Hasse | Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. [Was bedeutet das alles?] | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Hasse Was ist europäisch? Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen. [Was bedeutet das alles?]

Hasse, Dag Nikolaus - Erläuterungen; Analyse - 14061

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-961940-8
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wir verstehen uns als Europäer, doch unsere traditionell verankerten Vorstellungen von europäischer Kultur sind fragwürdig. Denn wir schleppen aus der Kolonialzeit und aus der Romantik Ansichten mit uns mit, die unseren Blick auf Geschichte und Geographie verzerren und die Zukunft unseres Kontinents belasten. Dag Nikolaus Hasse ermutigt zu einem offeneren Nachdenken über Europa, dessen geistige Wurzeln weiter und dessen Verbindungen zu kontinentalen Nachbarn intensiver sind, als viele glauben.

Dag Nikolaus Hasse, geboren 1969, ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Universität Würzburg. Seine Forschung gilt hauptsächlich der arabischen Philosophie und Naturwissenschaft und ihrem Einfluss im lateinischen Europa. Hasse ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und wurde 2016 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.
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Europa wird von einem Kontinent zu einer Kultur
Was sollte an diesem sympathischen Begriff von Europa problematisch sein? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, Äußerungen aus der Epoche der Aufklärung selbst in den Blick zu nehmen und nachzuvollziehen, wie erstmals kulturelle Europa-Begriffe populär wurden. In Festreden unserer Zeit wird gern auf zwei Ahnherren eines kulturellen Europa-Begriffs Bezug genommen, nämlich auf Karl den Großen und Piccolomini, den späteren Papst Pius II. Es wird dann ausgeführt, dass Karl der Große in einem Gedicht des Jahres 799 »Vater Europas« (»pater europae«) genannt wurde und der Humanistenpapst Pius II. um 1458 den Begriff »Europäer« (»europaei«) erfunden habe. Pius II. verwendet den Ausdruck in seinen Aufrufen an die christlichen Fürsten, »den Türken« aus Europa und insbesondere aus Konstantinopel zu vertreiben, mit der Begründung, dass Europa die Heimat der christlichen Gemeinschaft sei. Es stimmt zwar: Europa ist bei Karl und Pius II. eher ein kultureller als ein geographischer Raum, denn Karl der Große herrschte keinesfalls über den gesamten Kontinent, und viele Bewohnerinnen und Bewohner des Kontinents zu Lebzeiten Pius II. waren nicht Christen, sondern Muslime oder Juden. Doch die Karl- und Pius-Zitate sind Außenseiter in ihren Jahrhunderten, fanden kaum Nachahmer und sind also alles andere als repräsentativ. Sie eignen sich daher nicht für Festreden (ganz abgesehen davon, dass Herodot und Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr. auf Griechisch und die Mozarabische Chronik von 754 auf Lateinisch auch schon von »Europäern« gesprochen hatten). Wenn also weder um 799 noch um 1458 ein kultureller Begriff von Europa populär wurde, wann dann? Die historische Forschung ist noch nicht so weit, dass sie diese Frage mithilfe quantitativer Studien präzise beantworten könnte. Es zeichnet sich allerdings ab, dass ein kultureller Europa-Begriff erst in den Jahrzehnten um 1700 in Mode kam, und zwar in französischen Texten. Das lässt sich sehr gut an den Pariser Instruktionen für die französischen Botschafter in der Türkei zwischen 1665 und 1768 erkennen, die der Historiker Malcolm Yapp ausgewertet hat. Die frühen Instruktionen sprechen von den »Angelegenheiten der Christenheit und des Osmanischen Reiches« (»des affaires de la chrétienté et de l’empire ottoman«). 1679 wird der Bezug auf das Christentum erstmals durch »affaires de l’Europe« ersetzt, und in den folgenden Jahrzehnten verdrängt der Ausdruck ›Europa‹ den Ausdruck ›Christentum‹ nach und nach aus der Sprache der französischen Diplomaten in der Türkei. Der sich herausbildende kulturelle Europa-Begriff schließt das Osmanische Reich aus, obwohl seine Hauptstadt Konstantinopel auf dem europäischen Kontinent liegt. Auch in anderen Quellen lässt sich erkennen, dass ein kultureller Begriff um 1700 populär wird. Die Niederlage des osmanischen Heeres vor Wien im Jahr 1683 wird noch als Sieg der Christenheit beschrieben. In der Folgezeit nimmt die Erwähnung Europas zu: in Buchtiteln, in Verträgen, aber auch im Schrifttum allgemein. Diese Popularisierung kam nicht aus dem Nichts, sondern hatte eine mehr als 100 Jahre lange Vorgeschichte im Diskurs gebildeter Eliten. Dieses Kapitel der Geschichte des gelehrten Europa-Begriffs ist gut erforscht, und so wissen wir, dass es drei verschiedene Bereiche waren, in denen Intellektuelle von einem kulturellen Europa zu sprechen begannen: Erstens findet sich im Kontext des Schrifttums über die sogenannten Türkenkriege, also den Konflikten zwischen dem Osmanischen Reich und christlichen Herrschern, bereits im 16. Jahrhundert gelegentlich die Ersetzung der Bezeichnung ›Christenheit‹ durch ›Europa‹. Zweitens beförderten der Machtkampf