E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Hayes Zhoh
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7844-8397-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Wolfsclan
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8397-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bob Hayes erzählt vom Schicksal dreier junger Menschen in der kanadischen Tundra am Ende der letzten Eiszeit. Durch dramatische Ereignisse haben Kasan, Naali und Barik ihre Clans – Zhoh, den Wolfsclan, und Shii, den Bärenclan – verloren. Der erbarmungslosen Natur, dem Hunger und der unerbittlichen Kälte ausgesetzt, kämpfen die drei ums Überleben und gegen die wachsende Eifersucht und das Misstrauen untereinander. Ohne Naali, die Seherin, die mit den Tieren sprechen kann, wären sie längst verloren ... Der Roman des kanadischen Wolfsforschers Bob Hayes fasziniert mit authentischen Natur- und Tierschilderungen und einem absolut glaubwürdigen Abenteuer aus längst vergangenen Zeiten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
KHAII: DIE DUNKLEN TAGE
Das Langnasen-Lager
Die Menschen wanderten langsam über die düstere Ebene, durch ein Labyrinth aus nackter Erde und verwehtem Schnee. Es war Mittag, die arktische Sonne stand unter dem Horizont, schuf nur ein Zwielicht aus blassem Blau und mattem Rosa. Schnee fiel in dichten Schleiern, man sah kaum die Hand vor Augen. Der Junge war genauso erschöpft wie der Rest der Gruppe. Er spähte durch das Schneetreiben zu den Gestalten vor ihm.
Kasan ging am Ende der Reihe, sollte darauf achten, dass niemand zurückfiel oder im Schneesturm verloren ging. Er war dreizehn Sommer alt und überragte schon alle Männer außer seinem Vater. Dank seiner schlanken Gestalt kam der Junge etwas leichter durch den Schnee als die kleinen, stämmigen Jäger. Ansonsten sah er aus wie der Rest: Hohe, starke Jochbeine rahmten sein herzförmiges Gesicht. Seine Nase war breit und flach, die Augen braun und halb verdeckt von störrischem, schwarzem Haar.
Eine Böe heulte, Schnee stach ihm in die Augen. Kasan barg sein Gesicht im Wolfspelz seiner Kapuze. Er trug einen Karibuparka mit dem Fell nach innen. So wärmte er am besten. Seine weißen Schaffellhosen waren fleckig und an den Knien vom Schneesturm blankgescheuert. Die Stiefel aus Rentierhaut hatte er sich mit Bändern um die Waden gewickelt. Trotz der Fellschichten drang die Kälte in seinen Körper. Er musste sich bewegen, um warm zu bleiben. Als der Wind sich legte, nahm Kasan die Kapuze ab. Durch treibende Flocken sah er seinen Vater Khon, der den Packschlitten an einem langen Geschirr zog.
Auch Khon streifte seine Kapuze zurück und lockerte den Zugriemen. Er war groß und kräftig, aber an diesem Tag fühlte er sich alt und müde. Er war Khehkai – Anführer – und wie alle anderen hungerte er. Hinter ihm lehnten vier Männer gegen den Schlitten. Ihre Zugriemen hingen locker. Am Morgen hatten sie den Weg gespurt und dabei gejagt. Als es zu schneien begann, waren sie zurückgegangen und hatten den Frauen geholfen, den schweren Schlitten zu ziehen.
Chii Tsal beobachtete seinen Bruder Khon, bereit, sich in den Riemen zu legen, wenn er das Signal gab. Neben ihm standen die drei jüngsten und stärksten Männer mit gesenkten Köpfen und schnappten nach Luft. Hinter dem Schlitten kamen vier Frauen heran. Zwei trugen in Schaffelle gewickelte Babys. Karun, Chii Tsals Frau, trug kein Kind. Als Khon sie ansah, wurde er traurig. Sie starrte in den fallenden Schnee. Karuns Tochter war vor zwei Nächten gestorben. Sie und Chii Tsal hatten den kleinen Körper in Hasenfell gewickelt, auf den gefrorenen Boden gelegt und mit Schnee bedeckt. Chii Tsal hatte ein Geweihstück neben das tote Kind gelegt, damit es in der Geisterwelt Grasfresser erkennen konnte. Ein wenig Ocker auf dem Geweih sollte seinem Geist Glück bringen. Nach dem Begräbnis hatte sich der Clan wortlos auf den Weg gemacht. Keiner sah zurück, und niemand nannte je wieder den Namen der Toten. Ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern sterben. Das erschütterte die Ordnung der Geister und war ein schlechtes Omen. Sie hatten das Kind mit einem hohen Schneehügel bedeckt, aber Khon wusste, dass die Raubtiere es noch vor dem Frühling finden würden. Der Tod jedes Kindes grämte ihn, aber Mädchen waren die Zukunft des Clans.
