatte es ewig nicht mehr gegeben. Aber alle drei hatten zugesagt, sie wollten jeweils ihren Anhang mitbringen. Wobei Tommaso sogar neue Kinder hatte und es bei Simone ein Mann war: Er hatte offenbar die Gene der Großmutter geerbt. Giulia hatte keinen neuen Mann, aber dafür einen kleinen Kater: Carlo. Carlo hatte ein schwarzes Fell mit weißen Pfötchen und eine zweifarbige Nase, rot-schwarz, das Geruchsorgan eines Anarchisten. Carlo schlief auf dem Sofa. Die Küche ging direkt in den Wohnbereich über, der Raum war großzügig und offen. Hohe Decken, undichte, riesige Fenster. Es war kalt und zog Tag und Nacht. Giulia hatte sich einen Schal um die Schultern gelegt. Sie trank ein Glas Vernaccia und überlegte sich ein Menü. Auf dem Tisch brannte eine Kerze. Sie würden zu neunt sein. Die beiden Kinder waren noch klein und würden am liebsten Pasta mit Pesto essen. Diego war wahrscheinlich immer noch Vegetarier. Simone war von jeher ein schlechter Esser gewesen, wobei er Fleisch bevorzugte und Gemüse hasste. Das hätte eigentlich eher zu Diego gepasst. Tommaso war sehr wählerisch. Er reagierte allergisch auf alles Mögliche und hatte erklärt, seine Ehefrau werde den Nachtisch mitbringen. Gebackene Oliven, schrieb Giulia auf ihren Zettel, Peperonata, Blumenkohl, Linsen, ungesalzenes Brot. Diverse Schinken. Salami. Mortadella. Kutteln. Spaghetti. Frisches Pesto verde. Kalbfleisch. Salat. Kartoffeln. Käse. Panettone. Und Wein. Es war alles ganz einfach. Kaffee war genug da. Sie musste nur zum Mercato Centrale di San Lorenzo gehen. Auf dem Tisch lag die Lichterkette, die Giulia geschenkt bekommen hatte. Sie wollte sie über dem Fenster befestigen. Da sah sie, im gegenüberliegenden Fenster hinter dem Kreuzgang, keine 20 Meter entfernt, wie eine Frau geschlagen wurde. Sie bekam im Stehen von einem Mann eine Ohrfeige. Giulia wohnte erst ein paar Tage in dem Haus, sie kannte niemanden. Auch dieses Paar nicht. Denn es musste ein Paar sein. Es gab keine Vorhänge, und die Räume waren hell erleuchtet. Giulia blies die Kerze aus und löschte das Licht. Sie hätte die Fensterläden schließen können, aber sie blieb einfach mitten im Zimmer stehen und blickte gebannt hinüber. Das Paar befand sich in einer Küche, beide waren braunhaarig und noch jung, aber schon nicht mehr ganz schlank. Giulia wunderte sich, dass sie das als Erstes registrierte. Erst dann nahm sie wahr, dass die Frau ihre Arme in einer Abwehrhaltung vor dem Gesicht hielt. Sie verfolgte, wie der Mann schrie und auf sie eindreschen wollte, dann aber innehielt. Stocksteif standen die beiden da. Dann ließ die Frau ihre Arme sinken und wandte sich ab. Der Mann trat von hinten auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter, sie drehte sich zu ihm um, packte ihn am Handgelenk, wischte sich mit der anderen Hand ein paar Tränen weg, lächelte. Er versuchte, sie zu umarmen. Giulia nahm ihr Glas und legte sich auf das Sofa. Sie sagte sich, dass sie das nichts anging. Gleichzeitig zogen Bilder an ihr vorbei. Bilder ihres eigenen Lebens. Tommaso hatte sie nie geschlagen. Es war über 20 Jahre her, doch die Szene hatte nichts von ihrer Kraft verloren. Tommaso war mit seinem Rennrad gestürzt und hatte sich ein paar Verletzungen zugefügt. Es war ein Unfall, bei dem er leicht hätte tot sein können. Giulia dachte damals, dass es besser gewesen wäre. Das war etwas, über das sie nie mit jemandem sprechen konnte. Sie hatte Tommaso gepflegt, aber er hatte sich nicht pflegen lassen. Giulia fischte im Dunkeln nach ihrem Telefonino und drückte eine Nummer. »Ich habe eben an dich gedacht«, sagte Fischer, »ich sehe, dass du es bist.« »Wie geht es?«, fragte Giulia. »Mäßig, kein Hochamt, dafür die Mühen der Ebene.« Er klang vertraut. »Wie lang ist es her?« »Eine Weile.« »Ich bin eben Zeugin einer Gewalttat geworden. Na ja, nur eine Handgreiflichkeit.