E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Haumann Die Akte Zilli Reichmann
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-10-490162-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zur Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-10-490162-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heiko Haumann, geboren 1945, war von 1991 bis 2010 Professor für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel und lebt in Elzach in Baden-Württemberg. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen ?Geschichte Russlands? (2006), ?Dracula. Leben und Legende? sowie ?Hermann Diamanski. Eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst? (beide 2011).
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Vorwort
Als mir Zilli Schmidt am späten Vormittag des 17. September 2014 die Tür zu ihrer Wohnung in Mannheim-Schönau öffnet, steht eine kleine, mit ihren 90 Jahren gutaussehende Frau vor mir. Ich spüre sofort, dass wir uns verstehen werden. »Jetzt müssen Sie erst einmal etwas essen«, sagt sie und führt mich in ihre kleine blitzblanke Küche. Eine wunderbare Gulaschsuppe hat sie für mich gekocht.
Kurz darauf kommt noch eine junge Verwandte, um sich zu vergewissern, dass mit meinem Besuch alles seine Ordnung hat und ich nichts Unrechtes von Frau Schmidt will. Sie erzählt mir, dass sie einen Tunesier geheiratet und eine Tochter hat, die in die fünfte Klasse des Gymnasiums geht. Für kurze Zeit ist auch noch eine Bekannte dabei. Ich merke, dass Frau Schmidt zwar allein in ihrer schönen, guteingerichteten Wohnung lebt, aber in ein zuverlässiges Netzwerk eingebunden ist und Hilfe erhält, wenn es nötig ist.
Wir kommen ins Gespräch. Ich berichte Frau Schmidt, wie ich auf sie gestoßen bin. Vor einiger Zeit war ich dem Lebenslauf des Seemanns und Kommunisten Hermann Dimanski nachgegangen, der im Konzentrationslager Auschwitz inhaftiert gewesen war. Nach Kriegsende hatte er seinen Namen in Diamanski geändert. In Auschwitz-Birkenau hatte Dimanski zeitweise die Funktion eines Lagerältesten im »Zigeunerlager« wahrgenommen. Unter den zahlreichen Quellen, die ich einsehen konnte, befanden sich einige Dokumente zu einer jungen »Zigeunerin« namens Zilli Reichmann, die ebenfalls in dieses Lager eingeliefert worden war und zu Dimanski offenbar eine enge Verbindung hatte. Aus den Dokumenten ging auch hervor, dass sie überlebt hatte, aber es war mir nicht gelungen, sie aufzuspüren.
Nachdem meine Forschungen veröffentlicht worden waren,[1] erhielt ich eine Einladung vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main, 2014 bei den Rahmenveranstaltungen zum 50. Jahrestag des ersten Frankfurter »Auschwitz-Prozesses« einen Vortrag über Hermann Diamanski zu halten, der dort ausgesagt hatte. Im Gespräch nach dem Vortrag – »Von der Last, ein Zeuge zu sein« – erinnerte sich Werner Renz, der Archivar des Fritz Bauer Instituts, dass bei ihnen noch unbearbeitete Vernehmungsprotokolle eines Ermittlungsverfahrens gegen einen SS-Mann im »Zigeunerlager« vorhanden seien. Diese Unterlagen stellte er mir großzügigerweise zur Verfügung – und ich fand darin Vernehmungsprotokolle von Zilli Reichmann und ihrem Bruder Otto, in denen auch ihre Adresse notiert war. So konnte ich über einige Umwege Frau Reichmann (die inzwischen Schmidt hieß) ausfindig machen. Telefonisch vereinbarten wir das Treffen, zu dem ich nach Mannheim gekommen war.
Zilli Schmidt erinnert sich gut an Hermann Dimanski, will wissen, wie sein Leben verlaufen war, und schildert mir, wie er ihr und ihrer Familie im Lager geholfen hatte. Und sie sagt mir, dass sie in Gedanken beinahe jeden Tag nach Auschwitz zurückkehre, bei ihren Eltern und ihrer kleinen Tochter Gretel sei, die alle dort ermordet wurden. Ich frage sie nach ihrem Leben vor dem Lager, und nach vier Stunden habe ich einen ersten Einblick in ihr Schicksal gewonnen. Weitere lange Gespräche folgen. Bald sind wir uns einig, dass die Geschichte ihres Lebens aufgeschrieben und veröffentlicht werden muss, um bewahrt zu werden – auch zur Erinnerung an ihre Familie und an ihre Tochter. In diesem Buch werde ich ihre Geschichte erzählen – allerdings nicht nur in Form einer einzelnen Biographie, sondern zugleich als Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert. Von Zilli Reichmann-Schmidt und ihrer Lebenswelt aus soll der Blick immer wieder auf die Lage der Sinti, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie sich bewegten, auf die Vorstellungen, die sich ihre Umgebung von ihnen machte, und auf die Politik ihnen gegenüber geworfen werden. Ich möchte die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Strukturen zeigen und so eine lebensweltlich geprägte »integrierte Geschichte« (Saul Friedländer) schreiben.[2]
Der Titel dieses Buches – »Die Akte Zilli Reichmann« – soll zum Ausdruck bringen, dass immer wieder behördliche Verfügungen in Zilli Reichmanns Leben eingegriffen haben, von ihrer Kindheit über die nationalsozialistische Zeit bis heute. Unter den ersten Dokumenten, die ich nach unserem Gespräch im September 2014 zu Gesicht bekam, waren Zilli Reichmann-Schmidts Akten im »Wiedergutmachungsverfahren« seit den 1950er Jahren. Bei der Lektüre wurde mir bewusst, wie die Diskriminierung und Ausgrenzung, die sie seit ihrer Kindheit erlebt hatte, weitergegangen war, für sie wie für die Sinti überhaupt. Zugleich schimmerte aber auf den Seiten dieser Akten ihr »Eigenes« durch, trat sie mir gegenüber, und ich konnte den Dialog, den ich mit ihr bei unseren Treffen geführt hatte, über das Studium der Akten mir ihr fortsetzen. Deshalb habe ich den Titel gewählt und Abbildungen der Aktendeckel für das Cover ausgesucht sowie eine Fotografie aus der Zeit um 1940, die sie zusammen mit ihrer Cousine Tilla zeigt. So verbinden sich sinnbildlich individuelles Schicksal und allgemeine Geschichte.
