E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Reihe: textura
Große Reportagen
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Reihe: textura
ISBN: 978-3-406-70529-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturgeschichte und Literaturkritik
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literarische Stoffe, Motive und Themen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Asiatische Geschichte
Weitere Infos & Material
EINE RECHT WUNDERSAME BEGEGNUNG
Erinnerungen einer Geisterseherin, das Ergebnis einer Plauderei auf der Küchentreppe «Man sagt zwar, die Toten kämen nicht zurück», bemerkte sie gedankenverloren, «aber was habe ich für eigentümliche Dinge gesehen!» Sie war ein gesundes, gut gebautes Mädchen vom Lande, das auch der kritischste Geist hätte hübsch nennen müssen; robust und rotwangig trotz des harten Lebens in der Küche eines Fremdenheims, aber mit einem eigentümlich nachdenklichen Ausdruck in den großen, dunklen Augen, so als verfolge sie jemandes Bewegungen, der keinen Schatten warf und für alle anderen unsichtbar war. Spiritualisten bezeichneten sie gern als starkes «Medium», ihr gefiel es aber, was merkwürdig war, ganz und gar nicht, als solches betrachtet zu werden. Lesen oder Schreiben hatte sie nie gelernt, verfügte aber dennoch von Natur aus über einen wunderbar reichen Wortschatz, ein über das Gewöhnliche hinausgehendes, lebhaftes Erinnerungsvermögen und eine Begabung zur Konversation, die selbst einen italienischen Improvvisatore begeistert hätte. All dies erfuhren wir im Verlauf einer halben Stunde der Muße, die wir eines Sommerabends auf der Küchentreppe in ihrer Gesellschaft verbrachten, während die Gäste im Mondlicht auf der Veranda saßen und die Lampe in der Diele für zuckende Schatten in den glänzend gebohnerten Korridoren sorgte und die hungrigen Ratten im dunklen Speisezimmer quiekend Karneval feierten. Der seltsamen Ernsthaftigkeit der Erzählerin, der Melodie ihrer leisen, sanften Stimme und dem packenden Charme des Gesprächs auch nur ansatzweise gerecht zu werden, sollten wir gar nicht erst versuchen, genauso wenig, wie ihre mysteriöse Geschichte Wort für Wort nachzuerzählen. Stattdessen aber sollten wir dem Leser jene Eindrücke davon schildern, die dem Schriftsteller im Gedächtnis geblieben sind. «Beim ersten Mal, als ich Geistermenschen sah», sagte sie, «war ich noch recht klein. Es war in Bracken County, Kentucky, auf einer Farm zwischen Dover und Augusta – ungefähr auf halber Strecke zwischen den Städten –, denn ich erinnere mich an einen riesig großen Stein, der gleich bei der Farm an der Straße lag, der ‹Half-way Stone› genannt wurde und in den ein großes H gemeißelt war. Das Farmhaus stand ein Stück weit vom Fluss entfernt, ganz für sich allein, zwischen Wäldern mit Buchen und Zuckerahorn, und es war eines der merkwürdigsten alten Gebäude, das man sich nur vorstellen kann. Es war gebaut worden, bevor man im Westen Nägel verwendete, man kann sich also denken, wie alt es war, und ich habe gehört, dass sich die Familie, die es ursprünglich gebaut hat, erbitterte Kämpfe mit den Indianern geliefert hatte. Vor dem Haus verlief eine steinige Straße voller Furchen und Schlammlöcher. Dahinter lag ein riesiger Garten mit Apfelbäumen, die aber nur wenige Äpfel trugen, weil sich niemand um die Bäume kümmerte. Dicke schleimige Kriechpflanzen hatten sie überwuchert und stranguliert, und auch die Pfade waren beinahe vollständig mit hohem Unkraut und üppigem Gras überwuchert. In einigen der Bäume lebten Eulen, aber die Familie hatte offenbar Angst, sie zu erschießen. Am Ende des Obstgartens klaffte ein großer, tiefer Brunnen, seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Katzen, Hunde und Hasen hatten in dem übelriechenden schwarzen Wasser ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die Steine waren grün von Moos und Schleim, und auch der Eimer war mit Moos bedeckt, und große schwarze Schlangen, die in Löchern in den Brunnenwänden lebten, krochen an sonnigen Tagen hervor und blinzelten mit ihren bösen, blanken Augen in Richtung Haus. Dieser Brunnen befand sich am Eingang einer tiefen Mulde, überwuchert mit Holunderbüschen und diesen Kriechpflanzen, die man einfach nicht totkriegt, und dort lebten Wassermokassinottern, Strumpfbandnattern und Kupferkopfschlangen. Nahe der Mulde, auf der anderen Seite, floss das Wasser eines klaren ‹Seitenarms› in einem sanft-blauen Bett aus Tonerde, die wir zu ‹Tafelstiften› rollten oder aus der wir Schlammkuchen backten. Einmal wollten wir einen kleinen Mühlenweier bauen, um dort ein paar Gänse zu ertränken, und