Haushofer / Mittermayer | Himmel, der nirgendwo endet | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Haushofer / Mittermayer Himmel, der nirgendwo endet

Roman
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0798-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0798-5
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Einfühlsam und sehr genau beobachtend, beschreibt Marlen Haushofer die Welt aus der Sicht der kleinen Meta, die in einem Forsthaus aufwächst. Mit allen Sinnen nimmt diese ihre idyllische Umgebung in sich auf und versucht, Ordnung in das Durcheinander der Eindrücke und Ereignisse zu bringen.

Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. Sie zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autor:innen des 20. Jahrhunderts und wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Ihre Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und für Film und Theater adaptiert. 1970 starb sie in Wien.
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Das kleine Mädchen, von den Großen Meta genannt, sitzt auf dem Grund des alten Regenfasses und schaut in den Himmel. Der Himmel ist blau und sehr tief. Manchmal treibt etwas Weißes über dieses Stückchen Blau, und das ist eine Wolke. Meta liebt das Wort Wolke. Wolke ist etwas Rundes, Fröhliches und Leichtes.

Meta sitzt strafweise im Regenfaß. Sie hat die Großen bei der Heuernte gestört und geärgert. Sie ist zweieinhalb Jahre und kann nicht über den Faßrand blicken; eingefangen, festgehalten und eingesperrt zu werden ist das Schlimmste, was es gibt. Sie würgt an einem Brocken aus Schmerz und Wut, der immer wieder vom Magen in die Kehle steigt und sich nicht schlucken läßt. Ein schreckliches Unrecht ist ihr geschehen. Sie hat eine Weile gebrüllt, jetzt weint sie still vor sich hin. Die Großen sind böse. Sie wird sie einfach fortschicken. So, jetzt sind sie weit weg, und Meta will sie nie wieder sehen. Sie ist ganz allein. Ermattet vom Weinen rutscht sie zu Boden und sitzt auf Moospolstern und kleinen Steinen. Seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Es ist heiß und trocken im Faß. Das Holz ist alt und glänzt silbergrau. Es zieht die kleinen Hände an und läßt sich betasten und streicheln, bis es leise zu summen beginnt. »Mach dir nichts draus; sie werden dich schon wieder holen, die Großen. Ich bin gut und warm, du mußt dich nicht fürchten.« Meta lauscht dem Gesumm und lehnt die Wange gegen die gewölbten Bretter. Zartes rauhes Streicheln und Wärme, die unter die Haut dringt. Sie fängt an das Holz abzuschlecken; es schmeckt vertraut und ein wenig bitter. Der Brocken in ihrer Kehle löst sich, fließt zurück in den Leib und versickert. Das alte Faß ist brav und zum Liebhaben. Aus seinen Rissen, in der Glut vergangener Sommer entstanden, wachsen kleine Moospflanzen und bilden Polster für eine feuchte gekränkte Wange. Immer tiefer hinab gleitet das Kind. Jetzt liegt es auf dem Rücken. Es gibt so viel zu sehen; die eigenen bräunlichen Knie, darüber das silbrige Holz und das Fleckchen Himmel, eine tiefblaue Gasse, die nirgendwo endet. Meta reißt die Augen ganz weit auf, und die Bläue sickert in sie hinein. Das tut sie so lange, bis sie ganz dick und angeschwollen ist und der Himmel verblaßt. Dieses Spiel ist nicht ganz geheuer. Vielleicht mag der Himmel nicht, daß man ihm seine Farbe wegnimmt. Meta schließt die Augen und schickt die Bläue wieder hinauf. Das ist sehr anstrengend, und sie wird müde und leer davon. Als sie endlich die Augen aufschlägt, leuchtet der Himmel wieder tiefblau.

Meta ist ganz und gar getröstet, und immerfort wispert das alte Faß seine unverständlichen Geschichten.

