E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
Hauptmann / Langemeyer Die Ratten
3. Auflage 2017
ISBN: 978-3-15-961205-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berliner Tragikomödie - Hauptmann, Gerhart - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Reihe: Reclams Universal-Bibliothek
ISBN: 978-3-15-961205-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Einhundertdreiundzwanzig Mark« - so viel ist in Hauptmanns 1911 uraufgeführter Tragikomödie ein Säugling wert. Der »Handel« mit dem Kind lässt zwei Frauen in unerbittlichen Streit geraten, und so nimmt die Katastrophe ihren Lauf ... Der hier vorgelegte Text folgt der Centenar-Ausgabe unter Einbezug aller relevanten Drucke zu Hauptmanns Lebzeiten. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
Gerhart Hauptmann (15.11.1862 Ober-Salzbrunn [Schlesien] - 6.6.1946 Agnetendorf [Schlesien]) gehört zu den bedeutendsten Vertretern des Naturalismus. Nach einer abgebrochenen Lehre als Landwirt und dem zweijährigen Studium der Bildhauerei in Dresden reifte während einer Italienreise und dem Umzug nach Erkner in der Nähe von Berlin der Entschluss, freier Schriftsteller zu werden. Seine Mitgliedschaft im naturalistisch geprägten Dichterverein 'Durch' prägte ihn stark. So befassen sich seine Werke überwiegend mit der Idee der Weichenstellung des Menschen durch seine Herkunft. Handelt beispielsweise 'Vor Sonnenaufgang' - sein erster Erfolg als Dramatiker - vom Niedergang einer Bauernfamilie, schildert Hauptmann in der novellistischen Studie 'Bahnwärter Thiel' die Ohnmacht der Arbeitergesellschaft gegenüber der aufkommenden Industrialisierung. Zu seinen bekanntesten Werken gehört das Familiendrama 'Die Weber', das den Weberaufstand im Jahre 1844 thematisiert. Für sein dramatisches Werk wird Hauptmann 1912 mit dem Literaturnobelpreis geehrt.
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[9]Erster Akt
Im Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin. Ein fensterloses Zimmer, das sein Licht von einer brennenden Lampe erhält, die von der Mitte der Decke über einen runden Tisch herunterhängt. In die Hinterwand mündet ein gerader Gang, der den Raum mit der Entreetür verbindet, einer eisenbeschlagenen Tür mit einer primitiven Schelle, die der Eintritt Begehrende von außen durch einen Drahtzug in Bewegung setzt. Eine Tür in der Wand links schließt ein Nebengemach ab. An der Wand rechts führt eine Treppe auf den Dachboden. Auf diesem Dachboden, sowie in den sichtbaren Räumlichkeiten, hat der Extheaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus untergebracht. Man kann, bei dem ungewissen Licht, im Zweifel sein, ob man sich in der Rüstkammer eines alten Schlosses, in einem Antiquitätenmagazin oder bei einem Maskenverleiher befindet. Zu beiden Seiten des Ganges sind auf Ständern Helme und Brustharnische Pappenheimscher Kürassiere aufgestellt, ebenso in je einer Reihe an der rechten und linken Wand des vorderen Raums. Die Dachbodentreppe steht zwischen zwei Geharnischten. Die Decke darüber schließt die übliche Bodenklappe ab. Ein Stehpult ist vorn links an die Wand gerückt. Tinte, Federn, alte Geschäftsbücher und ein Kontorbock sowie einige Stühle mit hohen Lehnen um den runden Mitteltisch lassen erkennen, daß der Raum zu Bürozwecken dienen muß. Wasserflasche mit Gläsern auf dem Tisch und einige Photographien über dem Stehpult. Die Photographien zeigen [10]Direktor Hassenreuter als Karl Moor sowie in verschiedenen anderen Rollen. Einer der Pappenheimschen Kürassiere trägt einen ungeheuren Lorbeerkranz um den Nacken gehängt, mit einer Schleife, deren Enden in goldenen Lettern die Worte tragen: »Unserem genialen Direktor Hassenreuter! Die dankbaren Mitglieder.