Wie wir wurden, wer wir sind. Eine vielstimmige Anthologie über Ost- und West-Frauen zwischen politischen Systemen, Emanzipation und persönlicher Erfahrung.
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-627-02339-3
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor 35 Jahren scheiterte der erste Ost-West-Frauenkongress. Was hat sich seitdem bewegt?
»Die Anthologie von Franziska Hauser und Maren Wurster ist eine vielstimmige und äußerst lesenswerte Momentaufnahme der aktuellen feministischen Debatte.« MDR Kultur
Von Prägungen und Zuschreibungen handeln diese Texte, erzählt anhand der eigenen Biografie, der eigenen Intimität. Eine Idee, die aus einer Begegnung der ostdeutschen Autorin Franziska Hauser und ihrer westdeutschen Kollegin Maren Wurster entstand. Sie stellten fest, dass nicht jede Ost-Frau emanzipierte Arbeiterin oder Künstlerin war, die problemlos Familie und Job jonglierte, und nicht jede West-Frau den Haushalt schmiss und in stiller Abhängigkeit vom Ehemann die Kinder großzog. Sowieso – »Ost« und »West« ist vielschichtig, unsere Lebensentwürfe speisen sich aus mehr als politischen Systemen. Überall finden sich Aufbegehren und widersprüchliche Vielfalt.
Und doch geben die Fragen der Anthologie unerwartete literarische Antworten: Wie prägt das Großwerden in verschiedenen Gesellschaftssystemen unsere Sexualität, unsere Mutterschaft, die Liebe? Gibt es böse und gute Kinderstuben? Sind Kind- und Fremdheitserfahrungen politisch? Wie kann Begegnung möglich sein und bleiben Differenzen?
Mit Beiträgen von: Asal Dardan, Charlotte Gneuß, Daniela Dahn, Florian Werner, Franziska Hauser, Julia Wolf, Katja Kullmann, Kenah Cusanit, Kerstin Hensel, Maren Wurster, Mechthild Lanfermann, Nadège Kusanika, Olga Hohmann, PS – Politisch Schreiben, Ruth Herzberg, Sabine Peters, Sabine Rennefanz, Thomas Brussig
»Dieses Buch schafft, was nur wenige Bücher schaffen: Es bringt uns dazu, unsere Geschichten über unsere Ost- oder Westsozialisierung neu zu erzählen. Umwerfend.« Bettina Wilpert
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
INHALT
Polare Menge – ein spontaner Dialog der Herausgeberinnen
Mechthild Lanfermann
Wir erzählen uns Geschichten
Sabine Rennefanz
Akte der Rebellion
Julia Wolf
Versuch einer Selbstauskunft im November 2024
Daniela Dahn
Aufwärtsmobilität – ein ganz neuer Typ Frau?
Florian Werner
Wie drei ostdeutsche Frauen mir das Schreiben beibrachten
Kenah Cusanit
Battle Royale
Maren Wurster
Ich am Herd, ich in der Elbe – Kartografie einer westdeutschen Seelenlandschaft
Asal Dardan
Eins oder drei
Olga Hohmann
Das Missverständnis der Geburt
Charlotte Gneuß
Im deutsch-deutschen Identitätskarussell ist mir irgendwie immer so schlecht
PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/Politisch schreiben
Reste-Essen
Thomas Brussig
Oma
Nadège Kusanika
Zwischen zwei Welten
Ruth Herzberg
Warum ist es so kalt draußen
Sabine Peters
Entbindungen, Verbindungen. Warum ein Mädchen aus dem Westerwald das Menschsein lernen wollte
Franziska Hauser
Unabhängigkeit fu¨r Frauen und Paläste fu¨r Kinder
Katja Kullmann
Stell dich nicht so an!
