Heidenreich | Wirbel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Heidenreich Wirbel

Novelle
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99012-979-1
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Novelle

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-99012-979-1
Verlag: Hollitzer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das, was nicht in unserer Macht steht

Die Novelle "Wirbel" erzählt die Liebesgeschichte
zweier Menschen im Dritten Lebensalter
– und von den plötzlich in den Alltag einbrechenden Kräften
einer "dunklen", unvorhersehbaren, bedrohlichen und zugleich verlockenden Natur.

Alles beginnt mit außergewöhnlich starken Turbulenzen auf dem Nachtflug nach Athen. Sie erschüttern den allein reisenden Juraprofessor, einen überzeugten Stoiker, den hauptsächlich Vernunft durchs Leben und durch Krankheit und Tod seiner geliebten Frau getragen hat. Jetzt brechen Trauer und auch Zweifel an seinen bisherigen Einstellungen auf, eine schüchterne Zuneigung zu seiner Sitznachbarin entsteht. Doch was geschah mit ihnen dort oben in der Luft, wem waren sie da ausgesetzt?
Eine ähnliche Frage beschäftigt auch drei befreundete Ärzte. Sie kümmern sich um Flüchtlinge, die in ihren Schlauchbooten Wellengang und Wetter preisgegeben sind. Gezeichnet von der lebensgefährlichen Überfahrt, deuten sie die furchterregende und abgründige Natur auf ihre eigene Weise. Stringent erzählt die Novelle "Wirbel" vom Verlassen der Schutzräume, von verlorenen Gewissheiten und unkontrollierbaren Gefühlen, von dem, was nicht mehr in unserer Macht steht.