« Eine Serie mächtiger roter Schleifen trägt nur die Aufschriften: »Dem genialen Karl Moor« … »Dem unvergleichlichen, unvergeßlichen Karl Moor« … usw. usw. Der Raum ist nach Möglichkeit zu Magazinzwecken ausgenutzt. Wo irgend angängig, hängen an Kleiderhaken deutsche, spanische und englische Kostümstücke aus verschiedenen Jahrhunderten. Man sieht schwedische Reiterstiefel, spanische Degen und deutsche Flamberge. Die Tür links hat die Aufschrift: Bibliothek. Das ganze Gemach zeigt eine malerische Unordnung. Alte Scharteken und Waffen, Pokale, Becher usw. liegen umher. Es ist eines Sonntags, Ende Mai. Frau John, über Mitte der Dreißig hinaus, und das blutjunge Dienstmädchen Piperkarcka sitzen am Mitteltisch. Die John, den Oberkörper weit über den Tisch gelehnt, redet lebhaft auf das Dienstmädchen ein. Die Piperkarcka, dienstmädchenhaft aufgedonnert, mit Jackett, Hut und Schirm, sitzt aufrecht. Ihr hübsches rundes Lärvchen ist verweint. Ihre Gestalt zeigt Spuren noch nicht vollendeter Mutterschaft. Sie malt mit der Schirmspitze auf der Diele. FRAU JOHN. Na ja doch! Freilich! Ick sag’t ja, Pauline. DIE PIPERKARCKA. Nu ja. Ick will nu also Schlachtensee oder Halensee. Muß jehn un muß nachsehn, ob ick ihm treffe! (Sie trocknet ihre Tränen und will sich erheben.) [11]FRAU JOHN (verhindert die Piperkarcka am Aufstehen). Pauline! Um Jottes willen, bloß det nich! Det nich, um keenen Preis von de Welt. Det macht Skandal, kost Jeld und bringt nischt. Wat wolln Se woll, und wo Se noch in den Zustande sind, dem schlechten Halunken noch weiter nachloofen!? DIE PIPERKARCKA. Denn soll meine Wirtin heute soll warten umsonst verjeblich auf mir. Ick spring’ im Landwehrkanal und versaufe. FRAU JOHN. Pauline! Warum denn? warum denn, Pauline? Jeben Se Obacht, heeren Se jetzt bloß um Jottes willen ’n janz ’n eenziges … bloß ma’n janzen kleenen Oochenblick uff mir, und passen Se dadruff uff, wat ick Ihn vorstelle! Det wissen Se doch, ick hab’ et Ihn doch bei de Normaluhr, wo ick an Alexanderplatz aus de Marchthalle bin jekomm, jleich anjesehn und hab’ et Ihn uff’n Kopp druff jesacht. Wat hab’ ick jesacht? Jelt, hab’ ick Ihn uff’n Kopp druff jefragt, jelt, kleenet Aas, er will nischt von wissen! – Det jeht hier vielen, det jeht hier allen, det jeht hier vielen Millionen Mächens so! Und denn hab’ ick jesacht … wat hab’ ick jesacht? komm, hab’ ick jesacht, ick will dir helfen. DIE PIPERKARCKA. Zu Hause darf ick mir nu janz natürlich nich blicken lassen, wie ick verändert bin. Mutter schreit doch auf’n ersten Blick! Vater haut mir Kopf an die Wand und schmeißt mir Straße. Jeld hab’ ick nu ebenfalls ooch weiter nu weiter keens nich! als wie Stücker zwei Joldstücke, was ick mich Jackettfutter einjenäht. Hätte mich schlechter Mensch nich Mark nich Pfennig übriggelassen. FRAU JOHN. Freilein, mein Mann ist Mauerpolier. Freilein: [12]wenn Se bloß wollten Obacht jeb’n … jeb’n Se doch um Jottes willen Obacht, wat ick Ihn for Vorschläge unterbreiten tu’. Freilein, denn is doch uns beede jeholfen. Ihn is jeholfen und so desselbijenjleichen ooch mir. Außerden is Pauln, wat mein Mann is, jeholfen, wo sterbensjerne een Kindeken will, weil det uns doch unser eenziget, unser Adelbertchen, an de Bräune jestorben is. Ihr Kind hat et jut wie’n eejnet Kind. Denn kenn Se jehn Ihrem Schatz wieder uffsuchen, kenn wieder in’n Dienst, kenn wieder bei Ihre