Hart | Ein Schwarm Regenbrachvögel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Hart Ein Schwarm Regenbrachvögel

Roman
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-492-95189-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-492-95189-0
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Wissenschaftler hat er bereits eine steile Karriere hinter sich, aber in seinen Lebens- und Liebeserfahrungen ist Maarten gescheitert: ein Sehnsüchtiger, der seiner Kindheit noch nicht entwachsen ist. Ruhig und gelassen erzählt der Dreißigjährige seine bittere Geschichte, in immer neuen Erinnerungsbildern geht er den Ursachen seiner Einsamkeit und seiner Unfähigkeit zur Liebe nach.

Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
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Mein Sommer

In diesem Raum habe ich den Sommer eingefangen. Insekten summen träge in der feuchten Wärme. Die Zeit verstreicht in ihrem Flügelschlag. Draußen, wo schon die Blätter fallen, wären die Hummeln und Schwebfliegen in den kalten Nächten längst umgekommen. Hier im Treibhaus zwischen den Weintrauben aber ist es noch Sommer, mein Sommer, meine verdiente Beute im Kampf gegen den Wechsel der Jahreszeiten, der Beweis, daß es mir gelungen ist, das Verrinnen der Zeit aufzuhalten. Und ich habe nicht nur meinen Sommer, sondern auch meine Jugend zurückgewinnen können. Es riecht hier nun genauso wie früher, bevor die Trauben durch Tomaten ersetzt wurden. Oh, dieser unvergleichliche Duft; wenn ich ihn ganz tief einatme, ist es, als ob ich erst vier Jahre bin, und jeden Augenblick kann meine Mutter hereinkommen und mir übers Haar streichen.

Behutsam schneide ich mit einer Schere einige Trauben ab und lege sie in einen mit blauem Papier ausgeschlagenen Korb. Heute abend werden sich die Gäste an den Trauben gütlich tun, und nur Jakob und ich werden wissen, welche Sorgfalt ich auf ihren Anbau verwendet habe. Es hat mich Jahre gekostet, die Rebstöcke wieder heranzuziehen, nachdem sie den Tomaten hatten weichen müssen. Ja, Jakob wird das Geschenk zu schätzen wissen; Jacqueline wird nur die Stirn runzeln. Ich kann nicht verstehen, daß er sie heiratet. Über die Jahre hin war er in sie verliebt und ist ihr so beharrlich nachgelaufen, daß er nun endlich mit ihr zum Standesamt gehen darf. Es ist unglaublich, was eine Frau einem Mann, der in sie verliebt ist, antun kann. Umgekehrt mag es genauso sein; ich glaube aber, daß Männer Frauen Kummer bereiten, nachdem eine Beziehung zustande gekommen ist, während Frauen Männern Kummer bereiten, bevor es soweit ist. Jakob hat hier oft übernachtet, wenn es zwischen beiden wieder einmal kriselte. Wir ruderten dann stundenlang durchs Reetland, zählten am frühen Morgen Vögel, er sprach pausenlos von ihr, und wenn er sich alles von der Seele geredet hatte, ging er wieder. Wird nun irgendwann sie kommen, um sich über ihn zu beklagen? Das scheint mir undenkbar.

Ich verlasse das Treibhaus und gehe über den Kiesweg zum Haus. Wie unter einem Zwang drehe ich mich noch einmal um und betrachte die gekalkten Scheiben meiner beiden Gewächshäuser. Sie stehen dort als Symbole unseres manischen Drangs zum Züchten. Ich stamme aus einer Familie, die sich der Vervollkommnung der Rebenzucht verschrieben hat. Meine Verwandten zogen Trollinger und Alicanter, köstliche Tafeltrauben, die für den Export bestimmt waren und auf den Versteigerungen hohe Preise erzielten. Das ist nun vorbei. Meine Onkel – die ohne Ausnahme Gärtner waren – haben alle anstelle der Reben Tomaten und Gurken gepflanzt, und sogar mein Vater hat schließlich aufgegeben und sich auf den Anbau von Nachtschattengewächsen verlegt. Warum? Manchmal glaube ich nur deshalb, weil die Fruchtansätze der Trauben während des Wachstums ausgedünnt werden müssen. Und dieses Ausdünnen gelingt eigentlich nur den feinen, schlanken Fingern von Frauen- und Kinderhänden. Sie waren einfach unentbehrlich. Vielleicht habe ich die Rebstöcke nur in der Hoffnung zurückgeholt, damit irgendwann Frauenhände – und möglicherweise sogar Kinderhände – zu verlocken, die heranreifenden Trauben auszudünnen.