Ist der Tod des Kindes ein Vorzeichen für das Ende unserer Leute?
Khon sah sich um. Tarin, Danach’I’ – der Alte Mann – hinkte am Stock. Eyak, Shanaghàn – die Alte Frau – folgte ein paar Schritte hinter ihm. Sie umklammerte einen geschwärzten Vielfraßschädel, in dem eine Weidenwurzel glomm. Khon sah, wie Eyak Holzschnitzel in den Feuertopf füllte. Vorsichtig blies sie auf die schwelenden Kohlen, bis sie Feuer fingen. Ein Rauchfähnchen stieg über ihr auf und mischte sich mit den Schneeflocken, die aus dem grauen Himmel fielen.
Assan, Khons erste Frau, ging hinter Eyak. Ihr folgten ihre Tochter So’tsal und Khons zweite Frau Dèzhòo. Aron und Korya, die Kinder von Chii Tsal und Karun, trotteten ein paar Schritte hinterher. Ihre kurzen Beine kämpften sich durch den Tiefschnee. Khons Sohn Kasan war der Letzte in der Reihe. Er hob seinen Vetter Aron über eine Schneewehe und setzte ihn sanft zurück in die Spur.
Erleichtert, dass alle da waren, wandte Khon sich wieder dem Schlitten zu. Mit geübtem Auge prüfte er die schwere Last, die mit dicken Rohlederriemen festgezurrt war. Oben auf der Ladung lagen lange Weidenpfähle für die beiden Zelte sowie Speere und Wurfpfeile. In die Zelthäute war der weltliche Besitz des Wolfsclans eingewickelt: Bettzeug aus Pelz, Kleider, Feuersteinklingen, Knochenwerkzeug, Schaber, Schädeltassen, Flechtkörbe, Stichel, Skalpelle, Hammersteine, Steinspitzen, Blasen, Zeltbodenhäute, Netze aus Weidenwurzeln, Rohlederschlingen, Ahlen und Knochennadeln, getrocknete Heilkräuter in Beuteln, Bärenblasen voller Knochenfett, Mammutelfenbein und Geweihe für Speere, gedörrte Beeren und der letzte, fast leere Beutel mit Trockenfleisch.
Khon drehte sich um, stemmte sich in den Zugriemen und schwenkte den Arm. Auf geschmeidiger Elchhaut glitt der schwere Schlitten voran. Khon sah in den grauen Horizont. Er stellte sich vor, wie das Tiefland im Sommer aussah: die Sonne hoch am Himmel, Herden von Karibus, Bisons, Mammuts, Pferden und Hirschen. Bunte Teppiche aus Tundrablumen. Vögel sangen und überall schwätzten Erdhörnchen. Der blaue Himmel voller Gänse, Schwäne, Enten. Shin – Sommer. Die Zeit, neugeborene Tiere zu jagen. Shin – wenn die Grasfresser fett wurden und der Wolfsclan stark.
Aber es war kein Sommer. Es war Khaii, die Zeit der Dunklen Tage. Die Wintersonne war unter den Horizont gerutscht und würde dort einen Mond lang bleiben. Das gefrorene Tiefland lag dunkel und leer vor ihm – so leer wie Khons eingefallener Bauch. Die Öde war beängstigend. Es war, als habe sich die Welt entleert. Sie waren seit einem Mond unterwegs und hatten noch kein Tier gesehen, das größer war als ein Hase.
