E-Book, Deutsch, 419 Seiten
Hart Wunderkinder
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8496-4641-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 419 Seiten
ISBN: 978-3-8496-4641-7
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Buch, das von Wunderkindern erzählt, in dem es von Wunderkindern einfach wimmelt, und das ihr Entwickeln zu dem Alltag oder zur reifen Höhe glaubhaft schildert. Viel Musik ist darin: Der Knabe Karl Maria Iredenius, der Geiger, der alle Gefahren des frühen Berühmtseins durchmacht, alleGefahren einer folgenden Sterilität, alle Gefahren einer neuansetzenden, nun schwergesetzten Arbeit; das Judenmädel Miriam, das als sechsjähriges Kind schon im Hofballett Triumphe einholt und als Zwanzigjährige eine umstürmte Sängerin ist. (Sie ist die stärkste Gestalt des Buches: genial, weibisch, berückend, gemein.) Und dann noch eine ganze Suite von Variationen über das Motiv Wunderkinder: ein Organist Willi Guth, der alle seine Kinder gewaltsam, mit Stockhieben und evangelischer Frömmigkeit, zu musikalischen Größen aufziehen will und dessen etwas gewaltsame Erziehung immerhin den Erfolg hat, daß sein Aeltester eines Tages von einem Impresario als - Meisterringer geworben wird und schließlich sogar den berühmten Türken Kara Mustapha beim Preisringen wirft. Nochmals: es ist ein herzliches Buch, nicht erschütternd, nicht unvergänglich, nicht revolutionär: doch man liest es gern, mit einer gewissen Spannung nach dem Fortgang der Handlung, zu Ende. Es gehört zu jenen Büchern, die zwischen Kunst und Unterhaltung einen Mittelweg zu finden wissen, die den Leuten die Entdeckung großer Dichtkunst zwar noch erschweren und sie doch schon eindrucksvoll vom vielgeliebten Schund fortführen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Da unten lag also Großvater Samuel. Weil er vor kaum einem Monat gestorben war, sah das Grab noch nackt und kahl aus; nur ein paar dichte Efeuranken zogen ihren grünen Mantel über die braune Erde. Ein Täfelchen mit hebräischen Buchstaben gab den Namen. Karl Maria schien diese Ruhestätte unendlich traurig und armselig. Großvater Samuel würde sicher keine Freude haben, wenn seine Seele heute nacht hierherkäme. Die Miriam hatte indes die mitgebrachten roten und blauen Lampions entzündet und die Stöckchen geschickt in die Efeuranken verhängt, daß sie ganz niedrig blieben und vom Wind nichts zu fürchten hatten.
Es war ein sonnenheller, warmer Novembertag. Am blauen Himmel glitten kleine weiße Wolken hin, mit feinen goldenen Säumen.
Die Grablaterne, die mitten auf dem Hügel in der Erde stak, wollte Karl Maria erst beim Abschied anzünden, damit sie bis zum Abend brennen sollte.
Die Miriam legte jetzt ihren Kranz zwischen den Efeu, schlang einige Ranken darum, daß der Wind ihn nicht fortreißen konnte, und schlich dann zu den Nachbargräbern, wo wunderschöne Blumen wuchsen.
Zuerst bat sie sehr artig die Leidtragenden vor den Gräbern um Erlaubnis, einige Blumen für den armen Großvater pflücken zu dürfen. Die Leute nickten gutmütig und ließen das Kind gewähren.
Die erbeuteten Blumen streute Miriam geschickt in das Dunkelgrün des Efeus, daß bald bunte Farben darin flammten. Die blauen und roten Lampions leuchteten wie Lichter an einem Weihnachtsbaum. Den Kindern war auch ganz weihnachtlich zumute, als müßten sie heute dem alten Samuel für all das Schöne danken, das er in seiner willenlosen Güte ihrer Kindheit geschenkt, sein sonnenhelles Lächeln und die vielen Kupfer-und Silbermünzen, mit denen seine Freigebigkeit nie gespart. Immer eifriger holte Miriam von allen Seiten Blumen herbei, jetzt auch ohne jede Erlaubnis. Fiel ein hartes Wort, schaute sie bloß trotzig auf und rupfte mit doppelter Emsigkeit weiter. Die Kinder hatten gar nicht acht, daß sich allgemach Leute um sie sammelten und ihr Tun mit zärtlichen oder empörten Augen beobachteten.
Karl Maria stand steif aufrecht, wie eine Schildwache, und blickte in den Himmel hinein, über den rasch die Wolken segelten wie weiße Schiffe mit goldenen Segeln, und darin saßen die Toten. Auf einmal trat die Miriam zurück und begann zu tanzen, ein Schrittlein vor und eins zurück. Karl Maria aber riß das schwarze Wachstuch von Geige und Bogen und hob zu spielen an. Er sah die Wolkenschiffe näher gleiten, weiß und goldig angehaucht, der Himmel spannte sich blau und tief wie ein unendliches Meer. Und er wußte, daß Großvater Samuel jetzt sein Spiel hörte, wie einst am letzten Abend des Laubhüttenfestes.
Da rief ein frommes altes Fräulein, das in arbeitreicher Verlassenheit ohne Kuß und Kranz hart und derb geworden, keifend dem Wächter zu, diesem schamlosen Unfug ein Ende zu machen.
