E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Hearne Papier & Blut
3. Auflage, 2025
ISBN: 978-3-608-11857-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Chronik des Siegelmagiers 2
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-608-11857-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kevin Hearne, geboren 1970, lebt in Arizona und unterrichtet Englisch an der High School. »Die Chronik des Eisernen Druiden« machte ihn unter Fantasyleserinnen und -lesern mit einem Schlag weit über die USA hinaus bekannt.
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1
Ein Anruf aus Down Under
Wenn man jemandem eröffnet, dass er vielleicht bald sterben muss, sollte man ihn am besten vorher zu einem Whisky einladen. Dann kann er ihn trinken oder ihn einem ins Gesicht schütten und wird sich dabei zumindest ein kleines bisschen besser fühlen. Das ist einfach ein Gebot der Höflichkeit.
Buck Foi zog die Hand zurück und war drauf und dran, mir sein Glas entgegenzuschleudern, doch dann überlegte er es sich anders und kippte es sich lieber in die Kehle. Es war Sonntagabend kurz vor dem Zubettgehen. Vielleicht half es ihm beim Schlafen.
»Wie lang weißt du schon, dass das passieren wird?« Der Hobgoblin hatte die Stimme vorwurfsvoll erhoben. Er trug ein neues Wams mit einem subtilen Schwarz-auf-Schwarz-Muster, das mich amüsierte. Auch wenn er es nie zugegeben hätte, entweder wollte er meiner Managerin Nadia imponieren, oder er war so beeindruckt von ihr, dass er ihre Modephilosophie nachahmte, der zufolge jede Farbe großartig war, solange es sich dabei um Schwarz handelte. Der angebliche Grund für die Wahl dieses Kleidungsstücks war, dass er etwas Passendes für die Glasgower Necropolis brauchte, die wir am Morgen, begleitet vom Orgeldröhnen aus der nahe gelegenen Kathedrale, zu einem netten Grufti-Rundgang besucht hatten. Die Anlage bestand aus einer fünfzehn Hektar großen Totenstadt auf einem Hügel mit feierlichen Mausoleen und verwitterten Grabsteinen, die an das Leben begüterter Viktorianer erinnerten. Der Ort strahlte eine Erhabenheit aus, die zumindest einen Hauch von Förmlichkeit angemessen erscheinen ließ. Ohne ihnen selbst zu folgen, brachte ich ihm die verschlungenen Schritte der im Gras zwischen den Gräbern verborgenen alten Tür bei, die ihn nach Tír na nÓg führen würde, sollte sich einmal die Notwendigkeit dazu ergeben. Bisher hatte er nur die alte Tür im Kelvingrove Park gekannt, durch die er auf die Erde gelangt war.
Ich antwortete ihm mit meiner Sprech-App – der guten auf meinem Notebook, die wenigstens schottisch klang, auch wenn der Sprecher nicht aus Glasgow stammte, sondern aus Edinburgh. [BRIGHID hat mir von dem Fluch erzählt, kurz nachdem du deinen Dienst bei mir angetreten hast. Zu der Zeit hatten wir dringendere Sorgen – eine Göttin, die uns umbringen wollte, einen vollkommen durchgeknallten Leprechaun und so weiter. Da habe ich lieber noch ein bisschen gewartet.]
Der Hobgoblin teleportierte neben mein Notebook auf der Kücheninsel und wedelte mir mit einem rosigen Finger vor dem Gesicht herum. Er war nur ungefähr sechzig Zentimeter groß und schaute lieber vom Tresen auf mich herunter statt zu mir auf, wenn er etwas Wichtiges vorzubringen hatte. »Das war vor zwei Monaten, Alter!«
[Aye. Ich wollte eben, dass du das Abfüllen und Verteilen deines besten geklauten Highland-Whiskys genießen kannst. Ein paar nette, geruhsame Wochen, eine kurze Auszeit zum Freuen und Erinnern, bevor ich dir den nächsten Stress antue. War das nicht schön, wie du den ganzen Whisky am Feenhof verteilt hast?]
