Heckmann | Benjamin und seine Väter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 440 Seiten

Heckmann Benjamin und seine Väter


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7317-6109-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 440 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6109-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Benjamin Weis erblickt 1919 in Frankfurt als Sohn der ledigen Kanzleigehilfin Anna das Licht der Welt, vom Vater fehlt jede Spur. Der Anwalt Fritz Bernoulli nimmt sich der jungen Familie an, stellt Wohnung und Unterhalt zur Verfügung. So wächst Benjamin trotz der widrigen Umstände behütet in der Bergerstraße heran. Er taucht ein in die Welt von Don Quijote und Robinson Crusoe und erlebt mit seinen Freunden kleine und große Abenteuer. Doch da seine Mutter auf seine Fragen nach dem Vater ausweichend mit Märchen antwortet, muss sich Benjamin eben selbst immer neue Väter erfinden. Heckmann zeichnet ein Panorama der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland aus der Perspektive eines Kindes, das sich auf viele Dinge keinen Reim machen kann. Warum sein Ziehvater als Vaterlandsverräter beschimpft wird, warum niemand einschreitet, als ein angeblicher Kommunist auf der Straße zusammengeschlagen wird, warum sein jüdischer Freund nach Amerika auswandern muss, auf diese Fragen erhält der jugendliche Benjamin immer noch keine Antworten. Und so lautet sein Fazit: 'Ich scheiße auf alle Väter, die uns ein solches Leben eingebrockt haben.'

Herbert Heckmann wurde 1930 in Frankfurt am Main geboren. Sein umfangreiches Werk umfasst neben Erzählungen und Romanen auch Kinder- und Kochbücher sowie ein Wörterbuch der Hessischen Mundart. Für den Roman Benjamin und seine Väter wurde er mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Er war Mitherausgeber der Neuen Rundschau, freier Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und gehörte zahlreichen Jurys an. Er starb 1999 in Bad Vilbel.
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Die Umstände, auf die Welt zu kommen und darin zu bleiben

»Wie soll das Kind heißen?«, fragte der Standesbeamte.

»Benjamin, Benjamin Weis«, erwiderte der hochgewachsene Mann im schwarzen Mantel und winkte mit einem Stoß von Papieren. Ehe der Standesbeamte die Feder in die Tinte tauchte, runzelte er die Stirn.

»Benjamin? Ist das ein christlicher Name?«

»Schreiben Sie Benjamin«, sagte der Mann mit den Papieren und verlagerte sein erhebliches Gewicht vom rechten auf den linken Fuß. Der Standesbeamte zögerte noch.

»Es gibt doch bei Gott genug christliche deutsche Namen.«

»Schreiben Sie Benjamin.« Der Mann klopfte mit dem Fingerknöchel auf den Tisch und begann den Namen zu buchstabieren. Der Beamte stieß die Feder in das Tintenfaß, beschrieb in der Luft einige Kreise und setzte sie dann wuchtig auf das Papier. Der Punkt, den er hinter den Namen setzte, wuchs zu einem Klecks, der unter dem Löschblatt sich noch weiter ausdehnte.

»Sind Sie der Vater?«, fragte der Beamte und schaute auf, mit den Augen über die Brillengläser schielend. An der Wand ihm gegenüber hing noch immer ein Bild des Kaisers. Darunter ein Kalender, der den 16. März 1919 ankündigte.

»Nein, aber ich wäre es gern.«

»Wo steckt der Vater?«

»Das weiß ich nicht.« Der Mann im schwarzen Mantel, mit dem Papierbündel in der Hand, betrachtete ungeduldig die Gegenstände im Zimmer, den Aktenschrank, aus dem eine Schublade herausragte, den blankgewetzten Stuhl, auf dem eine unübersehbare Zahl von Vätern gesessen haben mochte, um stolz die ersten Daten ihrer Sprößlinge anzumelden.

»Wie heißt der Vater?«

»Die Mutter ist nicht verehelicht.«

Der Beamte legte den Federhalter auf die grüne Unterlage des Schreibtisches, griff nach einem roteingebundenen Buch, blätterte wichtigtuerisch, glitt mit seinem breitkuppigen Finger die Zeilen entlang, seufzte, steckte dann mit unverhohlenem Abscheu die Feder erneut ins Tintenfaß und trug mit gemäßigtem Schwung die weiteren Daten ein.

»Was haben Sie mit der Sache zu tun?«, fragte er und lehnte sich in dem Stuhl zurück, aber der Mann hatte die Papiere schon sorgfältig zusammengefaltet, den schwarzen Hut tief in die Stirn gezogen und war enteilt, die Türe einen Spalt offenlassend.