Von Kindheit an habe ich den Beruf meines Vaters und meiner Onkel verachtet. Ich wollte kein Gärtner werden, ich wollte berühmt werden, auch wenn ich keine genauen Vorstellungen hatte, wie ich das schaffen sollte. Um überhaupt eine Chance zu haben, berühmt zu werden, mußte ich auf jeden Fall herausragende Leistungen aufweisen, und das tat ich auch, zuerst in der Volksschule, später im Gymnasium und danach als Student; aber bevor es soweit war, hatte ich mit meinem Vater zu kämpfen, der mich nach sechs Volksschuljahren in die Gärtnerei stecken wollte. Da kamen die Lehrer. Über die Wiesen fanden sie den Weg zu unserem Haus und redeten auf meinen Vater ein. Gegen seine Starrköpfigkeit kam keiner von ihnen an – bis auf den Rektor. Jedes Jahr nahm er sechs Wochen an Wehrübungen teil; er hatte den Rang eines Hauptmanns und trug die dazugehörige Uniform Tag für Tag auch in der Schule. Er führte die Klasse wie ein Regiment. Wenn er morgens hereinkam, rief er: »Habt … acht«, und sofort saßen wir kerzengerade, mit verschränkten Armen, in unseren Bänken. Dann ließ er einen Psalm singen, meistens Psalm 68: »Erhebet er sich, unser Gott, seht, wie verstummt der Frechen Spott, wie seine Feinde fliehen!« Anschließend sprach er jeden Tag dasselbe Gebet: »General im Himmel, zu Dir kommen wir am Morgen dieses Tages und erbitten Deinen Segen für unsere Arbeit. Oh, Du, Oberbefehlshaber der himmlischen Heerscharen, gib uns die Kampfeslust, auch heute zu rechnen, zu schreiben und zu lesen zu Deiner Ehre. Entzünde unseren Glauben wie Pulver in einer Kanone, die auf die Diener Satans abgefeuert wird. Bewahre uns vor Krieg. Nicht weil wir es verdienen, sondern nur aus Gnade. Amen. Rührt euch und holt die Bibeln hervor!«

Wir lasen das Alte Testament, Josua oder die Bücher der Könige, die Chroniken. Und danach, in der Geschichtsstunde, erzählte er von unserem Achtzigjährigen Krieg, damals im 17. Jahrhundert, vom Rauch der Kanonen und von wiehernden Pferden auf Schlachtfeldern. Dieser Mann redete mit meinem Vater. An einem Winternachmittag begleitete er mich nach Schulschluß über den schmalen Steinplattenweg quer durch die Wiesen zu unserem Haus. Meine Eltern waren beeindruckt von seiner riesenhaften Statur, seiner Uniform, seiner grauen, tadellos gekämmten lockigen Mähne, seiner donnernden Stimme. Er benutzte nur ein einziges Argument, verpackt in zwei Bibelzitate. Er sprach über das Gleichnis von den anvertrauten Talenten und vom Licht unter dem Scheffel. Mein Vater gab sich geschlagen, stellte aber eine Bedingung: während der großen Ferien sollte ich in der Gärtnerei arbeiten. So besiegte der Rektor meinen bibelfesten Vater mit Hilfe der Bibel.