Eltern jehn, det Kind hat et jut, und keen Mensch uff die janze Welt nich braucht wat von wissen. DIE PIPERKARCKA. I jrade! Ick stürze mir Landwehrkanal! (Sie steht auf.) Ick schreibe Zettel, ick lasse Zettel in mein Jackett zurück: du hast mit deine verfluchte Schlechtigkeit deine Pauline im Wasser jetrieben! dann setze vollen Namen Alois Theophil Brunner, Instrumentenmacher, zu. Denn soll er sehn, wie er mit sein Mord auf Jewissen man meinswegen fertig wird. FRAU JOHN. Warten Se, Freilein, ick muß erst uffschließen. (Frau John stellt sich, als wolle sie die Piperkarcka hinausbegleiten. Noch bevor beide Frauen den Gang erreichen, tritt Bruno Mechelke langsam forschend aus der Tür links und bleibt stehen. Bruno Mechelke ist eher klein als groß, hat einen kurzen Stiernacken und athletische Schultern. Niedrige, weichende Stirn, bürstenförmiges Haar, kleiner runder Schädel, brutales Gesicht mit eingerissenem und vernarbtem linkem Nasenflügel. Die Haltung des etwa neunzehnjährigen Menschen ist vornübergebeugt. Große, plumpe Hände hängen an langen, muskulösen Armen. [13]Die Pupillen seiner Augen sind schwarz, klein und stechend. Er bastelt an einer Mausefalle herum. Bruno pfeift seiner Schwester wie einem Hunde.) FRAU JOHN. Ick komme jleich, Bruno. Wat wiste denn? BRUNO (scheinbar in die Falle vertieft). Ick denke, ick soll hier Fallen uffstellen. FRAU JOHN. Haste dem Speck denn rinjemacht? (Zur Piperkarcka.) ’tis bloß mein Bruder. Erschrecken sich nicht, Freilein. BRUNO (wie vorher). Ick ha heute dem Kaisa Willem jesehn, Jette. Ick war mit de Wachparade jejang. FRAU JOHN (zur Piperkarcka, die durch Brunos Erscheinung angstvoll gebannt ist). Et is bloß mein Bruder, bleiben Se man. (Zu Bruno.) Junge, wie siehst du bloß wieder aus? Det Freilein muß sich ja von dich Angst kriejen. BRUNO (wie vorher. Ohne aufzublicken). Schuberle buberle, ick bin ’n Jespenst. FRAU JOHN. Mach uff’n Boden und stell deine Mausefallen! BRUNO (wie vorher. Tritt langsam an den Tisch). Jawoll, det is ooch man wieder so’n Jeschäft zum Vahungern. Wenn ick mit Streichhölzer handeln du’, denn ha ick wahrhaftig mehr Pinke von. DIE PIPERKARCKA. Atje, Frau John. FRAU JOHN (wütend auf den Bruder los). Wiste woll jehn und wist mir in Frieden lassen! BRUNO (geduckt). Hab dir man nich. Ick jeh’ ja schonn. (Er zieht sich folgsam wieder in das anstoßende Zimmer zurück, dessen Tür Frau John resolut hinter ihm schließt.) DIE PIPERKARCKA. Den mecht’ ick Tierjarten, Jrunewald [14]nicht bejejnen. Bei Nacht nich und nich ma bei Dage nich. FRAU JOHN. Jnade Jott, wo ick Brunon hetze und der ma hinter een hinter is! DIE PIPERKARCKA. Atje. Hier jefällt mir nich. Wenn mich wieder sprechen wollen, lieber Bank bei Wasserkunst Kreuzberg, Frau John. FRAU JOHN. Pauline, ick ha Brunon mit Sorje un Kummer Tag un Nacht jroßjebracht. Ihr Kindeken hat et noch zwanzigmal besser. Also, Pauline, wenn et jeboren is, nehm’ ick det Kind, un bei meine in Jott vastorbene Eltern, wo ick an Totensonntag immer noch und keen Mensch mich zurückhält nach Rüdersdorf jeh’ und Lichter uff beede Jräber ansteche: det kleene Wurm soll et madich jut hab’n, wie et besser keen jeborener Prinz und keene jeborene Prinzessin haben tut. DIE PIPERKARCKA. Ick jeh’, mit meine letzten Pfennig kaufen mir Vitriol – trefft, wen trefft! – un jießen dem Weibsbild, wo mit ihm jeht – trefft, wen trefft! –, mitten in Jesicht! Trefft, wen trefft! Brennt ihm janze verfluchte hübsche Visage kaputt! Mir jleich! Brennt ihm Bart kaputt! Brennt ihm Augen kaputt! wenn er mit andres...