In Versailles verhandelte man über den Frieden. Die Idealisten irrten sich über die deutschen Möglichkeiten zu schlechter Stunde und verlangten zuviel. Zeitungsverkäufer schrien die Schlagzeilen über die Straße, ihre Stimmen schluckte der Regen. Die Skeptiker gaben ihr Geld für das Wenige aus, was es noch gab.

Der Mann in dem schwarzen Mantel eilte, den Kragen hochgestellt, um Pfützen tänzelnd, durch die Straßen. An einem Blumenstand, hinter dem eine dickvermummte Frau fror, kaufte er einen dürftigen Strauß Tulpen, die vor Kälte die Köpfe hängen ließen. Von der Hutkrempe tropfte dem Mann das Wasser auf den Mantel. Soldaten ohne Achselklappen und Manschetten gingen in lächerlicher Geradheit vorüber. Ihre Arme schlenkerten grußbereit. Vor den Lebensmittelgeschäften drängten sich Menschen. Manche hatten Papiermützen über den Kopf gestülpt, die der Regen langsam durchweichte. Der Mann hatte es eilig. Als er durch die Eingangspforte des Marienkrankenhauses trat, spürte er Nässe auf seinen Schultern. Er schüttelte sich, hob die Blumen hoch und ging durch den langen Korridor, klopfte vorsichtig an eine Tür, lauschte und trat, nachdem er mit dem Hut gegen den Mantel geschlagen hatte, in das Zimmer.

»Ich habe ihn angemeldet«, sagte er, knöpfte den Mantel auf, setzte sich mit gespielter Erschöpfung auf den Stuhl neben dem Bett und faßte nach der Hand der jungen Frau, die, mit einigen Kissen im Rücken, aufgereckt im Bett saß und die ganze Zeit schon auf die Tür gestarrt zu haben schien.

»Ich danke dir«, flüsterte sie und schälte die kümmerlichen Blumen aus dem nassen Papier, hielt sie einen Augenblick vor sich hin und stellte sie dann in die Vase. Sie tat es langsam, als wolle sie dem Gespräch entfliehen. Dann aber fragte sie, ohne aufzuschauen: »Hast du ihn schon gesehen?«

Von seinem Mantel tropfte Wasser auf den Fußboden. Ein wenig lauter und bestimmter fuhr sie fort: »Er wiegt siebeneinhalb Pfund und sieht seinem Vater ähnlich.«

Der Mann verschränkte seine Hände. Seine Knie berührten die Bettkante. Auf dem Tischchen lagen Bücher, in einem Schälchen schimmerte ein frischgeschälter Apfel.

Plötzlich wurde die Türe aufgerissen, und eine Nonne trat, ein kleines Bündel in den Armen, in das Zimmer. Der Mann sprang auf und schob den Stuhl hastig zur Seite. Die Nonne wickelte ihre rechte Hand aus dem Bündel und streckte sie dem Mann entgegen, der nicht wagte, sich von der Stelle zu rühren. Er versuchte auf den Zehenspitzen stehend in das Bündel zu spähen.

»Ich gratuliere zu dem prächtigen Sohn.«

Der Mann trat zurück.

»Leider bin ich es nicht.« Die Nonne errötete und hob die Hand wieder unter das Bündel, daß die kugelig vorgebaute Stirn des Kindes sichtbar wurde, die stumpfgeformte Nase zitterte fast unmerklich. Runzeln und Fältchen umlagerten die Augenhöhlen. Die Haut hatte eine tiefbraune lederne Farbe. Ein kleines, violettes Fäustchen kroch zwischen den Tüchern hervor und drohte, so daß der Mann mit dem aufklaffenden Mantel in die Hände klatschte:

»Kaum in der Welt und schon ein Kritiker.«

Die Nonne legte das Bündel der Frau an die rechte Seite, strich die Bettdecke glatt und verließ, die Hände in ihrer Kutte verbergend, das Zimmer. Der Mann betrachtete den schmalen, mit schwarzen Haaren spärlich bewachsenen Kopf. Das Mündchen stand daumenbreit offen und bebte. Gerade in dem Augenblick, als die Mutter sich über das Kind beugte, um den Kopf vollends aus den Spitzendeckchen herauszuschälen, lief eine zornige Röte über die faltige Haut, und ein piepsiges Geschrei ertönte. Der Mann knöpfte den Mantel zu und zitierte nahezu feierlich:

Sum natus lacrymans, lacrymans moriorque, peregi.

In lacrymis vitae tempora longa meae.

O genus humanum miserum et lacrymabile.

»Was ist das für ein lustiges Lied?«, fragte sie und hob das Kind an ihre Brust. Anstelle einer Antwort stülpte er seinen Hut über den Kopf und machte schnell das Zeichen des Kreuzes. Sein breites, neugieriges Gesicht, bärenhaft in seinen Rundungen, wurde von einem Niesen nach unten gezerrt.