Heidenreich Wirbel jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1
Schon zwei Jahrzehnte hatte er auf dem Balkon mit der niedrigen Balustrade gestanden, ohne unsicher oder schwindlig zu werden, sei es während einer Arbeitspause, sei es zusammen mit seiner Frau. En passant hatte er von hoch oben verfolgt, wie auf der gegenüberliegenden Seite die Bäume wuchsen, die jetzt fast ganz die Wohnhäuser verdeckten und mit ihren himmelwärts strebenden Zweigen den Blick weit über die Stadt hinaus lenkten. Genauso wie er stillschweigend damit gerechnet hatte, dass die Bäume wuchsen, ging er die ganze Zeit auch davon aus, dass seine noch junge, ganz persönliche Sonne für immer über ihm leuchten würde. Das erkannte er aber erst, als es dunkel geworden war. Da stand ihr liebes Gesicht schon zwischen Blumen und Kerzen auf der Kommode hinter ihm. Die ersten Jahre nach ihrem Verschwinden hatte er allen verkündet, dass er zu alt sei, um noch einmal zu heiraten. Er war Realist. Doch da nach seiner Pensionierung die Kontakte zu Kollegen, Doktoranden und befreundeten Wissenschaftlern immer seltener wurden, hatten nicht viele dieses scheinbar unerschütterliche Statement vernommen. Und als man ihn zu seinem siebzigsten Geburtstag feierte und beglückwünschte, rutschte es ihm selbst an den Rand seines vernünftigen Bewusstseins. Zu einsam war er. Und noch zu lebendig. Er spürte dumpf, wie Sehnsucht in sein Zeichnen eindrang, das neben der nach wie vor strengen wissenschaftlichen Arbeit die Tage füllte. Seit seiner Studienzeit zeichnete er nach der Natur. Was ihn besonders faszinierte, waren Berg- und Felsstrukturen, das nackte alpine Hochgebirge. Dessen Schluchten, Höhlen und Moränen gerieten ihm nun immer öfters zu leicht gewellten, in sich noch einmal vertieften Spalten, in denen die wenigen Betrachter seiner Zeichnungen, vor allem die Frauen, ein weibliches Organ und den Ausdruck eines Herzenswunsches zu erkennen meinten. Mit Unverständnis, fast Unwillen nahm er solche, meist schüchtern geäußerten Vermutungen als abwegig zur Kenntnis. Zuletzt hatte er im Karwendelgebirge gezeichnet, auf den Hängen und Almen des Achentals. Immer wieder ging ihm die Redewendung vom Ach und Krach durch den Kopf und schlug den Takt für seine wie eh und je konzentrierten Schritte. Dass die Sonne tagelang nicht schien, obwohl es fast schon Mai war, beeinträchtigte nicht so sehr sein Zeichnen, sondern vielmehr sein Gemüt, das sich dieses Mal nicht wie sonst in den Bergen aufhellen wollte. Nach seiner Rückkehr besserten sich weder die Wetter- noch die Gemütslage. Fast jeden Tag beschwerten dunkle Wolken die Stadt, blieb die Temperatur unter dem jahreszeitlichen Mittel und regnete es oft und beharrlich, was zwar Blätter und Blüten kräftig sprießen ließ, den Genuss des Frühlings aber verdarb, genauso wie die Pfingstrosen, die er regelmäßig auf ihr Grab stellte. Wie hatte sie immer auf diese Blumen gewartet, wie waren alle Vasen mit ihnen gefüllt und wie versuchte er auch jetzt, sie in Gärtnereien und auf dem Markt zu besorgen. In diesen Wochen und Monaten hatten sie auch ihren ersten Urlaub gemacht, meistens im Süden. Am glücklichsten waren sie auf einer Insel gewesen, deren weitläufige Strände und schroffe Gebirge er während schier unendlicher, aus der Zeit herausgefallener Tage eines Morgens zu zeichnen begonnen hatte, mit zarten, überaus vorsichtig tastenden Linien, die auf dem Papier kaum zu erkennen waren, so als ginge es um alles und müsste jeder falsch gesetzte Strich in eine Katastrophe führen. Und es ging auch bald um alles. Die langen Jahre der Krankheit begannen, der in alle Glieder fahrenden Schrecken, der aufkeimenden Hoffnungen, der herzzerreißenden Liebe. Seitdem beschäftigte er sich zunehmend und, wie es seine Art war, gewissenhaft mit Krankheit und Tod, suchte Rat und Trost vor allem in stoischen Lehren. Doch hatte das wirklich geholfen? Noch immer konnte er nicht zu dieser Insel fahren, das ging einfach nicht, war völlig ausgeschlossen. Aber wenigstens in die Nähe, das wäre schon zu schaffen, auch dort würde es jetzt hell und warm sein. Außerdem gab es da noch die große Säulenhalle. Sie war zwar nur nachgebaut, aber man war am richtigen Ort, auf der Agora, hatte das echte Ambiente, konnte da entlanggehen, wo der Hagere, dem er sich insgeheim ähnlich fühlte, mit seinen Schülern entlanggegangen ist. Nach einem weiteren Regentag beschloss er, wieder dicht an der Balustrade ins Leere blickend, zu fliegen. Es dauerte eine geraume Weile, bis sich das Flugzeug rüttelnd und schüttelnd durch die dicke Wolkendecke gearbeitet hatte und kurz darauf im letzten Zwielicht frei und ruhig über die ersten Gipfel flog. Die Sonne war längst untergegangen. Im schattenlosen Kosmos hoben sich vereinzelt weiße Spitzen aus einer Fläche heraus, die wie ein gefrorener Milchsee aussah, auf dem der Wind flache Wellen geformt hatte. Schnell vermehrten sich die bestäubten Zinnen, um die sich der See als schmales, bald versickerndes Rinnsal wand, wurden immer erhabener, herausragender, ausgreifender und traten schließlich zu aus sich selbst leuchtenden, sich selbst organisierenden Gipfelzügen, ja Gipfelauftürmungen