fanden beim Graben mit der Rodehacke in der blauen Tonerde vier große mexikanische Dollar, die dort verbuddelt waren. Wir wussten damals nicht, was das war, und brachten sie deshalb zum Farmhaus, wo man sie uns wegnahm. Kurze Zeit darauf kamen zwei Männer und kauften das Stück Land, wo wir das Geld gefunden hatten, und fingen an zu graben. Aber nie wieder wurde dort etwas gefunden. Das Farmhaus sah aus, als wäre es schon hundert Jahre alt, aber die, die es gebaut hatten, hatten es gut und stabil gebaut, denn vom Dach bis zum Fundament war es tadellos in Ordnung. Viele der großen Bäume im Obstgarten, die sie gepflanzt hatten, waren verrottet und abgestorben, und die Rinde schälte sich über Nestern von Asseln, die sich darunter verborgen hatten. Das alte Haus aber stand noch immer stabil da. Es besaß eine sehr merkwürdige, antiquierte Konstruktion mit gespenstisch aussehenden Giebeln und massiven Kalksteinkaminen, die an beiden Enden emporragten. Es gab vier große Zimmer, zwei oben und zwei unten, und eine kleine Küche, einen Anbau, der einen fünften Raum hinzufügte. Es gab fünf altmodische Türen aus schweren Brettern und acht oder zehn schmale Fenster mit jeder Menge kleiner Glasscheiben darin. Das Haus war aus schweren Sarsaparilla-Stämmen gefertigt, die Fußböden aus Schwarznuss und die Wände mit Blau-Esche verkleidet. Es gab keine Regale, bloß Aussparungen in den Wänden – kleine, quadratische Aussparungen, wo Bücher und kleine Gegenstände aufbewahrt wurden. Die Schindeln waren mit hölzernen Zapfen auf dem Dach fixiert und die Dielenböden mit den Bohlen verpflockt. Im ersten Stock war im südlichen Zimmer zwischen den Dielen und den Bohlen eine alte Muskete aus Revolutionszeiten in der Wand versteckt. Das Nordzimmer, gleich daneben, ist nie bewohnt gewesen. Ich erinnere mich gut an diesen Raum, denn die Tür stand häufig offen, auch wenn ihn niemand aus der Familie mehr betreten hatte, seit eine alte Dame namens Frankie Boyd dort, Jahre zuvor, an Schwindsucht gestorben war. Sie hatte lange durchgehalten und schrecklich viel gehustet und immer an die Wand neben dem Bett gespuckt. Das Bett war ein altmodisches Möbel, noch mit hohen Pfosten, und auch alle anderen Möbelstücke waren altmodisch. Es gab da eine altmodische Wäschetruhe mit Beinen, einen altmodischen Schaukelstuhl mit riesigen schweren Kufen und ein altmodisches Spinnrad. Eines ihrer alten Kleider, ein schwarzes, hing noch immer an der Wand, wo sie es, nachdem sie es zum letzten Mal ausgezogen hatte, aufgehängt hatte. Aber es war so stark gealtert und mottenzerfressen, dass es bei Berührung zerfallen wäre wie verbranntes Papier. Der Fußboden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, so dick, dass man Fußspuren darin hinterlassen hätte, und die Fenster gelb wie Pergament, so dringend hätten sie eine Reinigung gebraucht. Man erzählt sich, die alte Dame sei ständig in dem Zimmer hin- und hergelaufen und niemand könne dort schlafen. Türen öffneten und schlössen sich wie von Geisterhand, und die Nacht über habe man im ganzen Hause das Schaukeln des Schaukelstuhls und das Surren des Spinnrads gehört. Deshalb ist nie jemand in dieses Zimmer gegangen. Aber der Geist von Frankie Boyd war nicht der einzige Geist dort. Das Haus hatte einmal der Paddy-Familie gehört, und Lee Paddy, der ‹alte Mann›, und all seine Kinder waren in dem Raum gestorben, der, als ich dort war, als Küche genutzt wurde, und in dem Familiengrab auf der Nordseite des Hauses beigesetzt worden, im Schatten einer großen Robinie. Nach Frankie Boyds Tod fiel das Haus in die Hände ihres Neffen, eines Mannes namens Bean aus Lewis County, der einen reichen Vater hatte, einen naturwissenschaftlich interessierten alten Herrn. Vater und Sohn waren beide schräge Vögel, und einmal hätte die Exzentrik des Alten Mr Bean beinahe das Leben gekostet. Jemand hatte auf dem Gelände eine riesenhafte Wassermokassinotter getötet, und der naturwissenschaftlich interessierte Mr Bean hatte sie so zum Abendessen zubereitet, wie man einen Lachs zubereiten würde. Dann lud er sich einen freundlichen Nachbarn ein, der mit ihm speisen sollte. Man erzählt sich, der Nachbar sei von dem Mahl begeistert gewesen und habe erklärt, niemals zuvor besseren Lachs gegessen zu haben. Aber als der alte Bean ihm steckte, er habe soeben eine Wassermokassinotter verspeist, die John tags zuvor am Morgen erlegt habe, brachte der Schock den Nachbarn beinahe um, und dieser taumelte nach Hause, um seine Schrotflinte zu holen. Bean habe sich danach wochenlang nicht aus dem Haus getraut. Nach Frankie Boyds Tod wurde das alte Farmhaus in Bracken...