E-Book, Deutsch, Band 76, 256 Seiten
Reihe: Bibliothek rosa Winkel
Provokation, Sex und Poesie in der Schwulenbewegung
E-Book, Deutsch, Band 76, 256 Seiten
Reihe: Bibliothek rosa Winkel
ISBN: 978-3-86300-351-7
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es gelingt der Zeitzeugin, die Atmosphäre der 1970er und 80er Jahre aufleben zu lassen, die Positionen der rebellischen Schwulen aus dem historischen Kontext zu erklären und nachdrücklich an die neue Diskriminierungswelle mit dem Aufkommen von Aids zu erinnern.
Roter Faden der Erzählung ist das provokative Leben, das politische und künstlerische Wirken des 1992 an Aids verstorbenen Lyrikers Albert Lörken.
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
Dieses Buch ist ein Zeitzeugenbericht aus den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es verbindet Erzählerisches mit Analytischem, so dass persönliche Geschichte zu Zeitgeschichte wird. Zu Beginn der 1970er Jahre lebte ich als links engagierte Studentin in Frankfurt am Main in einem besetzten Haus, verkehrte im Sponti-Milieu und hatte mehrere Freunde, die 1971 an der Gründung einer Politgruppe namens RotZ-Schwul (Rote Zelle Schwul) beteiligt waren. So kam es, dass ich die damals entstehende neue Schwulenbewegung und später auch ihre ersten Krisen nach dem Aufkommen von Aids aus unmittelbarer Nähe miterlebte. Die erwähnten Freunde und die Gruppe, in der sie sich engagierten, fielen mir wieder ein, als ich 2001 meine politische Autobiographie Keine Ruhe nach dem Sturm veröffentlicht hatte, deren historischer Schwerpunkt auf der Studenten-, Sponti- und Hausbesetzerbewegung lag. Weil ich die Schwulenbewegung darin nur am Rande erwähnt hatte, spürte ich das Bedürfnis, auch darüber zu berichten. Wie in dem vorangegangenen Buch sollten historische Recherchen in Archiven oder Bibliotheken und Interviews mit anderen Zeitzeugen meine eigenen Erinnerungen und Analysen ergänzen. Dabei kam mir die Idee, das Leben eines 1992 verstorbenen Freundes, des Soziologen und Lyrikers Albert Lörken, zum roten Faden meiner Erzählung zu machen. Als ich im Jahr 2002 mit meiner Recherche zum Thema Schwulenbewegung begann, waren deren Anfänge fast ganz vergessen. Weit verbreitet war stattdessen die Vorstellung, dass sich diese Bewegung im Westdeutschland der 1980er Jahren mit den CSDs (Christopher Street Day-Paraden) aus dem Nichts erhoben und den Kampf für die Homo-Ehe aufgenommen habe. Der Glitter der schwulen Freudenmärsche schien alles zu überstrahlen, was davor war, sowohl die postfaschistischen Repressionen der 1950er und 60er Jahre, als auch das Aufbegehren dagegen in den frühen 70ern. Kaum jemand schien sich an die nach ihrem Verbotsparagraphen benannten »Hundertfünfundsiebziger« zu erinnern, denen, wenn sie beim Sex erwischt wurden, das Gefängnis drohte. In Witzen hießen sie immer Detlef, und in der Vorstellung der Biedermänner verführten sie notorisch Knaben. Wie Vampire infizierten diese Männer angeblich ihre Opfer mit dem eigenen Fluch, so dass auch diese ein Leben lang zu den Detlefs gehören mussten. Ebenso vergessen waren zu Beginn des neuen Jahrtausends die Folgen des Jahres 1969, das jetzt 50 Jahre zurückliegt, des Jahres, in dem sich in New York Schwule und ihre Mitstreiter gegen Polizeigewalt wehrten und in dem in Westdeutschland nach 24 Jahren endlich die Nazi-Version des § 175 reformiert wurde. Sex zwischen erwachsenen Männern war jetzt straffrei, so dass Homosexuelle sich zu ihrer Lust bekennen konnten. Die