Healey Elizabeth wird vermisst
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5301-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-8387-5301-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
EINE ANRÜHRENDE GESCHICHTE ÜBER VERLUST UND VERGESSEN - EMMA HEALEY TRIFFT MITTEN INS HERZ! Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen keiner mehr glaubt? Und Sie nicht mehr sicher sind, ob Sie sich selbst noch glauben können? Genauso ergeht es Maud, die an Alzheimer leidet und die ihre Freundin vermisst. In diesem faszinierenden Roman machen wir uns gemeinsam mit Maud auf die Suche nach der verschwundenen Elizabeth und erleben dabei hautnah, wie hilflos und verletzlich Maud sich selbst und ihrer Umwelt gegenübersteht. Mit überwältigender Intensität und Emotionalität schafft es die erst 28-jährige Autorin, eine völlig neue Sicht auf Alter und Alzheimer zu eröffnen.
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1 »Haben Sie schon gehört, dass hier in der Nähe eine alte Frau überfallen und ausgeraubt wurde?«, fragt Carla, und ihr langer schwarzer Pferdeschwanz schlängelt sich über ihre Schulter. »Na ja, eigentlich war das in Weymouth, aber es hätte genauso gut hier sein können. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Als man sie gefunden hat, war ihr halbes Gesicht eingeschlagen.« Letzteres sagt sie mit gedämpfter Stimme, aber mit dem Hören hatte ich noch nie Probleme. Ich wünschte, Carla würde mir diese Dinge nicht erzählen. Sie hinterlassen immer ein ungutes Gefühl, und das auch noch lange, nachdem ich die Geschichten selbst längst vergessen habe. Ich schaudere und schaue zum Fenster hinaus. Mir will einfach nicht einfallen, in welcher Richtung Weymouth liegt. Ein Vogel fliegt vorbei. »Habe ich eigentlich genügend Eier?« »Jede Menge. Sie müssen heute also nicht mehr raus.« Carla greift nach der Patientenakte, nickt mir zu und schaut mir in die Augen, bis ich das Nicken erwidere. Ich komme mir vor wie in der Schule. Gerade war da noch was in meinem Kopf, eine Geschichte, aber jetzt habe ich den Faden verloren. Es war einmal … Hat sie so begonnen? Es war einmal in einem tiefen dunklen Wald. Dort lebte eine alte, alte Frau mit Namen Maud. Keine Ahnung, wie es weitergehen könnte. Vielleicht irgendetwas mit ihrer Tochter, die sie besuchen kommt … vielleicht. Schade, dass ich nicht in einem netten kleinen Häuschen im tiefen dunklen Wald lebe. Das könnte ich mir gut vorstellen. Und meine Enkelin könnte mir das Essen in einem Korb bringen. Irgendwo im Haus knallt etwas, und mein Blick springt unruhig durchs Wohnzimmer. Da ist ein Tier, ein Tier, das man draußen trägt, und es liegt auf der Sofalehne. Es ist Carlas. Sie hängt es nie auf. Vermutlich hat sie Angst, es zu vergessen. Ich kann einfach nicht anders. Ich muss es anstarren. Gleich wird es sich bewegen. Das weiß ich. Es wird in eine Ecke huschen oder mich auffressen und meinen Platz einnehmen. Und Katy wird eine Bemerkung über seine großen Augen und seine großen Zähne machen müssen. »All diese Dosen mit Pfirsichen!«, ruft Carla aus der Küche. Carla, die Pflegekraft, denn »Pflegekraft« nennt man sie heute. »Sie dürfen nicht mehr so viel zu essen kaufen!«, ruft sie. Ich höre das Schaben von Dosen auf meiner Resopal-Arbeitsplatte. »Das reicht ja für eine ganze Armee!