Alle hundert Jahre beugt sich ein Großer, ein Riese, über den Rand, und seine Stimme klingt brummend oder kreischend in die warme Dämmerung. Je nachdem, ob es ein Mann-Riese oder eine Frau-Riese ist. Meta tun die hellen Stimmen in den Ohren weh, deshalb hat sie die Mann-Riesen lieber. Rollende Augen, vorspringende Nasen, Schnurr- und Kinnbärte, nackte schweißglänzende Wangen. Und die Riesen riechen bis auf den Grund des Fasses und verdecken den Himmel mit ihren großen Gesichtern. Meta mag heute die Riesen nicht sehen und schließt die Augen. Wenn sie dann wieder die Lider öffnet, ist da nichts als die tiefe blaue Gasse, das schimmernde Holz und die leise alte Faßstimme. Ein rotbrauner Falter läßt sich auf dem Rand nieder, und wo seine Flügel an die Bläue des Himmels stoßen, zittern goldene Bänder. Später kommt eine Hummel, umkreist brummend das Faß und läßt sich auf Metas Knie nieder. Dort sitzt sie lange und betastet mit ihrem Rüssel die feuchte Haut. Es kitzelt ein wenig, aber Meta regt sich nicht.

Die Hummel erweckt ihr Verlangen. Sie möchte sie fangen und anfassen, aber sie weiß, die Hummel mag nicht festgehalten werden. Endlich, das Gekrabbel ist schon fast nicht mehr auszuhalten, muß Meta leise auflachen, und die Hummel schießt mit einem zornigen kleinen Schrei in die endlose Himmelsgasse hinein, wird ein goldener Punkt und ist verschwunden.

Dann geschieht lange, lange Zeit gar nichts. Gewisper, Sirren von Gräsern, ferne Rufe von der Wiese her und der süße Geruch nach frischem Heu. Etwas drückt Metas Augen zu. Und da kommt ein Riese, ein Riese, den sie noch nie gesehen hat, und beugt sich über das Faß. Sein Bart ist rot und gelockt; er hat große blaue Augen und Haare, die in wilden Büscheln um seinen Kopf stehen. Seine Wangen sind dick und braunrot, und er zeigt breite weiße Zähne. Schön und schrecklich sieht er aus. Meta starrt hinauf in das feuchte Gesicht und atmet schweren Heugeruch. Die blauen Augen sind voll wilder Freude und voll Spott. Das ist kein braver Riese, aber auch kein böser. Sicher ist es der Riesenkönig. Jetzt wirft er den Kopf zurück und stößt ein tiefes, brüllendes Lachen aus.

Meta fährt hoch und sitzt ganz gerade. Der Riese ist fort, und der Himmel ist grau geworden. Aber das Gebrüll kann sie noch immer hören. Langsam wird es zu einem fernen Grollen. Meta fürchtet sich. Im Faß ist es fast ganz dunkel. Es stellt sich tot und hat aufgehört zu wispern. Das alte Faß hat auch Angst. Das ermuntert Meta ein bißchen. Sie streichelt die rauhe Wand und flüstert Trostworte. Aber das Faß bleibt stumm. Es hat sich ganz und gar in sein altes Holz verkrochen. Und da ist wieder das Gebrüll des Riesen. Es kommt vom Wald her. Dort stapft er jetzt über Bäume und Büsche und schüttelt zornig seinen roten Bart. Meta legt sich auf den Bauch und preßt das Gesicht ins Moos. Ein fremder Geruch steigt daraus auf, nach Finsternis und Verlassenheit.

Die Großen vergessen das Kind im Regenfaß nicht. Nachdem das letzte Fuder Heu eingebracht ist und als die ersten Regentropfen niederklatschen, befreien sie es aus seinem Gefängnis. Aber Meta hat die Großen ganz vergessen. Erstaunt starrt sie in die lachenden, aufgeregten Gesichter. »Aha«, sagen die Großen, »es hat also doch genützt, jetzt ist sie endlich brav. Man darf ihr einfach nicht alles hingehen lassen.« Meta weiß nicht, wovon sie reden. Sie ist sehr müde, und irgend etwas Wichtiges, dem sie auf der Spur gewesen ist, hat sich vor den lärmenden Großen verkrochen. Und sie fassen sie viel zu fest an. Sie zerren an ihren Haaren und bohren ihre dicken Finger in das sanfte junge Fleisch. Meta fängt an zu weinen und verbirgt ihr Gesicht an einer vertraut riechenden Brust. Dann verebben alle Geräusche, und es wird leer und still. Meta hat sich in den Schlaf geflüchtet.