mutigsten von ihnen betraten seit 1971 mit Gruppen namens RotZSchwul (Rote Zelle Schwul) oder HAW (Homosexuelle Aktion Westberlin) die Bühne der Geschichte, rehabilitierten das Schimpfwort »schwul« und machten mit Provokationen verschiedenster Art auf sich aufmerksam. Inspiriert von der antiautoritären Studentenbewegung verband die neue Schwulenbewegung antikapitalistisches Engagement mit dem Anspruch persönlicher Emanzipation. In einer sozial gerechten, basisdemokratischen Gesellschaft, so ihre Utopie, würden die Menschen neue Liebes- und Sexualformen entwickeln, jenseits von Ehe, Familie und schwuler Subkultur. Diese Botschaft fiel auf fruchtbaren Boden bei vielen, denen Polizeiverfolgung und soziale Ächtung früherer Jahrzehnte noch traumatisch in den Knochen saßen, so dass es 1973 schon 74 schwule Gruppen gab. Mein Protagonist, ein auf vielen Gebieten hochbegabter Bauernsohn, kam aus einem stark vom Katholizismus geprägten nordrhein-westfälischen Dorf. Anfang der 1970er Jahre erlebte er im liberalen Frankfurt unter dem Einfluss der Schwulenbewegung sein Coming-out. Damit ging für Lörken, dem seine Freunde und Kommilitonen eine glänzende Karriere als Theatermann, Künstler oder Akademiker voraussagten, nicht nur die Befreiung von katholischer Moral und bäuerlicher Enge einher, sondern auch ein großer psychischer Energieverschleiß. Das Schwulsein, das sich bei ihm mit einem überaktiven Sexleben verband, kostete ihn so viel Zeit und Kraft, dass er Ehrgeiz und Disziplin verlor und fast all seine Talente vernachlässigte. Erst am Ende seines Lebens profilierte sich Albert Lörken als Rezitator und bezauberte sein Publikum mit Gedichten von Heinrich Heine, August von Platen und den eigenen. Er starb in seinem Heimatdorf Mariaweiler an Aids, weil er dem Hausarzt verschwiegen hatte, dass er schwul war. Albert Lörken war kein typischer Aktivist der Schwulenbewegung im politischen Sinn. Sein Leben, sein Coming-out, sein Sexleben und auch sein Sterben scheinen mir aber exemplarisch zu sein für die Probleme vieler Männer seiner Generation, die in den 1970er Jahren offen schwul lebten. Trotz der Legalisierung ihrer Lust – zumindest unter Erwachsenen –, der gelockerten Sexualmoral dieser Zeit und des Rückhalts, den die beginnende Schwulenbewegung bot, konnten nur die wenigsten von ihnen ein Leben führen, das nicht vom Leiden am Anderssein, von Schuldgefühlen oder deren Überkompensation, von Selbstzweifeln und Identitätskonflikten geprägt war. Nicht umsonst sprach Theodor W. Adorno von einer »psychologischen Fesselung« der »Produktivität« vor allem geistig begabter Homosexueller, von ihrer »Unfähigkeit, zustande zu bringen, was sie wohl vermöchten«. Den Grund dafür sah er in der »gesellschaftlichen Ächtung« und der dazugehörigen Gesetzgebung. Dass die Unterdrückung und Verfolgung Homosexueller noch lange nach der Legalisierung von Sex zwischen erwachsenen Männern nachwirkte, bestätigten auch meine Gespräche mit einstigen Mitgliedern der RotZSchwul, mit denen ich im Laufe des Jahres 2003 in Frankfurt, Berlin und New York Interviews führte. Nach Köln, Düren, Aachen, Moresnet (Belgien) und Utrecht (Niederlande) reiste ich im selben Jahr, um Lörkens Jugendfreund, eine Kinderfreundin, seinen Grundschullehrer und einige weitere seiner Weggefährten zu treffen. Seinen poetischen und künstlerischen Nachlass machte mir der Jugendfreund Herbert Pawliczek zugänglich. Als mein Manuskript 2006 fertig war, stieß ich mit dem Thema auf wenig Resonanz. Etwas, das