»Aye, das hat richtig Spaß gemacht.« Bei der Erinnerung entspannte sich seine Miene ein wenig. Zweihundert Flaschen mit zehn Jahre altem Highland-Whisky aus einem ehrlich geklauten Fass, verschenkt an die Feenwesen und sogar an die TUATHA DÉ DANANN persönlich. »Hast du gewusst, MacBharrais, dass sie aus dem Stegreif Lieder zu meinen Ehren komponiert haben? Ich meine, klar, die Hälfte davon war gejault, weil mein Whisky eine epische Sauforgie ausgelöst hat. Trotzdem, die haben richtige Lieder für mich geschmettert. Ich bin noch lange keine Kultfigur wie Holga Thunderpoot, verstehst du, aber das war schon der volle Wahnsinn, und ich glaube, ich hab ’ne reelle Chance, dass ich diesen raren Status tatsächlich mal erreiche – zumindest wenn ich nich’ schon vorher abkratze.« Das letzte Wort schrie er mir förmlich entgegen, und ich bekam ein paar Spritzer manische Spucke ab. Ich zuckte etwas mehr zusammen, als ich es vielleicht noch vor einigen Jahren getan hätte, denn der Nachhall der Corona-Pandemie lag allen noch immer schwer im Magen. Allerdings gab es keine Hinweise darauf, dass Hobgoblins das Virus auf Menschen übertrugen.
[Es würde mich freuen, wenn du so lang lebst, dass du diesen Status erreichst, glaub mir. Und nicht bloß, weil ich dich mag. Wenn ich die Flüche loswerde, bin ich nicht mehr auf diese App angewiesen. Dann kann ich wieder mehr als ein paar Tage oder Wochen mit Leuten reden, ohne dass sie mich hassen. Wieder mit meiner Familie zusammen sein. Und ich kann endlich einen Schüler ausbilden, der mich ersetzt, und in Ruhestand gehen. Einen Schüler, der nicht plötzlich durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird – ein Schicksal, das anscheinend auch dir droht.]
»Ach, jetzt komm, da muss es doch einfach einen Ausweg geben!«
[Mehrere sogar.]
»Wie viele sind mehrere gleich wieder?«
[Mehr als zwei, glaube ich, aber weniger als ein halbes Dutzend.]
»Drei bis fünf also. Dann mal raus damit, Alter.«
[Erstens, ich könnte sterben. Da muss ich ganz ehrlich sein, diesen Ausweg finde ich am schlechtesten.]
»Verstehe.«
[Zweitens, die Person, die mich mit den Flüchen belegt hat, stirbt. Das gefällt mir viel besser, aber dummerweise weiß ich ja nicht, wer mir das angetan hat. BRIGHID meint, es könnte jemand mit göttlichen Fähigkeiten sein. Das heißt, selbst wenn wir rauskriegen, wer es ist, sind wir vielleicht nicht in der Lage, ihn oder sie zu töten.]
»Das is’ ’ne bittere Wahrheit. Wie Fastfood-Kaffee ohne Sahne und Zucker.«
[Drittens, du kündigst den Vertrag und scheidest aus meinem Dienst aus. Das ist allerdings mit Risiken verbunden.]
»Was für Risiken?«
[Der Fluch könnte trotzdem wirken, weil du ihm schon ausgesetzt warst. Das kann man einfach nicht vorhersagen. Außerdem müsstest du, wenn ich dich aus dem Vertrag entlasse, ins Feengefilde zurückkehren, außer du kommst irgendwo anders unter. Und da wirst du Schwierigkeiten haben. Kann mir nicht vorstellen, dass einer von den anderen Siegelagenten auf einen Hobgoblin scharf ist.]