« Genug Essen. Man kann nie genug im Haus haben. Das meiste davon verschwindet sowieso, nachdem ich es gekauft habe, und taucht nie wieder auf. Ich weiß nicht, wer das alles isst. Meine Tochter redet genauso. »Keine Dosen mehr, Mum«, sagt sie und kontrolliert bei jeder Gelegenheit meine Schränke. Offenbar muss sie jemanden durchfüttern. Die Hälfte des Zeugs verschwindet mit ihr nach Hause, und dann wundert sie sich, wenn ich wieder einkaufen gehen muss. Aber was soll’s? Es ist ja nicht so, als hätte ich sonst noch viel Freude in meinem Leben. »Es ist ja nicht so, als hätte ich sonst noch viel Freude«, sage ich und richte mich im Sessel auf, damit meine Stimme bis in die Küche trägt. Glänzendes Schokoladenpapier klemmt in den Ritzen des Sessels. Es windet sich an den Kissen, und ich schnippe es weg. Patrick, mein Mann, hat immer mit mir geschimpft, wenn ich Süßigkeiten gegessen habe. Und daheim habe ich viel davon gegessen. Es war einfach nett, mir eine Zitronen-Brause und ein Karamelltoffee zu gönnen, wenn ich Lust darauf hatte, denn in der Vermittlung durften wir das nicht. Niemand will schließlich mit einer Telefonistin sprechen, die den Mund voll hat. Aber Patrick hat immer gesagt, ich würde mir damit die Zähne ruinieren. Pfefferminzbonbons waren unser Kompromiss, und ich mag sie immer noch, auch wenn mich heute niemand mehr davon abhält, eine ganze Schachtel Pralinen zu verschlingen, wenn mir danach ist. Wenn ich will, kann ich schon morgens damit anfangen. Es ist Morgen. Ich weiß das, weil die Sonne auf das Vogelhäuschen scheint. Morgens scheint sie auf das Vogelhäuschen und abends auf die Kiefer. Ich muss noch einen ganzen Tag überstehen, bis die Sonnenstrahlen den Baum erreichen. Carla kommt halb geduckt ins Wohnzimmer und sammelt das Schokoladenpapier vom Boden auf. »Ich wusste ja gar nicht, dass du hier bist, meine Liebe«, sage ich. »Ich habe Ihr Mittagessen vorbereitet.« Sie zieht ihre Latexhandschuhe aus. »Es steht im Kühlschrank, und ich habe einen Zettel darangeklebt. Jetzt haben wir zwanzig vor neun. Bitte, versuchen Sie, es nicht vor zwölf zu essen, okay?« Sie redet, als würde ich jedes Mal alles sofort verschlingen, kaum dass sie das Haus verlassen hat. »Ich gehe jetzt«, sagt sie. »Später kommt dann Helen, okay? Bye.« Die Haustür fällt ins Schloss, und ich höre, wie Carla hinter sich abschließt. Sie sperrt mich ein. Ich schaue ihr durchs Fenster hinterher. Sie trägt einen mit Fell abgesetzten Mantel über ihrer Dienstkleidung. Eine Pflegekraft im Wolfspelz. Als ich noch ein junges Mädchen war, wäre ich froh gewesen, das Haus für mich allein zu haben. Dann hätte ich die Speisekammer geplündert, meine besten Kleider angezogen, das Grammophon eingeschaltet und mich auf den Boden gelegt. Doch jetzt wäre mir Gesellschaft lieber. Das Licht brennt noch, und als ich zum Kühlschrank gehe und nachsehe, was Carla mir zum Mittagessen dagelassen hat, sieht die Küche wie ein verlassenes Bühnenbild aus. Fast rechne ich damit, dass jemand hereinkommt, meine Mutter mit ihren Einkäufen oder mein Dad mit massenweise Fish & Chips, und irgendetwas Dramatisches sagt, wie in einem Theaterstück. Dad würde sagen: »Deine Schwester ist fort«, gefolgt von einem Trommelwirbel, einem Tusch oder so etwas, und Ma würde sagen: »Für immer«, und dann würden wir einander um der dramatischen Wirkung willen anstarren. Ich hole einen Teller aus dem Kühlschrank und frage mich, was wohl mein Text sein würde. An dem Teller klebt ein Zettel: »Mittagessen für Maud. Erst nach 12.00 Uhr essen.