Kerstin Hensel
Die böse gute Stube
Polare Menge – ein spontaner Dialog der Herausgeberinnen
Findest du nicht auch, liebe Franziska, dass die Unterscheidung in Ost und West überholt ist? Das braucht es doch nicht mehr. Diese ganze Polarität. Dafür, liebe Maren, unterhalten wir uns aber schon sehr lange über die Unterschiede, intim und hitzig zugleich. Im Zug zu einer gemeinsamen Lesung fing es damals an, als wir feststellten, dass wir den Klischees sehr entsprechen. Also, ich Tochter einer alleinerziehenden Arbeiterin … … und ich als Kind zweier Versicherungsangestellten, wobei meine Mutter dann zu Hause blieb, als ich auf die Welt kam. Schwäbische Idylle mit Mittagessen um zwölf, der ich so rasch wie möglich entkommen und die ich auf keinen Fall jemals wiederholen wollte. Und jetzt bin ich diesem Lebensmodell, ohne es geplant zu haben, doch ziemlich nahegekommen. Inwieweit lebst du auch so, wie du groß geworden bist? Was machst du anders? Was ich anders machen wollte, betrifft vor allem den Umgang mit meinen Kindern. Ich wollte nicht nur mit ihnen sprechen, um sie zurechtzuweisen oder ihnen Anweisungen zu geben. Das hat nicht nur meine Mutter so gemacht, das war in unseren Kreisen damals üblich. Aber was man berufliche Selbstverwirklichung nennt, nicht aufzugeben, trotz aller Widrigkeiten, habe ich meiner Mutter schon nachgemacht. Vielleicht wollte ich eine Ost-Mutter im Westsystem sein. Ich glaube, das will ich auch, eine Ost-Mutter im Westsystem sein. Eine ohne Mann. Eine schreibende, also arbeitende Frau und eine Mama, die viel für ihr Kind da ist. Und es ernst nimmt. Wie du. Das hat meine Mutter in gewisser Weise nicht getan. Mich ernst genommen. Aber sie hat schon vieles liebevoller gemacht im Vergleich zu meiner Großmutter, die hart war. Dass meine Mutter überhaupt empathisch sein konnte, war schon eine Transformation in der Geschichte der Frauen meiner Familie. Je tiefer wir in das Thema eintauchten, umso komplexer wurde es. Wir entdeckten ein riesiges Themenfeld und konnten uns immer weniger einordnen. Also haben wir die Schubladen ausgeleert und andere Autor*innen gefragt, vor allem Autor*innen, die aus ganz anderen Verhältnissen kommen. Zum Beispiel im Osten mit Hausfrauenmüttern aufwuchsen, wie Sabine Rennefanz, oder im Westen mit Arbeitermüttern wie Mechthild Lanfermann. Dir fielen lauter Ost-Autor*innen ein, die dich interessierten, und mir fielen mehr West-Autor*innen ein. Das zeigte ja schon deutlich, dass wir da etwas verstehen und herausfinden wollten und diese Idee auch ein Forschungsauftrag war. … und alle, die wir fragten, wollten sofort loslegen mit dem Schreiben. Die Zweifel sind dann erst im Prozess gekommen. Da tat sich die ganze Komplexität auf, mit der wir ja selbst überfordert waren und deshalb weitere Schreibende zu Hilfe geholt hatten. Einigen fiel es unheimlich schwer, sich auf halbwegs gültige Aussagen festzulegen. Und wir beide haben uns auch gleich mal gestritten, ob denn da nun auch Männer dabei sein werden. Für dich war es klar, dass sie dazugehören. Für mich war klar, dass wir da keinen Mann fragen werden. Ich wollte einen Schutzraum. Ich wollte einen intimen Raum, den es für mich nur mit Frauen gibt. Es zeigte sich: Für dich ist diese Intimität anders, auch dein Feminismus, finde ich. Ja, für mich hatte Feminismus ohne Männer gar keinen Sinn. Das kam mir vor, als hätte man zum Kochen nur Wasser, aber kein Feuer. Dass Frauen im Westen diesen Schutzraum brauchten und der Westfeminismus ganz anders funktionierte, habe ich erst im Gespräch mit dir verstanden. Und ich habe verstanden, welche irritierenden Felder da unter den Begriffen von Ost und West noch mitgeführt werden. Wabern. Vor allem dann in den Gesprächen mit den anderen Autor*innen. Weil da Politik bis ins Intimste und Liebste vordringt, erst mal unbemerkt. Zum Beispiel beim Thema Kinder, ob sie nun in die Institutionen sollen oder nicht. Ja, für mich ist dieses Thema erst durch Ost*West*frau* so wichtig geworden, und mich hat es sehr beschäftigt, ob Kinder in der DDR sich wirklich wichtiger und stärker ernst genommen gefühlt haben durch die staatlichen Institutionen und die Ideologie. Sag mal, Franziska, was hältst du davon, wenn wir eine ost-westblinde Frageliste beantworten, um spielerisch zu schauen, woher unsere Prägungen kommen könnten? Zum Beispiel: Wie hältst du es eigentlich mit dem Kapitalismus, ist der dir lieber als der Kommunismus? Das machen wir. Lass uns die Antworten durchmischen. Die Leser*innen dürfen