»Warte, Moment mal. Bei dem Typen in Philadelphia – Eli Dingsbums – hast du sicher recht, er hat ja deutlich gesagt, dass er mit Hobgoblins nix anfangen kann. Außerdem hat er seinem Köter erlaubt, dass er mein Bein bespringt, wie ich weggetreten war, und sogar noch Fotos gemacht. Was is’ mit den anderen?«
[Für Diego zählt vor allem sein gutes Aussehen. Er hat seine persönliche Ausstrahlung und möchte nicht, dass die Leute von seiner Anziehungskraft abgelenkt werden. Shu-hua vermeidet die Gesellschaft von Männern, und Mei-ling ist so alt, dass sie mich mit meinen dreiundsechzig für jung und unbesonnen hält. Nein, da sehe ich keine Möglichkeit. Ich bin der Einzige, der so bekloppt ist, dass er einen Hobgoblin in Dienst nimmt.]
Laut ausgesprochen, versetzten mir meine eigenen Worte – dass ich bekloppt war – einen unerwarteten Stich. Oder rissen vielmehr den Verband von einer noch nicht verheilten Wunde. Dass ich das Wesen des zweiten auf mir lastenden Fluchs erst so spät entdeckt und von den kriminellen Machenschaften meines Schülers nicht das Geringste geahnt hatte, machte mir nach wie vor schwer zu schaffen. In meinem Alter hätte ich einfach etwas mehr Durchblick haben müssen.
»Und das sind wirklich alle Optionen?«, fragte Buck. »Ich bin am Ende, wie ein entgräteter Fisch am Freitag?«
Die Versuchung, ihn ein wenig aufzuziehen, war einfach zu groß. [Na ja, die vierte Möglichkeit ist, dass du ganz ohne Beteiligung des Fluchs stirbst. Dann wärst du deine Sorgen auf einen Schlag los.]
»Oh-oh.« Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen und schüttelte den Kopf. »Hoh-ho-hoooh. Meine Rache an dir wird furchtbar sein, MacBharrais. Sie wird in die Analen der Geschichte eingehen, ja, das wird sie, als gewisperte Warnung an winzige Menschenwürmer …«
[Ich glaube, du meinst Annalen. Das zusätzliche N macht einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied.]
»Unterbrich mich nich’! Die Analen der Geschichte sind genau, was ich meine!«
[So was gibt’s doch gar nicht.]
»Das wirst du schon sehen! Mich in Dienst nehmen und zwei Monate später damit rausrücken, dass ich krepieren werde wie ein aufgeblasener Frosch? Für so einen Kack passt nur ein Begriff: die Analen!«
[Na schön. Aber konzentrieren wir uns lieber auf die Frage, wie wir das Problem lösen können.]
»Ich dachte, du sagst, es gibt keine Lösung, die uns ernsthaft weiterhilft.«
[Wir haben ein Jahr Zeit, um daran zu arbeiten. Alle Schüler haben mindestens ein Jahr durchgehalten, bevor sie ein Unfall ereilt hat. Wenn wir rausfinden, wer mich verflucht hat, fällt uns vielleicht was Brauchbares ein.]
»Wie lang lebst du denn schon damit? Elf Jahre? Wie kommst du auf die Idee, dass du das jetzt auf einmal geregelt kriegst?«
[Ich bin entsprechend motiviert. Von dem zweiten Fluch, der meine Schüler dahinrafft, habe ich ja erst durch BRIGHID erfahren. Solange ich der Meinung war, dass ich als Einziger leide, konnte ich damit leben, schließlich bin ich Schotte. Jetzt hat sich die Lage geändert, weil es um Rache – oder zumindest Gerechtigkeit – für meine Schüler geht. Und natürlich um deine Rettung.]
Seufzend sackte der Hobgoblin in sich zusammen. »Götter der Unterwelt, jetzt brauch ich ein Bier. Willst du auch eins?«
Auf mein Nicken hin hüpfte er von der Arbeitsfläche und verschwand. Die Kühlschranktür öffnete sich, und mit einem geschickten Sprung angelte er sich einen Krug gestohlenes Ale. Nach einigen weiteren Sätzen durch die Küche hatte er zwei Pints für uns bereitgestellt. Er stand auf dem...