« Ich reiße den Zettel ab. Es ist ein Käse-Tomaten-Sandwich. Als ich mit dem Essen fertig bin, wandere ich ins Wohnzimmer zurück. Es ist so still hier. Noch nicht einmal meine Uhr tickt sonderlich laut. Aber sie zeigt die Zeit an, und ich schaue zu, wie die Zeiger sich langsam drehen. Der Tag hat noch viele Stunden, die ich irgendwie füllen muss, und irgendwann muss ich auch den Fernseher einschalten. Gerade läuft eines dieser Sofa-Programme. Zwei Leute auf einem Sofa beugen sich zu einer Person auf dem gegenüberliegenden Sofa hinüber. Sie lächeln und schütteln die Köpfe, und schließlich bricht die Person, die alleine auf dem Sofa sitzt, in Tränen aus. Ich bekomme einfach nicht heraus, worum es geht. Anschließend läuft eine Sendung, in der Leute von einem Haus zum anderen rennen und nach Dingen suchen, die sie verkaufen können. Nach diesen hässlichen Dingen, die überraschend wertvoll sind. Vor ein paar Jahren hätte ich mich noch für mich selbst geschämt. Fernsehen am helllichten Tag! Aber was soll ich sonst tun? Manchmal lese ich, doch die Geschichten ergeben keinen Sinn mehr, und ich kann mich nie daran erinnern, wo ich aufgehört habe. Und ich kann ein Ei kochen. Ich kann ein Ei essen. Und ich kann fernsehen. Ansonsten warte ich nur noch: auf Carla, auf Helen, auf Elizabeth. Elizabeth ist die einzige Freundin, die mir noch geblieben ist. Alle anderen sind entweder im Heim oder unter der Erde. Sie ist ein großer Fan dieser Rumlaufen-und-Sachen-verkaufen-Shows, und sie hofft, eines Tages selbst einen unentdeckten Schatz zu finden. Sie kauft immer alle möglichen furchtbaren Teller und Vasen in den Secondhandläden der Wohlfahrt und spekuliert darauf, mit einem davon ein Vermögen zu verdienen. Manchmal kaufe ich auch etwas für sie, grellbuntes Porzellan zumeist. Das ist eine Art Spiel zwischen uns: Wer findet bei Oxfam die hässlichste Töpferware? Das ist zwar kindisch, doch nur wenn ich mit Elizabeth zusammen bin und mit ihr lache, bin ich ich selbst. Ich glaube, da gibt es etwas in Bezug auf Elizabeth, an das ich mich erinnern müsste. Vielleicht wollte sie, dass ich ihr etwas besorge. Ein gekochtes Ei oder Schokolade. Dieser Kerl, der sich ihr Sohn schimpft, gönnt ihr nur Notrationen. Er gibt noch nicht einmal Geld für neue Rasierklingen aus. Elizabeth erzählt immer, wie rau seine Haut vom Rasieren ist, und sie hat Angst, dass er sich eines Tages die Kehle durchschneidet. Manchmal wünschte ich, das würde er. Dieser Geizkragen. Würde ich ihr nicht dann und wann etwas zustecken, sie wäre schon längst verhungert. Ich habe da einen Zettel, auf dem steht, dass ich nicht rausgehen soll, aber ich weiß nicht, warum. Ein kleiner Spaziergang zum Laden kann ja wohl kaum schaden. Ich schreibe eine Einkaufsliste, bevor ich mir Mantel und Hut anziehe und die Schlüssel in die Tasche stecke. Ich stecke sie immer in die rechte Tasche, und an der Tür überprüfe ich das noch mal. Überall auf dem Bürgersteig sind weiße Flecken, dort, wo in der Nacht die Schnecken plattgetreten wurden. Nach einem verregneten Abend gibt es in dieser Straße immer Hunderte von Opfern. Wie entstehen diese Flecken eigentlich?, überlege ich. Welcher Teil der Schnecke macht sie weiß? »›Erbleiche nicht, geliebte Schnecke‹«, sage ich und beuge mich so weit vor, wie ich es wage, um mir das genauer anzusehen. Mir will einfach nicht einfallen, woher dieses Zitat stammt, aber es geht vermutlich um genau dieses Phänomen. Ich darf nicht vergessen, das nachzuschlagen, wenn ich wieder zu Hause bin. Der Laden ist nicht weit entfernt, aber ich bin erschöpft, als ich dort ankomme. Aus irgendeinem Grund biege ich immer falsch ab und muss dann wieder um den ganzen Block. Ich fühle mich wie bei Kriegsende. Damals habe ich mich auch oft...