E-Book, Deutsch, 512 Seiten
Hasselmann Die Seele der Papaya
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7481-7726-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 512 Seiten
ISBN: 978-3-7481-7726-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Varda Hasselmann, *1946, entschied sich gegen eine Universitätskarriere als Mittelalterforscherin und für ihre außergewöhnliche mediale Begabung. Als Trance-Medium wurde sie mit zahlreichen Publikationen bekannt, u. v. a. "Archetypen der Seele" und "Junge Seelen - Alte Seelen". Ihre von einer "Quelle"empfangene neue Seelenlehre wird vielfach gerühmt. Zahlreiche Übersetzungen belegen einen internationalen Erfolg. Durch die Romane "Die Seele der Papaya" und "Die Seelenwaage" sowie eine Sammlung von Erzählungen "Aus lauter Liebe" wurde sie auch als Belletristik-Autorin erfolgreich. Sachbücher über König Artus, das Wilhelmslied, eine Sammlung von Gesprächen zu "Lebenszeit und Ewigkeit", Beiträge in zahlreichen Fachzeitschriften sowie die Betreuung eines Gedichtbandes über die Seele belegen ein breites Spektrum im Wirken der Autorin.
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eit vielen Stunden starre ich durch das kleine Fenster ins Dunkel. Ich kann nicht schlafen. Meine Mitreisenden dösen unruhig in ihren unbequemen Sitzen. Indien, das Land der wundersamen Begebenheiten, liegt schon sehr weit hinter uns.
Bald werden wir in München sein. Dann nimmt alles wieder seinen gewohnten Gang. Einkaufen, heizen, Rechnungen bezahlen, Bekannte anrufen, mich zurückmelden. Fragen beantworten. Ich werde mich zusammenreißen. So tun, als ob. Das habe ich schließlich früher gut gekonnt. Trotzdem überkommt mich Verzweiflung, wenn ich daran denke.
Was soll ich bloß antworten, wenn Freunde und Nachbarn mich fragen, was ich auf meiner langen Reise erlebt habe? Soll ich sagen, daß ich monatelang verschollen war – gefangen, vergiftet und krank, gemartert von einem Stamm wilder Ureinwohner? Alles nicht falsch, gewiß, und trotzdem nicht die Wahrheit. Ich kann mir vorstellen, wie die Boulevardzeitungen es gern für eine saftige Schlagzeile hätten: »Münchnerin überlebt grausamen Blutkult in Indien«, zum Beispiel. Stimmt, stimmt genau. Aber mit dem, was wirklich geschehen ist, hat das nur indirekt zu tun.
Mir war beschieden, etwas Großes zu erleben – erschrekkend, schwer verständlich und beglückend. An mir, einer ganz gewöhnlichen, nicht besonders vergeistigten Psychoanalytikerin, ist die Prophezeiung eines indischen Wandermönchs in Erfüllung gegangen.
Die Maschinen des großen Flugzeugs dröhnen unerträglich laut. Beunruhigt stelle ich fest, daß ich während der neun Monate meiner Abwesenheit niemals so empfindlich und heillos durcheinander war wie gerade jetzt.Wie bin ich überhaupt in dieses wirre Abenteuer hineingeraten? Die bunten Splitter und glitzernden Spiegelscherben im Kaleidoskop meiner Erinnerung bilden ständig neue Bilder, wenn der Wille, sie zu ordnen, an ihnen rüttelt. Wann kam das erste Steinchen ins Rollen?Welche meiner Entscheidungen hat es gelöst?
Sinn und Zweck kann ich in dem Wirrwarr nicht ausmachen. Ich habe ja noch nicht einmal begriffen, was mit mir geschehen ist, weiß nur, daß ich mich nicht mehr kenne. Mein analytischer Verstand wird in den nächsten Tagen seine Pflicht tun müssen. Ich möchte verstehen. Endlich verstehen.
