E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Hart Der Psalmenstreit
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96037-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-492-96037-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
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Die vornehmen Meister
Am Abend des 9.Oktober anno 1739, nach dem Jahrhundertfest, durfte er mit einem brennenden Leuchter zu Bett gehen. Stolz trug er, nach jedem Schritt kurz innehaltend, damit sich die flackernde Kerzenflamme beruhigen konnte, den glänzenden Leuchter in sein Mansardenzimmer. Dort angekommen, stellte er das Licht behutsam auf die Kommode. Wenn der Schlaf sich seiner erbarmt hatte, würde Marije kommen, um die Kerze zu löschen.
Er lag in seiner Bettstatt und schaute durch die Wimpern zu der Kerze hinüber. Die Flamme kam schneller zur Ruhe als er. Noch immer glühten seine Wangen. Zum ersten Mal hatte er nicht nur Ventilhörner, Fagotte und Pauken gehört, sondern sogar echte Streichinstrumente! Lange bevor sie in der Kirche erklangen, hatte Meister Spanjaard der Reihe nach auf die schon bereitstehenden Instrumente gedeutet und feierlich ihre Namen genannt.
»Sind das etwa nicht die Geigen?« hatte er gefragt.
»Nein, das sind die Gamben, die Geigen sitzen schräg dahinter.«
»Aber die sind doch viel kleiner«, hatte er erstaunt und auch recht enttäuscht festgestellt.
»Ja, sie sind längst nicht so groß wie die Gamben, aber dennoch klingen Geigen am schönsten.«
Ob das stimmte? Das dunkelrote, gelackte Holz der großen Gamben hatte im Licht der Oktobersonne, das durch die hohen Kirchenfenster hereinströmte, prächtiger geflammt als der Firnis der Geigen.
An einem der Tage davor hatte Meister Spanjaard in der Schule aus der Zeitung vorgelesen: »Da es am kommenden Freitag hundert Jahre her sein wird, daß die Groote Kerk allhier vollendet und die erste Predigt dortselbst gehalten wurde, wird Pastor Hoffman zum Gedenken daran morgens predigen. Anschließend wird das Jubelfest mit mancherlei musikalischen Instrumenten durch vornehme Meister gefeiert werden. Während des Gottesdienstes sind jedwedes Handwerk und jedweder Broterwerb strikt untersagt, des weiteren der Ausschank, das Kegeln, das Schlagballspielen und dergleichen Exerzitien, auf daß der Tag des Dankes durch keinerlei Ungehörigkeiten turbiert werden möge.«
»Allerlei musikalische Instrumente hier in Maassluis, das übersteigt allen Verstand, es ist ihnen hoch zu Kopfe gestiegen, sie scheißen wahrhaftig höher, als ihnen der Schwanz hängt«, hatte Meister Spanjaard gesagt. »Dort eilen wir in aller Frühe hin, denn sonst finden wir nicht einmal mehr einen Stehplatz.«
»Das Presbyterium hat sogar dafür gesorgt, daß am Freitag kein Markt abgehalten wird«, hatte seine Mutter spitz bemerkt, als er zu Hause von den verschiedenen Musikinstrumenten berichtet hatte. »Die sind offenbar irre geworden. Na, mich werden sie jedenfalls nicht verrückt machen. Freitags in die Kirche! Im Morgengrauen hin und in der Abenddämmerung wieder zurück, das kann ich dir flüstern. Als ob ich dafür Zeit hätte. Freitag Schrubbtag, vorne und hinten, wo soll das hinführen, wenn sie aus Freitagen Sonntage machen? Werden die Mittwoche dann Freitage?«
Ungeachtet ihres wütenden Protests war die Kirche an jenem Freitagmorgen tatsächlich bereits lange vor Beginn der Feierlichkeiten voller Menschen. Und er hatte dort, sich unter dem dunklen Tonnengewölbe nichtig wie ein Sommergoldhähnchen fühlend, neben Meister Spanjaard und dessen Sohn Thade gesessen und zum grimmigen Pferdekopf von Pastor Hoffman aufgesehen. Das rechte Auge des Predigers war geschlossen, doch links von der Nasenwurzel wölbte sich hoch auf seiner Stirn, gleich unter der schmuddeligen Mähne seiner grauen Perücke, eine riesige Augenbraue, so daß es so aussah, als spähte der Pastor mit einem blitzenden, weit aufgerissenen Zyklopenauge unaufhörlich zu den Hunderten von Kirchgängern hinüber.
Hoffman hatte weitläufig geschildert, wie das Dorf aus einigen Hütten in Höhe der Monsterse Sluis geboren worden war und wie die eigensinnigen Bauern aus Maasland sich während des zwölfjährigen Waffenstillstands im Achtzigjährigen Krieg bis zum Äußersten gegen die Abtrennung von Maassluis gewehrt hatten. Dennoch habe der Ratspensionär Johan van Oldenbarneveld am 18.Mai 1614 das Separationsdokument unterschrieben. Danach sei das Dorf, dank der besonderen Gunst des Allmächtigen, so schnell gewachsen, daß sich sogar die aus dem Jahr 1598 stammende Kirche an der Hoogstraat, die anstelle einer hölzernen Kapelle errichtet worden war, schon bald als zu klein erwiesen habe. Indem man eine Steuer von einem Stuiver pro Tonne Kabeljau, Schellfisch und Dorsch sowie sechs Stuivern pro hundert Stück Lengfisch erhoben habe, sei es innerhalb von elf Jahren gelungen, ein Kapital von 14699Gulden und acht Stuivern anzusparen, genug für den Bau einer neuen Kirche. Der Grundstein sei im Jahre 1629 gelegt worden, und zehn Jahre später habe Pastor Fenacolius die Kirche am 8.Oktober 1639 weihen können.
