E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Herder Spektrum
Raus aus der spirituellen Komfortzone
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Herder Spektrum
ISBN: 978-3-451-82646-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Berstendes Glas. Die dünnen Scheiben halten dem Druck nicht mehr stand. Das heulende Untier holt uns ein, vor dem wir geflohen waren. Jetzt auch krachend splitternde Fenster aus dem dunklen Gang oben, eingedrückt vom Sturm. Wieder Flucht vor dem Sturm aus dem kalten Gang in den kargen Schlafsaal der Gäste. Die weißen Wände vom flackernden Licht kahler Glühbirnen gelb erleuchtet, die Rucksäcke am Boden. Hier ist noch alles heil. Doch wohin soll man sich legen, wenn jedes der klapprigen Eisenbetten in der Nähe eines Fensters steht? Würden plötzlich klirrend Scherben über das Bett und meinen Kopf schleudern, mitten in der Nacht? Begonnen hatte es mit einem besorgten Blick auf das Meer. Lange vor Sonnenaufgang aufgestanden hatten Tom und ich unten bei der Feuerstelle zu beten begonnen. Hinter uns die Skiti Hagia Anna, eine kleine Klostersiedlung an der klippenreichen Südostspitze der Halbinsel Athos, dem Staat in Nordgriechenland, der nur aus orthodoxen Mönchen besteht und einer mediterranen Wildnis, in der die Zeit seit Jahrhunderten stehengeblieben scheint. Tagelang waren wir gewandert. Schweigend, betend. Bis heute, dem Abreisetag und dem besorgten Blick auf das Meer: Denn weg kamen wir hier nur mit der Fähre, kein Landweg führt auf den Athos. Oder zumindest kein gefahrloser, frei zugänglicher, bekannter, auf Karten eingezeichneter. Doch die Ägäis zeigte sich an jenem frühen Morgen anders im Dämmerlicht, als ich das Meer je zuvor gesehen hatte. Wellen peitschten schaumgekrönt, Reihe um Reihe. So dicht an- und ineinander, dass Grau sich brodelnd ins Grau stürzt. Eine einzige Gischt, dort weit unter uns. Die Stunden der Dämmerung verstrichen. War es vielleicht ein stürmischer Nachtwind, der mit der aufgehenden Sonne einer sanfteren Brise weichen würde? Pflegt nicht die Brandung sich mitunter morgens zu besänftigen? Trügerische, schnell vernichtete Hoffnung. Dies war kein stürmischer Nachtwind. Das Meer selbst war aus dem Schlaf erwacht und hatte brüllend sein Haupt erhoben. Es schien unsere Hoffnung auf Beruhigung mit nachlässiger Gebärde zu ignorieren. Berauscht von der eigenen Macht, schien das Meer gerade erst Fahrt aufzunehmen, und zwar gegen uns. Wir, ein knappes Dutzend gestrandeter Besucher. Westler, moderne Weltmenschen, in dieser Wildnis unter ein kleines Vordach geflüchtet. Dort, wo die Fähre anlegen sollte, nur heute gewiss nicht würde. Wir, ein französischer Soldat und sein Kollege, ein italienischer Bauingenieur und ein paar Deutsche. Zunächst wählt jeder seine eigene Strategie der Beruhigung. Ruft zu Hause an. Ruft bei der Hafenbehörde an. Dort wird zwar nur Griechisch verstanden, aber alles lässt sich regeln. Klar, ein Sturm. Doch man hat Pläne, man hat Rückflüge zu erreichen. Für unseren bleibt uns genau noch ein Tag, an dem wir bis nach Thessaloniki kommen müssen. Stattdessen verstreichen die Stunden und der ganze Tag versickert im Warten. Ein kleiner Pick-Up bringt uns schließlich in das Hauptdorf des Athos. Die schmale Straße windet sich höher und höher durch den herbstlichen Wald. Steiler die Klüfte unter und neben uns. Umgestürzte Bäume. Der Sturm fegt durch die Wipfel wie ein achtloser Junge über die Ähren. Seit Kindheitstagen hatte ich keine Angst mehr vor der Natur gehabt. Doch diese entfesselte Gewalt schien auch das kein bisschen zu interessieren. Und sie entließ uns nicht aus ihrem Griff. Auch in Karyes nicht, im Zentrum der Insel, auch dort nicht, wo mehr Menschen wohnen. Drohende Wolken fahren in Schwaden dunklen Rauchs über den aufgewühlten Himmel. Der Regen setzt prasselnd ein und wir flüchten uns in das halbverfallene russische Kloster, das uns dampfende Nudeln in großen Blechtöpfen und ein kurzfristig hergerichtetes Nachtlager beschert. Berstendes Glas an diesem Abend. Berstendes Glas zum sonoren mehrstimmigen Bass russischer Mönchsgesänge. Und nur die Literflasche harzigen Weißweines verhilft in den unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen strahlt der Himmel hell. Frohen Schrittes erreichen wir abermals den kleinen Hafen. Heute geht unser Flugzeug! Wieder versammelt die zwei Franzosen, der Italiener und wir Deutsche. Der Wind hat nachgelassen und die Hoffnung kam mit dem Sonnenaufgang. Endlich, ein Uniformierter. Im brüchigen Englisch erklärt er, es sei unsicher, ob die Fähre heute fahren könne. Man müsse warten. Und so warten wir. Stunde um Stunde. Der Vormittag verstreicht und mit ihm die allerletzte Möglichkeit, vielleicht noch unser Flugzeug zu erreichen. Überall werden die Handys gezückt. Wetterbericht. Anrufe bei der Wetterbehörde, der Fährengesellschaft, der Fluggesellschaft. Fassungslose Blicke. Der Sturm sei doch vorbei! Ja, aber das Meer sei noch zu unruhig. Aber die Wellen wirken doch nicht mehr groß, protestieren wir und fühlen uns ungerecht behandelt. Ob die in der Hafenbehörde überhaupt wüssten, wie wichtig das sei? Wie wichtig die Termine seien, die wir zu erreichen hätten? Der eine hat eine Vorlesung in Medizin zu halten, der andere ein entscheidendes Treffen für ein großes Bauprojekt. »Aber ich muss morgen in Mailand sein!