Wie ich das Ereignis, das mich so verändert hat, bezeichnensoll, weiß ich nicht. Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht etwas mit Erleuchtung zu tun hat. Aber darunter habe ich mir etwas völlig anderes vorgestellt – vollkommene Bewußtheit zum Beispiel, unablässige Liebe, Bedingungslosigkeit, Bedürfnislosigkeit, leuchtende Weisheit. Mit solchen Eigeschaften kann ich gewiß nicht aufwarten. Totale Souveränität? Mitnichten. Eher Humanität, im tiefsten Wortsinn. Ja, das ist es wohl. Mutter India hat mich zum Menschen gemacht.
Grelle Angst, dumpfes Entsetzen und auch die vielen körperlichen Schmerzen, die ich erlitten habe, lauern wie hungrige Raubtiere hinter dem dünnen Gitter der verstreichenden Zeit, die – so sagt man – alle Wunden heilt. Im Grunde muß ich mich als schwer traumatisiert betrachten. Und trotzdem fühle ich mich unbeschreiblich glücklich! Merkwürdiges Krankheitsbild. Bin ich denn froh, daß alles vorbei ist? Nein, das wäre nur die halbe Wahrheit. Mit jeder Faser meines Leibes sehne ich mich in das palmengesäumte Dorf zurück, aus dem ich erst vor zweiWochen unter Lebensgefahr entkommen bin. Bei der Heimkehr nach München, mit dem Eintauchen in das einst Gewohnte, beginnt die Feuerprobe. Jetzt erst wird sich erweisen, was die Veränderungen, die ich in der Tiefe meines Wesens wahrnehme, wirklich bedeuten.
Zwischen Vergangenheit und Zukunft klafft der Abgrund meiner noch unverarbeiteten Erlebnisse. Mache ich mir Illusionen über meine Wandlung? Niemand kehrt völlig unverändert von einer so langen Reise zurück. Man möchte ja gern etwas ganz Besonderes sein, weil man seine eigene Bedeutungslosigkeit nur schwer ertragen kann. Bin ich auch so? Zum Teufel, wie soll ich das herausfinden?
Wieder schirme ich meine Augen gegen das Licht in der Kabine ab und blicke aus dem Fenster. Die Sterne verblassen. Durch eiskalte Luft fliegen wir über das menschenleere Arabien. Nichts als Sand und Steine. Hier kann ein Mensch erfahren, was Einsamkeit ist. Ich warte auf das Glutrot des Morgens. Dann blenden mich die ersten Sonnenstrahlen wie Blitze von kosmischer Gewalt, zu stark für meine müden Augen. Ich muß sie schließen.
Was soll ich nur tun? Der Schmerz hinter meiner Stirn wird schärfer. Krampfhaft überlege ich, was ich wirklich brauche, jetzt bei meiner Rückkehr. Es macht mir Mühe. Dann erhellt ein Blitz der Erkenntnis meine Gedanken. Natürlich, das ist es: Ich muß noch eine Weile allein sein!
Erleichterung läßtmich aufatmen. Zum Alleinsein brauche ich keine Wüste. Mein Zuhause soll meine Einsiedelei sein. Isolation von derWelt wird mir Klarheit schenken.
Rückkehr braucht Zeit. Niemand drängt mich, Gott sei Dank. Ich bin sehr empfindlich, fühle mich fast hautlos. Deshalb werde ich mich erst einmal verkriechen. Ich möchte nur für mich dasein. Daß ich zurück in Deutschland bin, geht schließlich keinen etwas an.
Der Kopfschmerz ist plötzlich verflogen. Man reicht mir ein heißes, feuchtes Tuch. Damit reibe ich die letzten Verspannungen von Stirn und Nacken. Ich fühle mich befreit von der quälenden Sorge; ich weiß jetzt, was der nächste Schritt sein wird.
Duft von Semmeln und frischem Filterkaffee zieht durch die Kabine, deutsches Frühstück, heimatlicher Gruß. Und während ich Erdbeerkonfitüre auf Vollkornbrot streiche, stelle ich mir die kommenden zehn, zwölf Tage und Nächte vor wie das Leben unter einer Inkubationshaube. Ja, ich brauche Schutz, einen Ort der Sammlung. Dort muß ich bleiben, bis ich weiß, wer ich bin.
