Haslinger | Jáchymov | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Haslinger Jáchymov

Roman
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-10-401385-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-10-401385-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sie begegnen sich zufällig: der Verleger und die Tänzerin. Er sucht Heilung im alten Kurhotel von Jáchymov und stößt dabei auf das Grauen dieses Ortes. Die Tänzerin beginnt ihm eine Geschichte zu erzählen, die sie ihr Leben lang begleitet hat. Es ist die Tragödie ihres Vaters. Als Torwart der tschechoslowakischen Eishockey-Nationalmannschaft seit den 1930er Jahren ein Star, konnten ihn seine Erfolge nicht vor der Willkürherrschaft des kommunistischen Regimes schützen. Dann wurde er verhaftet. Man deportierte ihn in die Arbeitslager von Jáchymov, einem Uranbergwerk in einem Tal des Erzgebirges. Nach fünf Jahren wird er amnestiert und als Todkranker entlassen. Seiner Familie bleibt nichts, als ihm beim langsamen Sterben zuzusehen. Die Tochter wird zur Chronistin einer ungewissen Erinnerung, der sie nicht mehr entkommen kann. Josef Haslinger erzählt in seinem neuen Roman eine Familiengeschichte, verstrickt in die Tragödien des 20. Jahrhunderts.

Josef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wien und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman ?Opernball?, 2000 ?Das Vaterspiel?, 2006 ?Zugvögel?, 2007 ?Phi Phi Island?. Sein letztes Buch ?Jáchymov? erschien im Herbst 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber. Literaturpreise: Theodor Körner Preis (1980) Österreichisches Staatsstipendium für Literatur (1982) Förderungspreis der Stadt Wien (1984) Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1985) Österreichisches Dramatikerstipendium (1988) Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1993-94) Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994) Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (1994) Preis der Stadt Wien und Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels (2000) Mainzer Stadtschreiber (2010) Rheingau Literatur Preis (2011)
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Die kleine Propellermaschine landet auf einer roten Sandpiste, mitten in der Steppe. Am Ende der Landebahn holt uns eine Staubwolke ein und legt sich über die Wellblechhalle, vor der die Maschine anhält. Der Pilot schiebt die Haube hoch. Er hilft mir beim Aussteigen. Dann öffnet er eine Rumpfklappe und zieht meinen Koffer hervor. Zum Abschied reicht er mir die Hand.

Die Tür zur Wellblechhalle ist herausgebrochen. Unter einer Fensteröffnung liegen Glasscherben. Ich soll vom Chauffeur der Farm abgeholt werden, aber da ist niemand. In der Halle steht nur ein verstaubtes Flugzeug, auf dem ein Vogel spazieren geht. Er schaut mich misstrauisch an und weicht zurück, als ich näher komme. Das Schiebetor am anderen Ende der Halle ist halb geöffnet, dahinter die Steppe. Auf dem Zufahrtsweg steht ein verlassener Jeep. Ich gehe auf ihn zu.

Taxi, Mam!

Das sagt jemand hinter mir. Ein Mann sitzt im Schatten der Halle und raucht eine Zigarette.

Sind Sie der Chauffeur, frage ich.

Taxi, Mam, ist alles, was er sagt. Er wiederholt es, bis ich einsteige. Der Sitz ist zerfetzt, die Scheibenwischer sind abgebrochen. Bevor er losfährt, springe ich aus dem Wagen und laufe davon. Aber der Jeep folgt mir. Mit hoch gerafftem weißem Kleid haste ich über die ausgetrocknete Erde, das kniehohe Gras zerkratzt mir die Beine. Ich ducke mich hinter ein Distelgewächs, um einen Moment zu verschnaufen. Ich trage nur Sandalen und weiße Ringelsocken. Wie bei der Erstkommunion, denke ich und ziehe ein paar Dornen aus den Socken. Ich höre das Motorengeräusch und sehe die Staubfahne auf mich zukommen. Heiliger Thaddäus, mächtiger Fürsprecher, blicke herab auf mich!

Ich springe auf und laufe weiter. In meinen Sandalen verfängt sich Gestrüpp, das ich mitschleife. Der Jeep kommt näher. Nach kurzer Zeit muss ich die Richtung ändern, denn vor mir tut sich ein tiefer Graben auf, ein Abgrund, in dem ganz unten ein ausgetrocknetes Flussbett liegt. Die Böschung ist zu steil, um hinabsteigen zu können. Ich laufe an diesem Graben entlang. Hier wachsen die Sträucher höher und üppiger, und ich kann mich besser verstecken. Der Fahrer hat keinen freien Blick mehr auf mich. Ich laufe von Gebüsch zu Gebüsch und suche nach einer Stelle, an der ich ins Flussbett hinabsteigen kann. Ich finde keine. Trotzdem fasse ich neuen Mut, denn in der Ferne sehe ich eine Brücke, eine Fachwerkkonstruktion aus vielen ineinandergefügten Baumstämmen. In der Mitte der Brücke stehen zwei Menschen. Sie tragen lange Kleider und gestikulieren. Ich nehme alle meine Kraft zusammen und laufe auf sie zu. Es sind Männer mit Bärten. Sie heben die Arme, ich glaube sie auch rufen zu hören, beeil dich, aber ich bin nicht sicher, mein Atem ist laut und hinter mir das Motorengeräusch. Die vielen Büsche machen es dem Jeep schwerer, mir zu folgen. Gleich werde ich ihn ganz abschütteln können, denn die Brücke ist zu schmal für ein Fahrzeug. Ich erreiche sie, bevor der Jeep mich einholen kann.

