Buch, Deutsch, 247 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 360 g
Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin
Buch, Deutsch, 247 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 360 g
ISBN: 978-3-593-38590-7
Verlag: Campus
Seit 1987 haben rund zwei Millionen russische Juden die frühere Sowjetunion verlassen. Außer nach Israel wanderten sie vor allem in die USA und nach Deutschland aus – hier besonders in Großstädte. Victoria Hegner vergleicht diese beiden Migrationsströme am Beispiel der Städte Berlin und Chicago. Was bedeutet es, sich als Jude in diesen Ländern und Städten niederzulassen? Welche Formen jüdischen Selbstverständnisses wurden den Zuwanderern in Deutschland und den USA geboten? Der Vergleich lässt nicht nur nationale Besonderheiten hervortreten. Er zeigt auch, wie sehr die jeweilige Stadt das Lebensgefühl russischer Juden prägt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Jüdische Studien Jüdische Identität & Biographien
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte des Judentums (Diaspora)
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Geschichte des Judentums außerhalb Israels/Palästinas
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Jüdische Studien Jüdische Studien: Leben & Praxis, Soziale Aspekte
Weitere Infos & Material
1. Einleitung
2. Freiheit und historische Verpflichtung - Die diskursiven Rahmungen der russisch-jüdischen Migration
Chicago
3. "Tiefste Provinz" - Russische Juden in Chicago
4. Wenn das Wohnhaus ein Kulturzentrum wird - Identitätskonzepte älterer russischer Juden
5. Vielfältig, überraschend, antagonistisch - Identitätskonzepte junger russischer Juden
Berlin
6. Die russisch-jüdische Metropole an der Spree
7. Nationalität, Religion, Geschichte - Kategorien eines neuen Selbstverständnisses in Deutschland
8. Der Initiator der Einwanderung - Eine Ostberliner Organisation nach amerikanischem Modell
Fazit
9. Vergleichende Zusammenfassung
Literatur
Dank
Das Nebeneinander von widersprüchlich anmutenden Gedanken und Alltagspraxen und die damit einhergehende Uneindeutigkeit sowie Vielfalt sozialer und kultureller Grenzziehungen sollte für meine Feldforschung unter 20- bis 35-jährigen russischen Juden in Chicago prägend werden. Geradezu idealtypisch schien sich dabei die von einigen kulturwissenschaftlichen Theoretikern insbesondere von Stuart Hall getroffene Feststellung zur Identitätsbildung in der Spätmoderne zu bestätigen. So konstatierte Hall bereits Mitte der 1990er Jahre in seinem Aufsatz "Who Needs Identity": " […] identities are never unified and, in late modern times, increasingly fragmented and fractured; never singular but multiply constructed across different, often intersecting and antagonistic, discourses, practices and positions." Er betont, dass der Prozess der Abbildung von Identität beziehungsweise individuellem und kollektivem Selbstverständnis nicht als die erhoffte und ständig angestrebte Reproduktion von Gemeinschaftlichkeit zu verstehen ist. Vielmehr charakterisiert sich Identität oder die Vorstellung vom Selbst vornehmlich durch die Herausstellung von Differenz und Formen des Ausschlusses. Indem man auf diskursiv bereitete Ressourcen wie Geschichte, Kultur und Sprache strategisch zurückgreift, modelliert sich dabei das Verständnis von der eigenen Person sowie die Idee von Zugehörigkeit. Mit diesem von Stuart Hall und anderen Vertretern gerade der cultural studies stark gemachten Gedanken möchte ich im Folgenden das Selbstverständnis junger russischer Juden nachzeichnen. Ich orientiere mich dabei an drei Kategorien, die während einzelner Gespräche, bei privaten Zusammentreffen sowie offiziellen Veranstaltungen immer wieder zentral waren und direkt oder indirekt verhandelt wurden. Es handelt sich um den Begriff vom Jüdischsein. Des Weiteren geht es um die Verortung in der russischen beziehungsweise sowjetischen Kultur. Die Kategorien sind durchwirkt und miteinander verwoben durch Fragen nach dem eigenen amerikanischen Selbstverständnis. Für meine Darstellung werde ich die Zuordnungen einzeln für sich betrachten, wobei die anderen Kategorien stets anklingen werden. Dabei konzentriere ich mich auf einzelne Personen und versuche zu zeigen, wie unterschiedlichste kulturelle wie soziale Selbstverortungen innerhalb einer Kategorie nebeneinander stehen können oder spezifisch verknüpft werden. Gleichzeitig sollen junge russische Juden als Gruppe ins Blickfeld geraten, wobei herausgestellt wird, wie sich in den überaus heterogenen Ansichten und Praxen Differenz und Zusammengehörigkeit zugleich formt.