Der Schlitten kroch vorwärts. Khons Stiefel stampften durch den Schnee. Er hörte die Erschöpfung in seiner Stimme. »Zieht … zieht.«
Eine Windböe trieb ihm Schnee in die Augen. Er barg sein Gesicht in der Kapuze und wartete, bis die Böe abflaute, rieb mit den Fäustlingen seine eisigen Wangen. Seine Nase war wie so oft so kalt, dass er sie nicht mehr spürte. Er atmete vorsichtig ein, testete die Kälte der Luft.
Zu kalt zum Reisen.
Aber sie hatten keine Wahl. Sie mussten Grasfresser finden, wenn sie nicht verhungern wollten.
Plötzlich hielt Khon an. Eine riesige Gestalt tauchte in den Schneeschleiern auf. Er fiel auf die Knie und winkte die anderen runter. Die Männer legten die Zügel ab, griffen zu den Speeren und krochen zu ihm.
»Langnase«, flüsterte Khon. Er wies ins Weiße. Sie rochen den Tod in der Luft.
Als die Sicht für einen Moment besser wurde, sahen sie in einer Schneewehe den Kadaver eines Mammutbullen. Er lag auf der Seite, sein Kopf ruhte auf langen, gebogenen Stoßzähnen. Die Männer krochen voran, stießen ihre Speere in die Flanken des Bullen. Khon strich den Schnee von den mehr als mannslangen Stoßzähnen. Er dachte an all die Jagdspitzen, das Nähzeug und die Vorderschäfte, die sie aus dem Elfenbein herstellen konnten.
Der Anführer drehte sich um und winkte Kasan. Mit der Hand machte er eine schneidende Bewegung. Sein Sohn stapfte zum Schlitten, zog seine Handschuhe aus und löste die Riemen. Er kramte in der Ladung, fand einen kleinen Ledersack und brachte ihn seinem Vater. Khon nahm handgroße Abschläge aus Obsidian heraus und verteilte sie an die Männer. Sie schnitten durch das armlange Mammuthaar, zogen die Haut ab und legten das rosafarbene Fleisch frei. Kasan hätte gern mitgemacht, aber er war noch kein Jäger. Bevor er nicht seinen ersten Grasfresser erlegt hatte, durfte er nur zuschauen – und lernen.
Khon hielt seine Nase nahe an das Mammutfleisch und schüttelte enttäuscht den Kopf. Chii Tsal roch als Nächster daran. »Verdorben«, sagte er knapp.
Einer nach dem anderen schnupperte an dem Fleisch und schüttelte den Kopf. Das lange Haar und die dicke Haut hatten das Mammutfleisch zu lange warm gehalten, nachdem das Tier gestorben war.
Khon kletterte auf die Stoßzähne und häutete den Nacken, wo das Fleisch im Wind schneller erkaltet war. Es war nicht sonderlich frisch, roch aber noch nicht schlecht. Die Männer folgten Khon auf den riesigen Schädel, die Frauen und Kinder standen daneben und sahen zu. Khon schnitt eine Scheibe Fleisch ab und kostete es. Er nickte, zeigte auf den Nacken und grinste.
Chii Tsal klopfte ihm auf die Schulter und rief: »Es ist gut!« Dann sprang er herunter und begann, ein Bein aufzuschneiden. Die langen Knochen würden eine Menge Fett abgeben.
Assan sah zu ihrem Mann auf und lächelte. Sie legte ihren Arm um Eyaks schmale Schultern. »Das Fleisch ist gut. Wir werden hier lagern.« Die Alte Frau lächelte still, drehte sich um und begann den Schlitten abzuladen.
Während die Männer sich ans Metzgern machten, schwärmten die Kinder aus und suchten die Gegend nach Dung fürs Feuer ab. Die Frauen bauten zwei Zelte auf, jedes groß genug für zehn Leute. Das Dach bestand aus einem Kreis gebogener Weidenstämme, die mit Karibu- und Hirschhäuten abgedeckt wurden. In der Mitte blieb ein Loch als Rauchabzug frei. Ein Rentierfell wurde vor den Eingang gehängt. Die Innenseite der Felle war mit roten und blauen Abdrücken von Adlerfedern verziert, die Säume mit Beerenpigment versiegelt. Häute verschiedener Art und Größe bedeckten den...