Die bärtigen Männer, auf die ich keuchend zugehe, haben runzlige Gesichter. Sie scheinen sich nicht für mich zu interessieren, sie scheinen mich nicht einmal wahrzunehmen. Ihre Hände, mit denen sie unentwegt gestikulieren, sind knochig und ausgetrocknet.

Es ist seine Konstruktion, sagt der eine und holt zu einer weiten Armbewegung aus. Ihm gebührt alle Ehre.

Seit es diese Brücke gibt, sagt der andere, ist unser Leben viel einfacher geworden. Ihm gebührt alle Ehre.

Und nun erhebt der Erste die Hände zum Himmel und sagt: Herr, du bist Zeuge, er hat uns die Brücke geschenkt, ohne dass wir ihm dafür etwas gegeben haben. Belohne seine Kinder mit Glück.

Und nun erhebt der Zweite die Hände zum Himmel und sagt: Herr, du bist Zeuge, es ist eine schöne Brücke, eine stabile Brücke, kein Sturm kann sie wegblasen. Danke es seinen Kindern mit Glück.

Ich bin vor den beiden Männern stehen geblieben, und ich weiß, dass sie von meinem Vater reden. Er hat diese elegante Brücke gebaut. Aber mich nehmen sie nicht wahr, auch nicht, als ich langsam an ihnen vorbeigehe. Ich höre sie noch weitersprechen. Er hat uns das Leben erleichtert. Er ist ein großer Architekt. Glück seinen Kindern.

An dieser Stelle brach die Geschichte ab. Es folgte eine Bleistiftskizze, ein Rechteck, das mit Dreiecken ausgefüllt war, so als wollte die Erzählerin ein Bild davon vermitteln, wie die Fachwerkbrücke ausgesehen haben könnte. Anselm Findeisen blätterte um. Während er weiter las, zog er aus seiner Westentasche ein Silberdöschen, öffnete es und nahm eine Tablette heraus, die er mit einer routinierten Handbewegung im Mund verschwinden ließ. Die Erzählerin hatte sprunghaft den Schauplatz gewechselt, sie beschrieb nun ein städtisches Ambiente, den Gastgarten eines Künstlerklubs in Prag.

Ich esse eine Mehlspeise, stand da, trinke eine Melange und genieße die Frühlingssonne. Am Tisch gegenüber sitzt eine junge Frau, die mir zulächelt. Ihre kurzen schwarzen Haare, ihre lange Nasenspitze, ihre bogenförmigen Augenbrauen, ich kann gar nicht aufhören hinzuschauen. Und sie schaut zurück. Wir lächeln uns an, blicken verlegen zur Seite und lächeln uns wieder an. Was für ein Tag, sagt sie. Was für ein Tag, antworte ich. Und nach einer Weile sagt sie wieder, was für ein Tag, langsam und mit spitzem Mund. Wir sitzen da und schauen uns auf die Lippen. Wir warten darauf, dass eine von uns sie bewegt. Wenn es geschieht, ist das ein Geschenk. Aber wir gehen sparsam um mit den Geschenken. Und dann sagt sie: Du musst gehen! Und mir fällt plötzlich ein, dass ich einen Auftritt habe. Ich springe auf und verlasse den Gastgarten. Beeil dich, ruft mir die Frau nach. In der hereinbrechenden Dunkelheit laufe ich durch die Straßen der Altstadt zur Oper. In der Garderobe merke ich, dass ich mich schon daheim geschminkt habe und mir jetzt nur noch das Kostüm anziehen muss. Ich komme hinter der Bühne an und werde sofort ins Scheinwerferlicht hinausgeschickt. Mein Vater sitzt oben auf dem Balkon in der ersten Reihe, ich sehe ihn, ohne dass ich hinschauen müsste. Ich drehe Pirouetten, ich springe und schwebe. Beim Applaus mache ich einen Knicks zu ihm hinauf. Da ist sein strahlendes Gesicht, da sind seine brünetten, gescheitelten Haare, und ich weiß, dass er jetzt so selig ist wie ich.

Ich will sagen, so fuhr die Tänzerin, der Anselm Findeisen in Jáchymov begegnet war, fort, dass Schreiben am Anfang für mich wie Träumen war. Ich kam ständig vom Weg ab, aber es endete immer bei meinem Vater. Es sollte dort enden. So hatte ich etwas, das mich am Leben hielt, oder besser, das mich beim Tod hielt. Ich wollte ja bei meinem Vater bleiben.