Jüdischsein zwischen Religion und Nationalität
Es war Mittwoch. Samuel Derman, ein orthodoxer amerikanischer Rabbiner in West Rogers Park, hatte wie so oft zu einem religiösen Vortrag in privater Runde unter russischen Juden geladen. Treffpunkt war das Haus eines jungen russisch-jüdischen Ehepaares in der Birchwood Street, einer Parallelstraße der Devon Avenue. Mann und Frau sind nach der Immigration streng fromm geworden. Tatjana Leltschuk, eine russische Jüdin, die aufgrund ihrer Arbeit seit 1997 in den USA lebt, meinte, dass ich "diese Gruppe unbedingt sehen" müsse und sie wolle mich mitnehmen. Ich würde hier einen "völlig neuen Blick" auf russische Juden in den USA bekommen, weil das dortige Publikum, anders als man es gewöhnlicherweise kennt, "rechtsgerichtet" sei. "Ich meine nicht konservativ, ich meine rechtsgerichtet", beschwor sie mich, wobei sich Tatjana von dieser Zuschreibung offensichtlich ausnahm und wohl als eine Art ›interessierte Außenseiterin‹ sah. Zu meiner Überraschung traf ich auf einige Gesichter, die mir durch Katjas Lesung bekannt waren. Mark Kretschewski hatte sich eingefunden, Lilia Kotlianova war gekommen und auch ein junges Paar, das ich auf Katjas Abend gesehen hatte. Für mich war das insofern (wieder) merkwürdig, als dass ich Katjas literarisches Schaffen eher in das linke Spektrum einordnete. Es war politisch alternativ, mitunter geradezu subversiv. Wenn man solche Literatur ›interessant‹ fand, wie konnte man da gleichzeitig "rechtsgerichtet" sein beziehungsweise sich einer "rechtsgerichteten Gruppe" zuordnen? Bei Lilias konstruktivistischen Grundannahmen zum jüdischen Selbstverständnis und Marks Einstellung zur Religion verwunderte zudem, dass sie gerade den Austausch mit einem orthodoxen Rabbiner suchten, der eher eine absolute Weltsicht und eine strenge, begrenzende Form von Religiosität vertrat. So, wie man auf dem Gedichtsabend alternativ und liberal war, konnte man sich scheinbar am heutigen Abend - wenn nicht auf "rechtsgerichtete" Ansichten - zumindest aber auf konservative oder orthodoxe Vorstellungen einlassen. Man dokumentierte dies zugleich auf körperlich-habitueller Ebene. So folgten Mark und Lilia gewissenhaft der orthodoxen Kleiderordnung, hatten sich auch äußerlich in streng gläubige Juden ›verwandelt‹. Mark war in langer dunkler Hose und im Sakko erschienen, mit einer Kippa auf dem Kopf. Lilia trug einen knöchellangen Rock, darunter die vorgeschriebenen stockings mit festem Schuhwerk. Die langen Haare waren zusammengebunden. Sie winkten mich zu sich und Lilia und ich saßen während des Vortrags zusammen. Tatjana schien mit ihrer Beschreibung, dass man hier nicht allein "konservativ" sondern "rechtsgerichtet" dachte, in gewisser Weise recht zu behalten. Die Ausführungen des Rabbiners zur religiösen Bedeutung Israels und seine Überlegungen zum heutigen Nahostkonflikt konnte man zumindest als eine ›ultraorthodoxe‹ Anwendung der Thora auf die Gegenwart deuten, die politische Liberalität und historisch veränderte Lösungen ablehnte.
Mark war von Rabbiner Derman begeistert. "Ein weiser Mann", befand er nach dem Vortrag. Für ihn sei es eine "intellektuelle Bereicherung" gewesen und er freue sich schon auf das nächste Mal. Lilia hingegen fand es furchtbar: "Eigentlich ging ich in der Hoffnung hin", meinte sie etwas später zu mir, "etwas Weises zu hören und auch Fragen zu stellen. Was können wir außer Gewaltanwendung [Israelische Gewalt gegenüber Palästinensern] noch tun […] Aber als ich da war und ihm zuhörte […] gab er mir das Gefühl, keine Fragen stellen zu wollen, weil ich wusste, was die Antworten sein würden." Diese kritische Haltung hielt Lilia aber nicht davon ab, wie Mark, beim nächsten Referat von Rabbiner Derman wieder dabei zu sein. Die gleiche Praxis erwächst offensichtlich aus völlig verschiedenen Erwartungen an jüdische Religion und aus sehr unterschiedlicher jüdischer Selbstverortung allgemein. Mit Stuart Hall stellt sich die Frage, welche spezifischen Rückgriffe auf historische, kulturelle wie allgemein diskursiv bereitete Ressourcen erfolgten, die bei aller Unterschiedlichkeit die gleiche Praxis logisch erscheinen lassen. Dies versuche ich jetzt zu klären.