Auf dem Gymnasium war ich selbstverständlich ein Musterschüler. Es war einfach undenkbar, daß ich faulenzte, den Lehrern das Leben schwermachte oder meine Hausaufgaben vergaß, denn ich wollte mein mühsam erworbenes Recht auf Weiterbildung nicht leichtsinnig verspielen. Wenn ich sitzengeblieben wäre oder wenn sich die Lehrer über mich beschwert hätten, wäre das für meinen Vater ein Beweis gewesen, daß ich die Talente nicht besaß, auf die der Rektor angespielt hatte, und er hätte mich von der Schule genommen. Die Gärtnerei war eine Drohung. Doch damit war es vorbei, als ich mein Abitur in der Tasche hatte. Mit dem Abitur in die Gärtnerei, das wäre eine Verschwendung von Talent gewesen. Aber was nun? Mein Vater wollte mich nur dann studieren lassen, wenn ich Arzt würde oder die Hochschule für Landwirtschaft in Wageningen besuchte. Diese praktischen Berufe reizten mich überhaupt nicht. Ich wollte Biologe werden. Nach längerem Hin und Her war er mit dem Studium der Biologie als minderwertige Alternative zur Medizin und Agrarwissenschaft einverstanden.

So wurde ich Biologe. Im September wurden wir zur Einführung in unser Studium durch die verschiedenen biologischen Institute geführt. Am letzten Nachmittag zeigte man uns auf dem Dachboden eines dieser Institute eine Gewebekultur. Eine Laborantin erzählte uns, daß die orangefarbenen Zellen, die wir sahen, aus einer einzigen Karottenzelle herangezogen waren. Diese primitive Züchtung machte einen überwältigenden Eindruck auf mich. Ich hatte eine Vision, sah eine schwindelerregende Perspektive vor mir. Ich erschauderte. Meine künftigen Kommilitonen stellten Fragen, lachten und plauderten. Der Blick durch die schmutzigen Fenster über den Botanischen Garten interessierte sie mehr als diese Züchtung. Ich starrte ängstlich auf das Reagenzglas. Ich durfte es halten und betrachtete den formlosen Zellhaufen. Den ganzen September über, als die meisten anderen ihre Einführungszeit bei den verschiedenen studentischen Vereinen verbrachten – ich nicht, ich war ein Einzelgänger –, dachte ich über die Gewebezüchtung nach. Ich half meinem Vater in der Gärtnerei. Morgens um fünf standen wir auf und pflückten Tomaten in den Treibhäusern, die sich nach und nach erwärmten. In der grüngelben Farbe der pflückreifen Tomate sah ich das fahle Orange der Zellen im Reagenzglas. Und auch wenn ich damals noch nicht wußte, warum, war ich mir ganz sicher, das gefunden zu haben, was ich tun und worüber ich mehr wissen wollte.

Das Studium war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Jeden Vormittag mußte ich zu Seminaren in den Nebenfächern: Physik, Chemie und Geologie; nachmittags zeichnete ich Querschnitte von Plattwürmern und Seesternen, Süßwasserpolypen und Pantoffeltierchen. Ich wohnte bei Onkel und Tante. Der Onkel war angeheiratet, also kein Züchter. Aber auch er war ein Gezeichneter; er hatte sich nämlich vorgenommen, ein Perpetuum mobile zu erfinden. Nach dem Abendbrot verschwand er regelmäßig im Schuppen hinterm Haus, und zuweilen hörten wir, wie er Schreie ausstieß; eines Tages kam er am späten Abend ins Wohnzimmer gerannt und rief: »Ich hab's, ich hab's.«

Mein ungläubiges Lächeln beachtete er nicht.

»Kommt«, sagte er.

Wir folgten ihm in den Schuppen. Im Halbdunkel sahen wir eine kreisförmige Bahn, die dadurch entstanden war, daß mein Onkel eine Schüssel aus glänzendem, polierten Metall mit einem Außenring aus demselben Material versehen hatte, das in dem Raum funkelte. Der Rand der Schüssel und der sie umgebende Ring, beide mit messerscharf geschliffenen Kanten, bildeten eine schmale Schiene, in der die Kugeln friedlich ihre Runden drehten. Sie bewegten sich, ohne daß auch nur die geringste Verminderung ihrer Geschwindigkeit zu bemerken war. Es...


Hart, Maarten 't
Maarten ’t Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Bücher machten ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.



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