«, oder in München, Paris, Athen. Alternativrouten werden erwogen. Ein Waldarbeiter lässt sich breitschlagen, uns für einige hundert Euro tief in den Wald bis zur Grenze des Athos-Gebiets zu fahren. Von dort könne man es zu Fuß versuchen. Allerdings sei das nicht ungefährlich, immer wieder seien Wanderer tief in diesem unwirtlichen Urwald verloren gegangen. Die Alternative: ein kleines Boot von der anderen Seite der Insel. Doch auch daraus wird nichts: Das Meer sei noch immer zu unruhig. Der Tonfall wird wütender, der Blick des Hafenaufsehers immer gleichgültiger. Vielleicht werde das Seewetter ja noch besser. Aber es sei doch schon besser! Ja, aber wir verstünden einfach nichts vom Meer. Ob es eine Frage des Geldes sei, startet der französische Soldat seinen letzten verzweifelten Versuch. Doch die Hafenbehörde zeigt sich unbestechlich. Und selbst wenn sie bestechlich wäre: Das Meer kann man nicht bestechen. Schreie. Tränen der Wut. Hier lässt sich nichts mit Geld kaufen, mit Verhandeln ändern. Wir sind ausgeliefert und hängen fest. »Wenn aber wieder ein Gott mich schlägt auf dem weinroten Meer, ertragen will ich’s (…), denn schon viele Leiden litt ich und viele Mühen auf den Wogen und im Krieg«, lässt Homer den Odysseus der Göttin Kalypso zum Abschied sagen – ein wenig nachfühlen kann ich dem attischen Helden in seiner Sehnsucht, endlich nach Hause zu kommen. All unsere Pläne von einem Sturm aus der Hand gerissen. In Scherben zu unseren Füßen wie das dünne Fensterglas. Vor uns schlicht die unbeugsame Macht der See. Und wir vor ihr. Stets liebte ich das Meer. Der Blick in die grenzenlose Weite. Dort, wo die schnurgerade Kimm die Unendlichkeit der Wasserfläche mit der des blauen Himmelsraumes zu verbinden und von ihr scharf zu trennen versteht. Ich liebte den Ozean mit seinen Schätzen. Den Korallen und eiskalten Tiefen. Den schattigen Palmenstränden und dem millionenfachen Glitzern des blendenden Sonnenuntergangs auf den glatten Wogen. Und seit jenen Tagen zwischen Bangen und Hoffen, zwischen ratlosem Warten und mürrischem Sich-Ergeben, seit jenen Tagen im Sturm auf Athos, sage ich: Ich liebe und fürchte das Meer. Das Watt, das mit seiner Weite lockt und mit seinen Mustern und kleinen Geheimnissen im Schlick, und das Watt, in dem man sich tödlich verlieren kann. Die Flut, die jauchzend in die Klippen kracht und Kinder in den Wellen toben lässt, und die, in der man ertrinken kann. Ich liebe und fürchte das Meer. Und nur weil ich es fürchte, staune ich so recht darüber. Ich meine nicht Angst, aber ich habe Respekt davor. Und hätte ich das nicht, so würde ich es nicht kennen. Je mehr man es kennt, desto mehr liebt und fürchtet man es. Und es kennt wohl jener am besten und weiß auch um seine Gefahren, der auf einer Insel lebt. Der vom Meer umgeben ist. Dem der Landweg nicht offensteht. Sein Auge schweift permanent hinaus ins Grenzenlose und er gerät immer wieder ins Staunen. Die frische Brise und die Hoffnung auf neue Ausfahrt ist ihm immer neu, wie der Schrei der Möwe. Zugleich weiß er, womit er es zu tun hat. Selbst der Tauglichkeit des Schiffes und selbst dem Wetterbericht wird er nur bedingt Bedeutung zumessen. Denn er hat schon zu viel gesehen von dem, wie das Meer sein kann. Verschmitzt schüttelt er den Kopf, murmelt sein »wer weiß, wer weiß« und meint damit: Am besten macht man Frieden mit dem Meer, findet sich ab mit Gezeiten, Wetter und Strömungen. Der Mann auf der Insel ahnt: All das wird sich niemals ändern lassen. Und trotzdem liebt er das Meer, obwohl, gerade weil er es auch fürchtet. Ich liebe und fürchte Gott wie das Meer. Ich staune über Gott wie über das Meer. Früh schon begann ich mit dem Staunen. Doch er ist mir immer größer geworden, so wie das Meer. Das Staunen ist der Anfang der Philosophie, das wussten schon Plato und Aristoteles.1 Doch es ist auch der Anfang des Betens. Dem Betenden wird Gott immer größer. Und er hat mehr zu staunen, mehr zu lieben und – mehr zu fürchten. Denn was man nicht fürchten kann, darüber staunt man nicht recht. Nicht Angst ist gemeint, doch das...