« Es war ein Schock. Nach der Trennung war sie monate-, vielleicht jahrelang wie betäubt gewesen. Sie hatte sich gesagt, dass es anderen genauso ging. Daran konnte sie sich noch entsinnen. Sonst hatte sie das meiste vergessen, was damals passiert war. Die beiden Söhne waren noch klein gewesen. Diego war gerade in die Schule gekommen, Simone ging in den Kindergarten. Giulias Erinnerung nach hatten sie vorwiegend bei ihr gelebt, aber sie konnte sich irren, und man hatte sich die Verantwortung geteilt. Sie hatte sich die Zeiten, wo wer bei wem war, nicht aufgeschrieben. Auch nicht, wer was bezahlt hatte. Oder wann welche Urlaube stattfanden. Es gab nicht einmal Bilder. Es war nichts aufgehoben. Auch die Briefe nicht, die Mails, die es gegeben haben musste. Es war alles gelöscht, von der Festplatte eines Laptops, der längst verschrottet war, aus dem Gedächtnis. Sie hatte funktioniert. Sie musste ja funktioniert haben. Wie sonst sollte es gegangen sein. Die beiden Söhne schafften ihre Schulkarriere und wuchsen heran. Giulia hatte zu beiden ein herzliches, liebevolles, zärtliches, aufopferndes Verhältnis gepflegt. Beide waren auf ihre Art auffällig und bedürftig, und sie hatte sie gehätschelt. Der zweite Schock kam, als sie aus dem Haus gingen. Sie meldeten sich nicht mehr, oder kaum noch. Jeder auf die ihm eigene Weise. Giulia sagte sich, dass Leben so ging. Dass irgendwann keiner mehr dem andern in die Augen blicken konnte. Dabei waren die Söhne von ihr abgenabelt worden. Das spielte aber keine Rolle mehr. Man musste neue Felder suchen, sich neue Ziele stecken. Wie bitter. Und unausweichlich. Giulia ging das an. Sie steckte Felder ab, wurde beruflich erfolgreich. Sie erinnerte sich an einen Tag, an dem Diego mit einer Schramme im Gesicht nach Hause kam. Er war ein kompakter kleiner Kerl, ein Raufbold, und sie packte ein Pflaster darauf. Er wollte aber nicht reden. Er verschwieg ihr, wer ihm das zugefügt hatte. Sie musste sich darauf besinnen, dass er ein Recht darauf hatte, es für sich zu behalten. Und sich damit abfinden, dass sie trotz der beiden Söhne allein blieb. Simone war anschmiegsamer. Aber nur scheinbar. Er hütete und verbarg alles, was ihn anging. Sogar seine Socken. Wenn sie ein Loch hatten, warf er sie in den Müll. Er bat sie nie, sie zu stopfen. Obwohl sie das konnte. Und manchmal war es sinnvoll und sparte Geld. Sparen musste sie auch. Wobei das irgendwann aufhörte. Die Schulden wurden so groß, die Unwägbarkeiten, dass ein Paar Socken egal war. Tommaso hatte sie sicherlich unterstützt. Ganz bestimmt. Das konnte man in den Kontoauszügen nachsehen. Es war ein Leben in Entfremdung. Und eigentlich sehr lange her, wenn man von den letzten Jahren absah. Denn das Studium der Söhne währte ja noch nicht sehr lang. Zwei Jahre, fünf Jahre? Davor war Pubertät gewesen, schier endlose Pubertät. Laken, die gewaschen werden mussten. Die Söhne hatten nie ein Problem damit gehabt, dass Giulia das Bettzeug abzog. Ob sie Sex miteinander gehabt hatten? Vermutlich hatten sie das. Brüder hatten immer Sex miteinander. Zumindest onanierten sie gemeinsam, wenn sie zehn, zwölf, 13 Jahre alt waren. Manchmal, später, hatten sie Mädchen mitgebracht, oder auch Jungs. Giulia hatte Roberto kennengelernt. Roberto war verschwunden. Sie hatte ein Ristorante in Marina di Santo Stefano geerbt. Das war ein anderes Kapitel. Darum musste sie sich auch kümmern. An ihre Mutter dachte Giulia ungern. Das war noch eine andere Baustelle. Jetzt kam erst mal Weihnachten. Das Glockengeläut der Chiesa di Santo Stefano. Giulia fischte nach ihrem Telefonino. »Pronto!« »Ich bin’s«, sagte die Mutter. »Julia, grüß Gott.« Ihre Stimme hatte eine dunkle, jazzige Note, obwohl sie vor Jahrzehnten das Rauchen aufgegeben hatte, und ihr Honoratiorenschwäbisch einen vertrauten warmen Ton. Das täuschte. Klara Kerner war eine kühle, rationale Person. Sie hatte ihr Leben in einer leitenden Position beim Landesamt für Verfassungsschutz verbracht, und bald 20 Jahre Ruhestand konnten die Prinzipien, die sie dort praktiziert hatte, nicht erschüttern. Sie ließ nichts und niemanden an sich heran, am wenigsten ihre eigene Tochter. »Schön, dass du anrufst, Mama. Ich habe eben an dich gedacht.« Der erste Satz war eine Lüge, der zweite nicht. Pfarrer Fischer aus Konstanz hatte vorhin das Gleiche zu ihr gesagt. War es die Wahrheit gewesen? War er noch ihr Vertrauter? Waren sie noch Freunde? Wieso hatte sie ihn nicht nach Florenz eingeladen? Wieso er sie nicht nach Konstanz? »Du wirkst müde«, meinte die Mutter, die entsetzlich nachtwach klang. »Wie spät ist es?« »Halb eins.« Die Mutter seufzte. »Nicht, dass ich Isolde nachtrauere, das nicht. Aber seit ich nicht mehr in einer Beziehung lebe und abends keinen Wein mehr trinke, werde ich gar nicht mehr müde. Bloß, man kann ja nicht allein trinken. Und es ist schwer, in meinem Alter noch eine neue Liebe zu finden. Die Frauen sind alle viel jünger, und sie wollen keine Partnerin, die auf Mitte 80 zurauscht.« Giulia lachte. »Man hört dir das Alter wirklich nicht an. Und du siehst immer noch verdammt gut aus.« »Das nützt leider nicht viel.« Die Mutter seufzte. »Ich hätte nie gedacht, dass...