»Mach die Augen zu!«, sagte sie und öffnete ihre Jacke. Als er die Türklinke niederdrückte, hörte er Schmatzen. Er schaute belustigt über die Schulter, wobei er seinen Mantel hochraffte. »Er hat einen Durst wie du«, rief sie ihm nach.

»Nur daß ich …«, sagte er und beendete den Satz erst, als die Tür ins Schloß fiel.

Durch den Gang wehte ein süßlicher Duft. In einem Wartezimmer saßen zwei magere Männer, die ihre Unruhe voreinander verbargen. Ein Mann in einer Uniform, der genießerisch an der Heizung lehnte, einen zerrissenen Rucksack zwischen seinen gamaschierten Füßen, wurde gerade von einem Arzt aufgefordert, das Haus schleunigst zu verlassen. Schimpfend und jammernd taumelte der Soldat aus dem Zimmer und warf den Rucksack über den Rücken.

»Drei Tage schon hockt er hier herum und sagt, er werde Vater. Eine Flasche Schnaps hat er getrunken, die Nonnen beschimpft, durch die Gänge gebrüllt, daß sein Sohn etwas Ordentliches werde, ein Lügner ist er, ein Simulant.«

Der Arzt sah entschuldigend in die großen, suchenden Augen des Mannes, der zum Ausgang strebte. »Ich bin so frei und begleite Sie«, sagte der Soldat. Seine Stiefel knirschten auf dem Boden. Den Arzt würdigte er mit keinem Blick. Sein bunt zusammengeflickter Mantel reichte ihm bis an die Waden.

»Sie sind glücklicher Vater, wie ich sehe. Nehmen Sie den Glückwunsch eines alten Kriegers an. Ich bin auch Vater. Jedesmal wenn ich etwas anfange, gibt es einen Sohn. Enthaltsam muß man sein, dann gibt’s einen Sohn. Das sagt Ihnen jeder, der etwas von dem Geschäft versteht.«

Der Mann ließ den Soldaten reden, der kaum mit ihm Schritt halten konnte, blieb aber dann, als sie in den Regen kamen, stehen und nestelte ein Geldstück aus der Tasche.

»Trinken Sie das auf mein Wohl.« Der Soldat salutierte glücklich. Sein Schnurrbärtchen über den dünnen Lippen war sehr beweglich.

Das Wasser lief gurgelnd in die Kanallöcher. Die Hauswände glänzten naßschwarz.

Der Mann war glücklich, daß man ihn für den Vater gehalten hatte. Am liebsten hätte er sein ganzes Geld über die Straße ausgeschüttet.

»Ich ein Vater?«, dachte er und versuchte sich vorzustellen, wie er mit dem kleinen, siebeneinhalb Pfund schweren Kerl in Verbindung kommen könne. Er feixte, grimassierte, zwinkerte. »Nein, ich werde so still sein, wie ich eben kann«, sagte er sich und trat sehr sanft auf.

Er ging nicht sofort nach Hause, sondern wanderte ziellos umher. Unter dem Regen schmolz sein Hut zu einem nassen Klumpen, die regnerische Gräue der Straße bedrückte ihn.

Was war alles geschehen?

An einem Nachmittag im August des letzten Jahres hatte sie ihm ohne Umschweife verkündet: »Ich bekomme ein Kind, und er ist auf und davon, ohne etwas davon zu wissen.« Sie war eine Art Aushilfe in seinem Anwaltsbüro, ein neunzehnjähriges Mädchen, das gern lachte und sich die Haare hochsteckte, so daß ihr schmales Gesicht noch feiner wirkte. Inmitten der Akten und Papiere kämpfte sie verzweifelt um Ordnung – und jeden Morgen, nachdem sie ihr Gesicht im Spiegel abgeschätzt hatte, ging sie mit Elan an die Arbeit und...


Heckmann, Herbert
Herbert Heckmann wurde 1930 in Frankfurt am Main geboren. Sein umfangreiches Werk umfasst neben Erzählungen und Romanen auch Kinder- und Kochbücher sowie ein Wörterbuch der Hessischen Mundart. Für den Roman Benjamin und seine Väter wurde er mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Er war Mitherausgeber der Neuen Rundschau, freier Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und gehörte zahlreichen Jurys an. Er starb 1999 in Bad Vilbel.

"Herbert Heckmann wurde 1930 in Frankfurt am Main geboren. Sein umfangreiches Werk umfasst neben Erzählungen und Romanen auch Kinder- und Kochbücher sowie ein Wörterbuch der Hessischen Mundart. Für den Roman "Benjamin und seine Väter", den die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorabdruckte, wurde er mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Er war Mitherausgeber der Neuen Rundschau, freier Mitarbeiter beim Hessischen Rundfunk, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Professor an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main und gehörte zahlreichen Jurys an. Er starb 1999 in Bad Vilbel."



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