selbst herausfinden, von wem welche Antwort ist. Kapitalismus oder Kommunismus? Am interessantesten finde ich das eine im anderen. Also sowohl die Kommunen im Kapitalismus, die das System untergraben und von ihm profitieren, als auch die unvermeidbaren kapitalistischen Bewegungen des Kommunismus. Mit diesen Kommunen beschäftige ich mich gerade auch, weil sie zwar vordergründig mit anderen Wertsystemen agieren, diese aber strukturell manchmal doch vergleichbar funktionieren, hierarchisch, hermetisch, letztlich ideologisch. Und zur Frage: Ich bin so angewidert vom Kapitalismus, ich halte ihn für das große Übel, zwischenmenschlich, ökologisch, atmosphärisch, dass mir alles andere lieber ist. Auch wenn ich dieses andere nicht kenne: Ich bin schließlich ein Kind des Kapitalismus. Mann-Sein, Frau-Sein, was dazwischen? Ich denke, wir leben heute in einer ganz guten Zeit, um als Frau auch Männervorteile zu nutzen und andersherum. Aber da ich denke, dass Männern zu viel Härte abverlangt wird, oder sie sich selbst zu viel Härte abverlangen, will ich kein Mann sein. Ich finde Männer toll, aber Frauen küssen besser. Das kann ich leider nicht mal relativieren. Männer sind oft zu angespannt, lassen beim Küssen nicht mal ihre Zungenmuskulatur locker. Florian Werner, den wir glücklicherweise auch für diese Anthologie gewinnen konnten, hat ja interessanterweise ein Buch über die Zunge geschrieben. Wahrscheinlich wollen Männer einfach lieber was Hartes in was Weiches stecken. Auch beim Küssen. Frauen küssen wirklich besser. Deshalb wäre ich schon gerne mal ein Mann. Auch in der Härte das Weiche zu spüren. Aber letztlich würde ich das nur mal so zwischendurch ausprobieren wollen. Ich bin sehr gerne eine Frau. Und eine Mutter. Das möchte ich auf keinen Fall missen: die Präsenz der Geburt, das Intime des Stillens. Vollkommen. So gesehen erscheinen mir Männer defizitär. Kind im Kindergarten oder zu Hause? Ich habe ein Kind, das prima hätte zu Hause bleiben können und im Kindergarten unglücklich war, und ein Kind, das in demselben Kindergarten lieber war als zu Hause. Ich denke, die verschiedenen Möglichkeiten sind der echte Luxus, den ich erstrebenswert finde. Aber die Notwendigkeit zu improvisieren und neue Lösungen zu finden sind ebenso wichtig. Mein Sohn musste im Kindergarten alleine in der abgeschlossenen Garderobe sitzen, während die anderen Kinder beim Essen waren, ziemlich lange saß er da, weil er »wild« gewesen war. Stadt oder Land? Natur. Wobei mir das Essengehen in der Stadt sehnsüchtig fehlt. Nach fünfzig Jahren in der Mitte der Hauptstadt hab ich das vertraute Kampfgelände verlassen. Jetzt wandere ich durch fremdes Land und meine Kampftechniken und Waffen sind unnütz. Niemand will mit mir kämpfen. Mal sehen, wie lange ich damit klarkomme. Selbstständig oder angestellt? Aus Sehnsucht nach einem Zugehörigkeitsgefühl wäre ich gerne mal angestellt. Ich stelle mir so ein Powerteam vor, was es vielleicht gar nicht gibt. Ich habe so eines erlebt, so ein Powerteam, über fünfzehn Jahre lang. Es war ein Leben. Als ich gekündigt habe und gegangen bin, vergaß ich dieses Leben sofort. Es lag nicht an den lieben Menschen, sondern an der Form. Der Glaubenssatz meiner Eltern, fürs Alter vorzusorgen, war längst in mir verblasst. Und die in Arbeitsstunden und Urlaubstagen abgezählte Verfügung meiner Lebenszeit schnürte mir den Hals zu. Wie anderen vielleicht ein leeres Konto oder die wenigen Rentenpunkte. Sesshaft oder nomadisch? Vielleicht sollten wir alle nomadischer werden. Nomad*innen weichen Konflikten aus, brauchen keine Armee, kriegen nicht überviele Kinder. Die Natur kann sich regenerieren, wenn wir immer dahin ziehen, wo es gerade cool ist. Nomad*innen erzählen, Sesshafte schreiben. Okay, dieser Lehrsatz ist überholt. Eine schreibende Nomadin will ich werden, wenn ich groß bin! Bekanntlich haben die Jäger*innen- und Sammler*innen-Gesellschaften viel Zeit für die Heiligung der Natur, die für sie beseelt war, für Kultur und Gemeinschaft, aufgebracht. Sie haben keine Vorräte angehäuft, Wohlstand war ihnen fremd, und sie haben weniger Zeit als alle anderen späteren Gesellschaften in das Existenzielle investiert. Sehr sympathisch. Gleichberechtigung im Haushalt oder im Bett? Ich habe zu lange zurückgesteckt und nicht die berechtigte Frage gestellt: Warum verdammt noch mal ist der Sex zu Ende, nur weil der Mann gekommen ist? Gleichberechtigung ist mir zu anstrengend. Ich nehme mir, was ich brauche, und gebe meinem Partner, was er braucht. ...