ich schon geahnt hatte, als man mir 2004 im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft sagte, dass ich die erste Person war, die die »Sammlung Holy« eingesehen hatte, eines der wichtigsten Archive zum Thema. (Seit der Schließung des Instituts 2006 liegt die Sammlung im Schwulen Museum in Berlin.) Kein Verlag interessierte sich für meine Arbeit, wohl aber ein Redakteur des Deutschlandfunks. Dieser war beeindruckt von der ihm bislang unbekannten Geschichte der Schwulenbewegung und fand Gefallen am Leben des Albert Lörken, das ich mit dessen imposanter Originalstimme und anderen ungewöhnlichen Originaltönen illustrieren konnte. Die so entstandene Radiosendung Der Schwule und die Spießer, gesendet im Dezember 2007, wurde wohlwollend besprochen, für den Felix-Rexhausen-Preis nominiert, 2011 in der Fachhochschule Frankfurt im Rahmen einer Veranstaltung zum Tag gegen Homophobie (17. 5.) gespielt und später noch einmal vom NDR wiederholt. Albert Lörken wird seither bei Wikipedia erwähnt. Trotzdem blieb das Feature von 2007 das Einzige, was ich vor Erscheinen des vorliegenden Bandes aus meinem Manuskript veröffentlichen konnte. Neues Interesse an den Anfängen der Schwulenbewegung zeigte sich seit Beginn der 2010er Jahre. 2012 schrieb die Frankfurter »Stiftung Polytechnische Gesellschaft« ein Stipendium zur Aufarbeitung der Stadtgeschichte aus, das der Autor und Blogger Jannis Plastargias mit einem Exposé zur Geschichte der Frankfurter Schwulengruppe RotZ-Schwul gewann. 2015 erschien sein Buch RotZSchwul. Der Beginn einer Bewegung. In Berlin begeisterte sich der links engagierte Geschlechterforscher Patrick Henze für die Schwulenbewegung der 1970er Jahre und schrieb seine Examensarbeit, die 2012 fertig wurde, über die Berliner HAW. Gleichzeitig griff er die Rehabilitierung und Idealisierung des effeminierten Homosexuellen aus der Schwulenbewegung auf, gab sich den Tuntennamen Patsy l’Amour laLove, nannte sich Polittunte, trat mit tuntigen Shownummern auf und hatte damit vor allem bei jüngeren Menschen großen Erfolg. 2019 erschien seine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Dissertation Schwule Emanzipation und ihre Konflikte. Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Die Premierelesung in Berlin war so gut besucht, dass weiteres Interesse an dem lang vernachlässigten Thema zu erwarten ist. So hoffe ich, dass auch mein Buch zur Wiederbelebung und Neubewertung der Jahrzehnte des schwulen Aufbruchs beitragen wird. Nicht zuletzt deshalb, weil es sich von den Arbeiten der jüngeren, männlichen Autoren in doppelter Weise unterscheidet. Als Zeitzeugin konnte ich die Atmosphäre der 1970er und 80er Jahre aufleben lassen und die heute oft schwer verständlichen politischen Positionen der Schwulenbewegung aus dem historischen Kontext erklären. Als Frau hatte ich einen distanzierteren Blick auf das Verhältnis dieser Bewegung zur Männlichkeit ihrer Akteure und zu den Geschlechterverhältnissen der gegebenen Gesellschaft. Ich bedanke mich bei allen Interviewpartnern, die ihre Erinnerungen und historisch-politischen Einschätzungen mit mir teilten. Ich danke dem 2011 verstorbenen Radioredakteur Robert Matejka für die Wertschätzung meiner Arbeit. Dank für die Unterstützung bei der Beschaffung von Material und Fotos gilt Herbert Pawliczek, Michael Holy und meinen Freunden Walter Grimm und Günther Perscheid. Dankbar bin ich auch für Anregungen und aufschlussreiche Gespräche mit dem 2013 verstorbenen Gottfried...