Am Abend nach seinem Begräbnis sperrte ich mich ins Zimmer ein und schrieb in ein Schulheft: Mein Vater ist emigriert. Und dann legte ich mich ins Bett und hörte nicht mehr auf zu weinen. Emigrieren hieß damals für immer weg sein. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, den Satz zu schreiben, mein Vater ist gestorben. Am nächsten Morgen fügte ich eine Zeile hinzu. Die hatte ich in der Nacht geträumt. So fing ich an zu schreiben. Zunächst entstanden Gedichte. Sie waren nicht zum Herzeigen gedacht, sondern nur für mich. Andere Mädchen meines Alters gingen aus oder träumten davon auszugehen, ich schrieb oder träumte davon zu schreiben. Das ließ sich nicht so genau unterscheiden. Manchmal träumte ich es nur und war am nächsten Morgen enttäuscht, dass es nicht auf dem Papier stand. Dann schrieb ich es noch schnell vor dem Frühstück auf, oder ich dachte den ganzen Tag daran, damit ich es nicht vergaß und am Abend aufschreiben konnte. Manchmal schrieb ich auch einfach auf, was mir gerade einfiel, und träumte dann in der Nacht, wie es weiterging.

Ich war im dritten Jahrgang am Konservatorium. Den ganzen Tag freute ich mich auf das Schreiben. Wenn ich die Treppe zu unserer Wohnung hinaufging, wusste ich, dass ich bald an meinem Schreibtisch und das hieß, bei meinem Vater sein werde. Ich sprach ein paar nette Worte mit der Mutter, dann gab es das Abendessen. Es begann immer mit einem stillen Gedenken. Wir haben einfach eine Weile geschwiegen und jeder ist seinen Erinnerungen nachgehangen. Bis heute mache ich das so. Bis heute beginne ich kein Essen, ohne davor kurz innezuhalten und an meinen Vater zu denken. Vielleicht ist Ihnen das bei unserer Begegnung in Karlsbad aufgefallen. Aber in Ihrer höflichen Art haben Sie mich nicht darauf angesprochen.

Was war das jetzt? Anselm Findeisen klammerte die letzten beiden Sätze ein und schrieb an den Korrekturrand mit Bleistift ein Deleaturzeichen. Offenbar hatte die Tänzerin seinen Rat auf die Frage, wo sie anfangen solle, ganz wörtlich genommen. Verhalten Sie sich so, als würden Sie mir das alles in einem Brief mitteilen, hatte er geantwortet. Er las weiter.

Ich brächte keinen Bissen hinunter, wenn ich vor dem Essen nicht an meinen Vater denken würde. So wie andere auf das Tischgebet nicht verzichten können. Damals, nach dem Tod meines Vaters, schlang ich das Essen einfach in mich hinein. Die Hälfte ließ ich stehen und verschwand in meinem Zimmer. Heute genieße ich das Essen, auch wenn ich immer noch die Hälfte stehen lasse. Das haben Sie sicher bemerkt. Gleich ein weiteres Deleatur an den Rand.

Meine Gedichte verwilderten. Sie streiften den Reim ab, die Strophenform, die regelmäßigen Betonungen. Und dann waren es auch keine Gedichte mehr, sondern Geschichten. Eigentlich waren sie von Anfang an verpuppte Geschichten gewesen. Sie mussten sich nur erst herausarbeiten aus der Schale der strengen Form. Meiner Mutter machte es Angst, dass ich mich so beharrlich zurückziehe. Was machst du dort im Zimmer, rief sie.

Ich lese, antwortete ich, ich ruhe mich aus, ich übe, ich probiere den Ballerinenrock für morgen. Aber ich habe ihr nie...


Haslinger, Josef
Josef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wien und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman ›Opernball‹, 2000 ›Das Vaterspiel‹, 2006 ›Zugvögel‹, 2007 ›Phi Phi Island‹. Sein letztes Buch ›Jáchymov‹ erschien im Herbst 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber.

Literaturpreise:

Theodor Körner Preis (1980)
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur (1982)
Förderungspreis der Stadt Wien (1984)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1985)
Österreichisches Dramatikerstipendium (1988)
Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1993-94)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994)
Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (1994)
Preis der Stadt Wien und Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels (2000)
Mainzer Stadtschreiber (2010)
Rheingau Literatur Preis (2011)

Josef HaslingerJosef Haslinger, 1955 in Zwettl/Niederösterreich geboren, lebt in Wien und Leipzig. Seit 1996 lehrt Haslinger als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 1995 erschien sein Roman ›Opernball‹, 2000 ›Das Vaterspiel‹, 2006 ›Zugvögel‹, 2007 ›Phi Phi Island‹. Sein letztes Buch ›Jáchymov‹ erschien im Herbst 2011. Haslinger erhielt zahlreiche Preise, zuletzt den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber.

Literaturpreise:

Theodor Körner Preis (1980)
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur (1982)
Förderungspreis der Stadt Wien (1984)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1985)
Österreichisches Dramatikerstipendium (1988)
Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1993-94)
Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1994)
Förderungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur (1994)
Preis der Stadt Wien und Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels (2000)
Mainzer Stadtschreiber (2010)
Rheingau Literatur Preis (2011)



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