zwischen Frankreich und Österreich-Spanien und die Furcht vor der Weltherrschaft einer einzigen Macht das Nachdenken über eine politische Ordnung Europas. Einzelne Autoren wie Maximilien Duc de Sully, Gottfried Wilhelm Leibniz und William Penn skizzierten im 17. Jahrhundert erste Entwürfe für eine europäische Friedensordnung, einen europäischen Völkerverein, einen Gerichtshof und eine Bundesversammlung. Drittens beeinflussten die kolonialen Eroberungen europäischer Mächte in Übersee das Sprechen über Europa. In Texten und Bildwerken des Barock wurden die Erdteile der bekannten Welt miteinander verglichen, fast immer zum Vorteil Europas. Diese drei Diskurse über Europa haben den Durchbruch eines kulturellen Europa-Begriffs um 1700 vorbereitet. Der zweite dieser drei Europadiskurse, das Nachdenken über eine politische Friedensordnung, hat stets viel Aufmerksamkeit und auch Bewunderung erfahren. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn er ist Teil der Vorgeschichte der Europäischen Union. Zur Geschichte der ›Idee Europa‹ in der Barock- und Aufklärungszeit gehört aber auch, dass sie stark von kolonialem Überlegenheitsdenken geprägt war. Stellvertretend für viele seien an dieser Stelle zwei Texte zitiert, die einen Eindruck von dem aufkommenden Europa-Begriff geben: die vielgelesenen Pilgrimes des Engländers Samuel Purchas aus dem frühen 17. Jahrhundert und der Zedler, das berühmte deutsche Universallexikon des 18. Jahrhunderts. Der Pastor Purchas war ein begeisterter Beobachter der englischen Entdeckungs- und Eroberungsreisen. Ohne England je verlassen zu haben, verfasste er sehr beliebte Berichte über diese Reisen, einschließlich eines ausführlichen Erdteilvergleichs. Asien, Afrika und Amerika seien zwar größer als Europa, dienten ihm aber, denn Europa überrage alle anderen Erdteile, schreibt Purchas 1625. Europa habe das beste Klima, den besten Boden, die beste Luft, die meisten tapferen, kräftigen und klugen Menschen, die besten Befestigungen und Städte. Es mag scheinen, fügt Purchas hinzu, als sei ein anderer Erdteil in einem dieser Dinge ebenbürtig oder gar überlegen. Doch das täusche; in Wahrheit seien alle unterlegen und »zu Tributzahlern und Dienern Europas« (»tributaries and servants to Europe«) gemacht worden. Zuerst einige Teile der Welt von Alexander dem Großen und den Römern in der Antike; dann noch viele weitere Länder von den Spaniern, Portugiesen, Engländern und Holländern in jüngster Zeit: Asien schickt uns jedes Jahr seine Gewürze, Seidenstoffe, Edelsteine; Afrika sein Gold und Elfenbein; Amerika akzeptiert strenge Zoll- und Steuer-Beamten und erlaubt beinahe überall [die Ansiedlung] europäischer Kolonien. Wenn ich auf die Wissenschaften und Erfindungen zu sprechen komme, welche die gebührendsten Güter des Menschen sind, das unsterbliche Erbe unserer Sterblichkeit: was hat der Rest der Welt Vergleichbares? Ähnliches gelte für die Erfindungen der Mechanik und der Musik, für den kulinarischen Geschmack, für die Militärtechnik, die Drucktechnik, die Navigationskunst. Europa erhebe sich bis zu den Sternen und über diese hinaus, und das liege an Christus, so der Pastor Purchas, denn Christus sei schon lange in Europa zu Hause und führe Europa empor. Das sind neue Töne, Töne, die das Mittelalter nicht kannte. Denn Europa war aus lateinisch-christlicher Sicht immer nur der zweitbeste Weltteil. Wie konnte es auch anders sein? Jerusalem, die Mitte der Welt, liegt in Asien, wie auch das irdische Paradies, jedenfalls für viele mittelalterliche Christen. Und als die Welt nach der biblischen Sintflut unter den drei Söhnen Noahs und ihren Nachkommen aufgeteilt wurde, wie es in der Bibel, Genesis 9 f., nach mittelalterlicher Interpretation heißt, erhielt Sem Asien, den schönsten und reichsten Erdteil, Ham das zu heiße Afrika und Japhet das zu kalte Europa. Viele mittelalterliche Quellen schildern Europa als unterlegenen Weltteil, in dessen Norden es so kalt sei, dass »kein Gras wächst und niemand dort wohnt« (»at eigi vex gras á ok engi byggvr«), wie sich der christliche Prolog zur altisländischen Snorra-Edda im 13. Jahrhundert ausdrückt. (Der altnordischen Geographie gebührt ein Ehrenplatz, da sie in vielerlei Hinsicht die präziseste ihrer Zeit im christlichen Europa war.) Weiter heißt es im Edda-Prolog: In Asien verfügen die Menschen in höherem Maße als in Europa (»Evrópá«) über Weisheit, Kraft, Schönheit und »alle Arten von Künsten« (»allz konar kunnostu«). Das ist das genaue Gegenteil dessen, was Purchas und viele andere Europäer der Barock- und Aufklärungszeit schrieben und dachten. Die Kolonialerfahrung hatte das Bild Europas auf den Kopf gestellt. Im 18. Jahrhundert war dieses Bild auch in den Nachschlagewerken des gebildeten Bürgers angekommen. So im deutschen Zedler, dem von Johann Heinrich Zedler herausgegebenen einflussreichen Universallexikon, das zwischen 1731 und 1754 in Leipzig und Halle gedruckt wurde. Dort konnte man unter dem Stichwort »Europa« lesen: Obwohl Europa das kleinste unter allen...


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