In der Halle bedrängen mich nervöse Leute von allen Seiten. Ich rieche Ungewaschenes und Kölnisch Wasser, höre aufgekratztes Schnattern. Sie tauschen noch Adressen aus, trotz ihrer von Schlaflosigkeit kleinen Augen. Drogenhunde umkreisen uns. Kleinkinder quengeln. Die Reisenacht ist lang gewesen. Raucher zünden sich ihre Zigarette an,während wir vor der Paßkontrolle Schlange stehen.
Der Morgenhimmel, aus dem ich soeben herabgestiegen bin,wölbt sich in einem ungewohnt sanften, lichtzarten Oktoberblau über mir. Diese Herbstluft macht mich glücklich. Ich atme tief ein und rüste mich für den nächsten Schritt.
Es riecht feucht und erdig. Der Duft erinnert mich an frühmorgendliche Schulwege, an den ersten Tag nach den Herbstferien. Die deutsche Welt wirkt sauber gewaschen, ordentlich gekämmt, grau und angespannt. Das Taxi fährt mich nach Alt-Solln, vorbei am Einkaufszentrum mit Müller-Brot, Wurst vom Vinzenz Murr, Reinigung, Haltestelle und Apotheke. Die Gegend ist mir in allen Einzelheiten bekannt wie aus einem . Hier ist mein Zuhause. Ich weiß es, aber es will mir nicht in den Kopf.
Beim Öffnen der Wagentür rutschen Paß und Flugschein von meinem Schoß.Wie ungeschickt! Erst das Geld geben, auf den Rest warten, und dann mußt du den Schlüssel aus der Tasche holen. Du weißt doch noch, wie das alles geht, stell dich nicht an, konzentriere dich. Sei nicht albern, Doris, schließlich warst du ja nicht zwanzig Jahre lang fort, sondern kaum zehn Monate. Oh, die alte vertraute Stimme, die immer so ungeduldig mit mir redet, da ist sie wieder!
Laß nur! kontert eine andere, die verständnisvoller klingt. So, wie du dich fühlst, kommst du von einem anderen Stern. Du hast dich nicht unter Kontrolle. Wozu auch? Du bist hilflos. Aber das macht nichts.
Die zweite Stimme ist neu und tröstet mich. Interessiert höre ich ihr zu. Ein halbes Jahrhundert lang bin ich effizient gewesen, hatte immer alles im Griff. Darauf war ich sehr stolz. Eine fähige Person. Nicht gerade ein Superweib, nein, keine perfekten Kinder, atemberaubenden Karrieresprünge und berauschenden Liebhaber. Auf meine bescheidene Art war ich funktionstüchtig und durchaus mit mir zufrieden. Die Traumfrau war ich nie. Aber in meinem Leben herrschten einst Ruhe und Ordnung.
Damit ist es wohl vorbei. Als mir das klar wird, mischt sich ein wenig Besorgnis in meine Zuversicht. Neugierig, ohne besondere Beteiligung, betrachte ich diese Gemütsbewegung, als sei sie eine Ameise, die über den Fußboden läuft. Das ist auch neu.
Umständlich sammle ich die Dokumente, mit denen ich nachweisen könnte, wer ich einmal war, wieder auf, wische den Paß an meinem Rock sauber. Dann packe ich entschlossen die Griffe meines Beutels und stehe vor dem niedrigen Gartentor, wie tausendmal zuvor.
offentlich sieht mich keiner. Feuchte Blätter wehen mir entgegen, ein Windstoß unterstützt mich beim Niederdrücken der Klinke. Eingraviert in das ungeputzte Messingschild liest man die Aufschrift: Dr. med. D. Guthknecht, Psychotherapie, Psychoanalyse, alle Kassen, Sprechstunde nur nach telefonischer Vereinbarung.
Nun ja, das bin ich. Das war ich.
Das Gartentor...