Ehe aber der vergnügliche Säufer das Kinderglück stören konnte, trat ein großer schwerer Mann dazwischen, unter dessen Aufsicht zwei Gärtner gerade einen Riesenkranz gelber Rosen mit breiten prunkvollen Schleifen in den englischen Nationalfarben vor einer Gruft niederlegten, schob das fromme Fräulein beiseite und sagte:
»Kinder, hört jetzt auf!«
Da blickten sie auf, bemerkten erst jetzt die vielen Menschen und wurden sehr verlegen und scheu. Miriam ballte zornig die kleinen Fäuste, lächelte aber gleich darauf den fremden Herrn mit ihrem freundlichen Ballerinenlächeln an. Karl Maria war ganz rot und mühte sich, die dicke Kerze in der Grablaterne anzustecken.
»Was tust du da?« fragte der Fremde.
»Die muß bis zum Abend brennen, damit Großvater herfindet.«
Der Herr wandte sich zum Wächter und gab ihm Geld: »Sie zünden diese Laterne gegen Abend an.«
Verdutzt schauten die Kinder, doch er führte sie rasch hinweg.
»Ich bringe euch heim. Wo wohnt ihr? Wie kommt ihr hierher?«
Da gerieten sie ins Plaudern und waren froh, von den vielen Menschen fortzukommen.
Vor dem Friedhofstor wartete eine kobaltblaue Viktoria mit zwei Eisenschimmeln.
»Einsteigen,« sagte der große dicke Herr, »seid ihr hungrig, Kinder?«
»Ja!« rief die Miriam und legte dem widerstrebenden Karl Maria schnell die Hand auf den Mund.
Der fremde Herr rief dem Kutscher etwas zu und warf sich in den Rücksitz. Eng aneinandergeschmiegt saßen die Kinder ihm gegenüber.
»Wie heißt Ihr eigentlich?«
»Karl Maria Tredenius.«
»Guter Name für einen Geiger,« murmelte der dicke Mann und schmunzelte, daß in seinem fetten bartlosen Antlitz mit dem schweren Hakenkinn die Falten sprangen.
»S. Lewis, Impresario,« stellte er sich dann vor.
Karl Maria legte die Hand vor die Stirn und sann nach. Dieses ausländische Wort hatte er bestimmt schon aus dem Munde der guten Frau Charlotte gehört.
»Bist du nicht der große dicke Herr, der früher zum Joseph kam?« fragte er Plötzlich.
»Zu welchem Joseph?«
»Das ist die Miriam Italiener,« rief der kleine Tredenius statt jeder näheren Auskunft, und Miriam rutschte von ihrem Sitz und knixte geschmeichelt: »Ich bin beim Ballett.«
»Du, kleine Kröte?« lachte dröhnend S. Lewis, fing den Balg und küßte ihn ab, trotzdem die gekränkte junge Dame ihm mit beiden Krallenpfoten ins Gesicht fuhr. Er lehnte sich zurück und lachte, daß er sich mit beiden Händen den Bauch halten mußte und helle Tränen ihm über die Wangen liefen: »Gott meiner Väter! Hat der Schlemihl Italiener eine solche Schwester! Goldkind, du gehörst mir!«
Er riß sein Taschenbuch heraus, ein rotes, dickes Ding, ganz angestopft mit Papieren, Visitkarten und kleinen Photographien, und schrieb eifrig.
Die Miriam zog ein Mäulchen: »Aber ich mag dich nicht. Du hast mich geküßt.«
»Kommt alles mit der Zeit, mein Herzchen. Die Ermattinger war in ihrer Jugend auch so eine Kratzbürste. Aber als ich das erstemal mit Lumley für sie abschloß, wollte sie mich vor Liebe schier fressen.«
»Bist du ihr Vater? Aber nein, du bist ja ein Jude,« sagte höhnisch die kluge Miriam.
»Schlaumeier, aber ich bin ein Engländer. Na, was soll ich dir schenken, kleine Taglioni in spe?«
»Ich mag nichts geschenkt. Gib lieber dem Karl Maria eine wirkliche Geige.«
Er blickte den Buben scharf an, der blaß und verschüchtert sich in die Wagenecke drückte. »Richtig, du hast ja vorhin gegeigt. Laß mal sehen!«
Mitleidig nahm er das armselige Instrument und wog es bedächtig in der Sand. »Hast du beim Joseph gelernt?«
»Nein, bei den Bienen im Garten.«
»Gotteswunder!« lachte der Mann und faltete die plumpen, rotbehaarten Hände im Schoß. Wieder sah er den Jungen fest an, schmatzte mit den Lippen und hatte ein Lauern in den Augen.
»Du sollst eine Geige haben.«
Die Miriam wippte vor Vergnügen mit den rotbestrumpften Beinen, Karl Maria saß mit großen Augen und konnte kein Wort hervorbringen. Nach einer Weile ließ Mr. Lewis halten und trat mit den Kindern in einen Laden.
Da lagen und hingen Instrumente aller Art. Geschäftig lief der Händler herbei und verbeugte sich vor dem Impresario. »Womit kann ich dienen, Mr. Lewis?«
»Eine Kindergeige,« antwortete der Riese und klopfte dem kleinen Tredenius aufmunternd die Schulter. »Etwas Feines! Das ist der Violinvirtuose Karl Maria Tredenius. Den Namen merken Sie sich!«
Karl Marias Herz klopfte, und ein Zittern ging über seine ausgestreckten Hände, die auf die langersehnte Geige warteten.
»Darf ich?« Und liebkosend berührte er mit den Fingerspitzen die goldbraunen, glänzenden Leiber der Geigen.
...