Zilli Reichmann-Schmidt hat in ihrem Leben viel durchgemacht, daneben aber auch Schönes erlebt. Ihre schlimmste Zeit durchlitt sie in Auschwitz. Die traumatischen Erfahrungen verursachen ihr bis heute Albträume. Das Trauma formt ein besonderes Gedächtnis: »Zudringlich bemächtigt es sich mit seinen schmerzlichen Szenarien unserer Seele. Als Gefangene der Vergangenheit sind wir unablässig den unerträglichen Bildern ausgesetzt, die nachts unsere Albträume bevölkern.«[3] Später musste Zilli Reichmann-Schmidt mit schweren Erkrankungen fertig werden. Aber sie hat alles überstanden und zeigt bis heute Fröhlichkeit und Lebensmut. Ihre Erinnerung ist frisch, manchmal sucht sie in ihrem Gedächtnis, wenn ich sie nach bestimmten Vorgängen frage, hin und wieder korrigiert sie sich. Einiges weiß sie nicht mehr genau oder meint, es könne vielleicht auch etwas anders abgelaufen sein. Ich denke: Nicht alles muss bis in die letzte Einzelheit aufgeklärt werden. Wir haben Zilli Reichmann-Schmidts Wahrheit, die in ihrer Geschichte steckt, so wie sie sie erzählt, und wir haben Dokumente, die einiges über ihr Leben aussagen. Nehmen wir hinzu, was wir über die Geschichte der Sinti im 20. Jahrhundert sowie über die »Zigeunerpolitik« wissen, ergibt sich ein hinreichend ausgeleuchtetes Bild.
Gleich bei unserem ersten Treffen habe ich Frau Schmidt gefragt, ob ich von ihr als einer Sintiza sprechen soll oder welche Begrifflichkeit sie bevorzuge. Sintiza war ihr natürlich recht, aber zugleich meinte sie ebenso wie ihre Verwandte, sie seien stolz darauf, Zigeunerinnen zu sein. Deshalb haben sie auch nichts dagegen, wenn sie als Zigeunerinnen bezeichnet werden und nicht, »politisch korrekt«, als Sinti. »Es kommt darauf an, wie jemand ›Zigeuner‹ sagt, wie jemand über uns spricht.« Ich erinnerte mich an ein Seminar, das ich im Wintersemester 2004/05 an der Universität Basel mit dem Titel »Von Grenzen und Aufbruch. Roma in Osteuropa und in der Schweiz« veranstaltete. Damals hatte ich einen Rom aus der Schweiz zu Gast, der von sich sagte: »Ich bin ein Zigeuner, und ich will nicht anders heißen.«[4]
Eigentlich ist die Bezeichnung »Zigeuner«, die wir seit ihrem Auftreten im deutschsprachigen Raum finden, kein Eigenbegriff, sondern eine Fremdzuweisung. Manchmal umfasst sie alle Fahrenden, ansonsten eine durch Abstammung und Kultur zusammengehörende Gruppe, die dann seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend rassistisch definiert wird. Die Herkunft des Wortes ist ungeklärt. Meistens wird sie im griechischen Wort »Athinganoi«, »die Unberührbaren«, gesehen. Durch die jahrhundertelange Verwendung des Zigeuner-Begriffs haben ihn viele Sinti und Roma übernommen. Obwohl der Begriff durch den rassistischen Gebrauch – mit dem Höhepunkt im Nationalsozialismus – belastet ist, bezeichnen sich nach wie vor zahlreiche Menschen als Zigeuner. Aus Respekt vor Zilli Reichmann-Schmidts Haltung werde ich in diesem Buch von Zigeunern sprechen, wenn ich von ihrem Selbstverständnis ausgehe, und von »Zigeunern« (in Anführungszeichen), wenn ich den abwertenden Sprachgebrauch kennzeichnen will.
Ansonsten stehen selbstverständlich die Eigenbegriffe Sinti und Roma im Mittelpunkt. Rom, der »Mann«, Romni, die »Frau«, sind in deren Sprache, dem Romanes, fest verankert, ebenso Sinto und Sintiza mit gleicher Bedeutung.[5] Die Eigenbezeichnung als Sinti ist im deutschsprachigen Raum seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überliefert.[6] Sinti sind die Angehörigen und Nachfahren der seit Jahrhunderten im deutschsprachigen Raum – darüber hinaus in Norditalien, Belgien, den Niederlanden und in Frankreich – lebenden Volksgruppe. Unter die Fremdzuweisung »Zigeuner« fielen hingegen häufig auch Menschen, die nicht zu den Sinti zählten. »Roma« gilt als Oberbegriff für alle, die sich unabhängig von nationalen Eigenbenennungen als Teil dieser Volksgruppe verstehen, daneben aber auch als Bezeichnung der seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa nach Deutschland zugewanderten Gruppen, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen; inzwischen kommen Flüchtlinge und Asylbewerber hinzu. Nicht zu den Sinti und Roma gehören die Jenischen, die aber wegen ihrer Lebensweise in einem weitverbreiteten Sprachgebrauch diesen...