Auf diese Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte der Groote Kerk ließ Hoffman eine Predigt von gut einer Stunde über Jesaja 33, Vers 20, folgen: »Schaue Zion, die Stadt unseres Stifts«. Anschließend memorierte er die Vortrefflichkeiten aller Magistrate und Gerichtsherrinnen des vergangenen Jahrhunderts und dankte ihnen der Reihe nach für ihre Verdienste bezüglich der Groote Kerk. Zwischendurch wurden die Psalmen Davids angestimmt, getragener sogar als an echten Sonntagen, so daß manche Strophen fast eine Viertelstunde dauerten.
Aber nach Vortrag, Predigt, Dankeswort und schleppendem Psalmengesang waren schließlich doch noch die dunkelbraunen Violen und die geflammten Gamben erklungen. Während er von seinem Bett aus die bewegungslose Kerzenflamme fixierte, wußte er immer noch nicht, ob er das eigenartige wogende Rauschen der Violen und Gamben atemberaubender gefunden hatte oder den majestätischen Klang der nagelneuen Garrels-Orgel. Es war, als müßte man zwischen Iltis und Otter wählen. Den Iltis, der von allen verabscheut wird, hatte er vom ersten Tag an, als er ihn in der Abenddämmerung durch den Garten schleichen sah, heimlich geliebt. Welch einen wunderschönen, mattglänzenden, dunkelbraunen Pelz hatte so ein Iltis. Und wie lustig das spitze Schnäuzchen mit den dünnen, weißen Ohrmuscheln und die kecken Wechsel von grauen und dunkelbraunen Flecken bei Mund und Augen aussahen. Im Vergleich dazu fiel der Otter, von allen ebenso gehaßt wie sein kleiner Vetter, der Iltis, deutlich weniger auf, denn er war von gleichmäßigerer Färbung und hatte eine weniger ausdrucksstarke Schnauze. Allerdings hatte er, als er eines Morgens in aller Frühe in den Garten geschlichen war, einen Otter am Goudsteen im klaren Wasser der Noordgracht auftauchen sehen. In den ersten Strahlen der Morgensonne hatte sich der augenscheinlich auf der Stelle schwimmende Otter im Wasser des Vliet aufgerichtet und, während die Goudsteentropfen aus seinen Schnurrbarthaaren fielen, ohne jede Scheu zu ihm hinübergesehen. Er hatte den Blick erwidert und gesagt: »Wir haben noch eine halbe Tonne Präsenthering im Keller stehen. Ich werde dir ein Fischlein holen.« Doch als er mit dem Hering wieder in den Garten kam, war der Otter bereits verschwunden. Am nächsten Tag war er erneut mit einem Fisch in den Garten gegangen, und nachdem er eine kleine Weile gewartet hatte, kam der Otter beinahe geräuschlos angeschwommen und riß ihm dann blitzschnell und unerwartet den Präsenthering aus den Fingern, um ihn ein Stück weiter, im Schilfrand, laut schmatzend, prustend und brummend, aber auch ab und zu zufrieden aufschauend, rasend schnell hinunterzuschlingen. Danach war er bellend wie ein Hund in den goldenen Strahlen des ersten Sonnenlichts weggeschwommen.
Was danach im vorigen Sommer geschehen war, schien fast ein noch größeres Wunder zu sein als der sprechende Esel des Bileam oder die schwimmende Axt des Propheten Elias. Der Otter war schon nach etwa einer Woche aus dem Wasser des Goudsteen ans Ufer gekommen, hinein in ihren Garten, um ihm den Ihle aus der Hand zu reißen. Nach einem Monat hatte er den Otter streicheln dürfen, und eines Tages war der Otter, nachdem er seinen Hering verschlungen hatte, im Vliet verschwunden und mit einer glänzenden Brasse im Maul wieder aufgetaucht. Die zappelnde Brasse hatte er im Garten zwischen die blauweißen Blütenkronen des Ehrenpreis gelegt. War die Brasse für ihn bestimmt? Als er sie nehmen wollte, hatte der Otter warnend gebellt, den Fisch rasch wieder ins Maul genommen und war damit untergetaucht.
Gut, Samuel wurde, als er in seinem Bett lag, vom Herrgott selbst gerufen, und das war ihm noch nie passiert, aber Samuel hatte nie Freundschaft mit einem Otter geschlossen. Jedenfalls stand davon nichts in der Bibel, ebensowenig wie von Fledermäusen, die einem an schwülen Sommerabenden ganz knapp über den Kopf schwirrten, als wollten sie sich einen Scherz erlauben und einen erschrecken. Im Buch des Propheten Jesaja wurde die Fledermaus in einem Atemzug mit dem Maulwurf erwähnt und so getan, als handele es sich bei ihnen um gräßliche Tiere, in deren Löcher man Götzen hineinwirft. Aber Fledermaus und Maulwurf hatten doch keinerlei Gemeinsamkeiten? Und über flatternde Schmetterlinge stand auch nichts in der Bibel, obwohl man sich doch einen Sommer ohne gaukelnde Kohlweißlinge, Hauhechelbläulinge und Schwärmer kaum vorstellen konnte. Während er an die zierlichen unbiblischen Schmetterlinge dachte, tauchte, als müßte es jedesmal, wenn er im Bett lag, so enden, die drängende Frage auf: War tatsächlich von allen Tieren, also auch von den in der Bibel so schmählich vergessenen Schmetterlingen, ein Paar auf der Arche Noahs gewesen? Und auch von all den Käfern und Insekten, die in der Bibel ebensowenig erwähnt werden? Und von den Seehunden, die man auf den Sandbänken in der Brieler Maas in der Sonne liegen sehen...