zusammen, um dann als schrumpfende, kaum noch unterscheidbare Felsformationen in der Dunkelheit unterzugehen. Zuletzt gab es im finsteren Universum nur noch das schummrige Licht der Kabine. Um zu zeichnen, machte er über seinem Kopf die Leselampe an, die direkt auf seinen Block schien, und vergegenwärtigte sich noch einmal das Bild jenes Urwalds aus gleißenden Spitzen. Nein, das waren keine Zuckerhüte, verwarf er eine weit verbreitete Vorstellung, das waren dicht an dicht stehende, angenagte, fast schon angefräste Zacken, nein Zackenhaufen, spitze, zersplitterte, schneidende Zinken. Das war lebensgefährlich. Das war die Eiswüste eines fremden Planeten, kaum zu glauben, dass auf dem Grund des Milchsees Menschen wohnten und atmeten … Wie immer wollte er die grundlegenden Linien der eindrucksvollen Gebirgsformationen in einer ersten Skizze festhalten. Dazu rückte er den Zeichenblock auf seinen Knien hin und her, versuchte, im engen Geviert zwischen Kabinenwand, Vorder- und Nebensitz seinen langen Beinen eine bessere Position zu geben, hob auch ein wenig den rechten Arm, um das eingeklemmte Jackett zu befreien, und stieß dabei an seine Nachbarin. Sie war relativ spät gekommen. Da war er schon ungehalten gewesen über das lange Warten auf den Abflug. Doch erfreulich schnell hatte sie sich, ohne mit Reisetaschen, Schals und Tüten herumzufuchteln, in ihren mittleren Platz eingefügt. Sie schien, soweit er es erkennen konnte, recht ansehnlich zu sein. Und glücklicherweise nicht dick. Und anscheinend auch eine geübte Fliegerin. Natürlich jünger als er, aber nicht zu jung. Gerade las sie in einer Zeitung, die sie raschelnd, zusammen mit ihren Armen und Beinen, an sich zog, als sie sich berührt fühlte. „Mille pardon, je suis désolé“, und dann kam, wie zur Bekräftigung, noch einmal ein leises Pardon über seine Lippen. Besonders in unangenehmen Situationen sprang ihm seine Zweitsprache hilfreich zur Seite, machte ihn fühlbar gewandter und freier und auch galanter, trug ihn sekundenlang wieder in das Paris seiner frühen Jahre. Die Frau neben ihm schien zu verstehen und nickte beruhigend mit dem Kopf, kein Problem. Dabei sah sie dezent hinüber auf seinen Block. „Vous peindre?“ „Nein, ich zeichne“, antwortete er sofort auf Deutsch, auch um ihr weitere Fehler zu ersparen. Sie hat eine angenehme Stimme, dachte er noch, konnte sich aber nicht entschließen, die Konversation fortzusetzen. Auch sie fragte nicht weiter, entfaltete nur wieder vorsichtig ihre Zeitung. Da bemerkte er einen großen Siegelring an ihrem linken Mittelfinger, von dem aus sein Blick weiter nach unten glitt und plötzlich auf derart wohlbekannte Oberschenkel fiel, dass ihn ein heißer Blitz durchfuhr. Dieses Muster, das er überwältigend klar wie durch ein Vergrößerungsglas vor sich sah, war das Muster ihrer Hose, Pepita genannt. In der ausufernden Akkuratesse dieses Musters saß sie für einen kurzen Moment, der ihm den Atem benahm, neben ihm. Sie trug Pepita, damals, als sie sich kennenlernten, und auch noch später, diese winzigen, meist schwarz-weißen Karos. Obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte, hatte sie ihm einmal diese Webart erklärt, bei der verschiedenfarbige Quadrate ineinander verzahnt werden. Davon flimmerte es ihm manchmal vor den Augen und dann suchte er Rettung in den ihren. Jetzt schickte er seinen Blick hinaus in die Nacht hinter dem fetten Bullauge. Anscheinend war Pepita wieder modern. Das musste er sich merken, um nicht noch einmal so überrumpelt zu werden. In die mondlose Finsternis schauend versuchte er, die Schatten zu verscheuchen und sich wieder auf die schneebestäubten Zackenhaufen zu konzentrieren. Probeweise pendelte er mit dem Stift über dem weißen Blatt hin und her. Er hatte lange genug gezeichnet, um zu wissen, dass man nicht jeden Strich auf die Goldwaage legen musste, doch nun war etwas blockiert. Er lehnte sich zurück. Wie war er doch eingezwängt im Sitz, im engen Spalt für die Beine, in der Reihe, obwohl oder vielleicht gerade weil er einen Fensterplatz hatte, und überhaupt in der zu niedrigen Kabine, in der zu viele Menschen zu dicht beieinander saßen. Früher, als er noch Zug fuhr, weite Strecken durch ganz Europa, da konnte er atmen, da gab es Platz für die Arme, die Beine, die eigenen Sachen. Alle konnten sich vergleichsweise gut ausbreiten. Die Fenster waren groß und ließen sich öffnen. Man saß sich gegenüber, kam miteinander ins Gespräch, konnte auf dem Gang hin und her laufen. Auch das Rattern des Zuges war schön, beruhigend, besonders in der Nacht. Laut war es natürlich gewesen, vielleicht sogar lauter als hier im Flugzeug. Trotzdem konnte man die anderen gut verstehen, fühlte sich nicht so...


Elisabeth Heidenreich ist Autorin und Professorin i. R. Sie studierte Germanistik und Sozialwissenschaft in Marburg und Frankfurt, schrieb Radio-Features über die Literatur des 20. Jahrhunderts, veröffentlichte Gedichte und Fachbücher und lehrte als Stadt- und Umweltsoziologin an der Universität Kassel und der University of the Aegean. Seit über zwei Jahrzehnten lebt und arbeitet sie in Athen.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.