Die ganze Welt stürmt auf Meta ein. Tausend Gerüche bedrängen ihre Nase, tausend Geräusche ihr Ohr, und die kleinen Hände tasten Glattes, Rauhes, Feuchtes, Trockenes, Heißes und Kaltes; ein Fetzchen Samt, ein schiefriges Holzscheit, Riesenhaut und Hundefell; die scharfe Glätte der Gräser und die ganz andere Glätte von Kieselsteinen. Und da ist auch noch der eigene Leib, der sich schmerzlich krümmt. Oder die kleinen Finger und Zehen wollen vor Freude schreien. Die Haut auf den Armen kräuselt sich, und Meta weiß nicht, soll sie lachen oder weinen. Alles ist ganz unsicher. Meta lernt und lernt, und wenn es zuviel wird, schnappt etwas in ihrem Kopf ein und läßt sie in Schlaf versinken. Schlägt sie die Augen auf, ist alles wieder da; das Brausen, die Gerüche und die Dinge, die sich in ihre Hände schmiegen. Sie ist sehr beschäftigt. Die Welt ist ein großes Durcheinander, das sie, Meta, in Ordnung bringen muß. Sternchen für Sternchen setzt sie aneinander, aber selten wird etwas Rundes daraus. Wenn sie die Welt einfach auffressen könnte, wäre sie aller Bedrängnis enthoben. Aber sie kann die Welt nicht auf fressen, und so weiß sie nie, was im nächsten Augenblick geschehen wird. Was wird ihr hinter der Tür entgegentreten, wird süßer Duft aufsteigen oder beißender Gestank, wird das Blatt, das sie anfaßt, ihre Hand kühlen oder verbrennen? Es gibt gar keine Sicherheit.

Da ist Mama: sie besteht aus vielen Teilen; aus einem dunklen Zopf, der bei Tag auf gesteckt ist und nachts hin und her baumelt auf dem weißen Nachthemd. Der Zopf riecht sehr angenehm. Mamas Hände sind warm und rund. Manchmal tun sie wohl und manchmal weh. Mama hat eine Brust, an die Meta den Kopf lehnen, und einen Schoß, auf dem sie sitzen kann. Ob die blaue Schürze ganz zu Mama gehört, ist ungewiß, denn sie ist nicht immer da. Mamas Stimme ist liebevoll und geduldig oder böse und grell. Nie weiß Meta, wie sie klingen wird. Aber das alles zusammen ist Mama und riecht sehr gut. Sie zeigt Meta Bilderbücher und liest ihr Märchen vor.

Es gibt Hunde, die im Haus herumlaufen, und Hunde, die in Bilderbüchern wohnen. Auch Menschen gibt es in den Büchern, Katzen, Kühe und Hähne. Und ein Haus mit rotem Dach. Aus einem Fenster streckt ein Kind ein Körbchen mit Erdbeeren. Meta möchte wissen, was mit diesen Figuren geschieht, wenn Mama das Buch zuschlägt. Ganz heimlich schleicht sie sich an und klappt das Buch wieder auf. Da stehen sie noch immer starr und unbewegt. Meta ist sicher, daß sie sich nur über sie lustig machen. Nachts, wenn alles schläft, springen sie aus dem Buch heraus und spielen in der Stube. Einmal ist das Kind mit den Erdbeeren an Metas Bett getreten, und der kleine schwarz-weiß gefleckte Hund ist auch dabeigewesen. Das Kind ist nicht lieb; Meta fürchtet sich ein bißchen vor ihm, aber den Hund möchte sie gern Wiedersehen. Und er kommt auch wieder. Er legt seine Pfoten auf den Rand des Gitterbettes, und Meta spürt seinen heißen Atem auf der Wange. Und gerade wie sie sich freudig aufsetzt, macht es einen lauten Donnerschlag, und der Hund ist weg. Meta schreit vor Schreck. Mama sagt: »Du hast geträumt. Der Hund war nur in deinem Kopf, nicht wirklich.« Meta glaubt ihr nicht; wie käme ein ganzer Hund in ihren Kopf. Entschlossen klettert sie aus dem Bett. Sie muß unbedingt den Hund finden, er kann...


Haushofer, Marlen
Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. 1946 veröffentlichte sie ihren ersten Text. Sie zählt heute mit Ingeborg Bachmann zu den Vorläuferinnen der modernen Frauenliteratur. Marlen Haushofer wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Sie starb 1970 in Wien.



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