E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Hart Das Paradies liegt hinter mir
14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-492-96733-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine frühen Jahre
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-492-96733-4
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
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Jedermann
Für die meisten Menschen ist es ganz selbstverständlich, dass sie einzigartig sind. Ihre Eltern haben ihnen möglicherweise einen Namen gegeben, der häufig vorkommt, wie zum Beispiel Jan oder Maria, der aber in Verbindung mit ihrem Nachnamen sofort einmalig klingt. Auf der ganzen Welt gibt es bestimmt keinen anderen Menschen, der wie meine Frau Hanneke van den Muyzenberg heißt. Doch als ich geboren wurde und den Namen Maarten erhielt, gab es allein in meiner Verwandtschaft bereits sechs weitere Personen mit demselben Vor- und Nachnamen. Seitdem sind in der nächsten Generation noch ein Dutzend Maartens dazugekommen; mein Bruder hat einen Sohn, der ebenfalls Maarten ’t Hart heißt.
Auch außerhalb meiner Verwandtschaft wimmelte es in Maassluis von Männern, die Maarten ’t Hart hießen. Zwei Straßen von unserem Haus entfernt wohnte ein hinkender Milchmann gleichen Namens. Im Katechismusunterricht war ich, zum Entsetzen des Pastors, einer von dreien, die so hießen. Und die beiden anderen Jungen waren nicht einmal mit mir verwandt. Auf dem Weg zur Schule kam ich jeden Tag an einer Metzgerei vorbei, an der mein Name wie folgt prangte: »Maarten – großer Schweinekopf mit Gruselzähnen – ’t Hart«. Als ich anfing, Bücher zu veröffentlichen, gab es sehr bald Verwirrung, weil ein niederländischer Maler, der vor allem für seine Kircheninterieurs bekannt ist, auch Maarten ’t Hart heißt.
Wenn in Anbetracht dessen doch wenigstens mein Äußeres einmalig wäre! Aber auch das scheint nicht der Fall zu sein. Vor Jahren verbrachten Hanneke und ich einen Urlaub im Kiental in der Schweiz, wo zwei Damen mittleren Alters uns so inständig beobachteten, dass wir uns belästigt fühlten. Am vierten Tag wurde es uns zu viel, und wir fragten, was das Problem sei. »Ja«, sagten sie, fröhlich lachend, »wir erkennen dich sehr wohl, auch wenn du so tust, als würdest du uns nicht kennen. Du machst hier fein mit deiner Freundin Urlaub, während deine Frau nichtsahnend zu Hause sitzt.«
Ein andermal identifizierte man mich neben der Post in Warmond als einen aus der psychiatrischen Anstalt Sancta Maria in Noordwijkerhout entflohenen Irren. In Edinburgh sprach mich auf der Straße eine junge Frau an und nannte mich Geoff. Sie zeigte mir sogar ein Foto von diesem Geoff. Ich sah mich selbst.
Vor einiger Zeit dann war ich in Schweden, und als meine schwedische Übersetzerin mir ihren Mann vorstellte, da starrte dieser mich erstaunt an. Sie berichtete mir später, ihr Mann habe abends im Bett zu ihr gesagt: »Er sieht genauso aus wie ein Infanteriehauptmann, der bei uns arbeitet. Es ist wirklich unglaublich, er hat exakt dieselbe Stimme.«
Auf dem Rückflug von Schweden saß ich neben einem Astronomen aus Leiden, der mir erzählte: »Diesen Sommer ist uns in den Appalachen vielleicht etwas Merkwürdiges passiert. Wir haben dort eine Wanderung unternommen, und auf einmal kamst du uns entgegen. ›Hallo, Maarten, was machst du denn hier?‹, fragte meine Frau. Es stellte sich jedoch heraus, dass es sich um jemand vollkommen anderes handelte, einen Jagdaufseher. Wir haben ihm erzählt, dass es in den Niederlanden einen Schriftsteller gibt, der ihm verblüffend ähnlich sieht, und haben ihn gefragt, ob wir ein Foto von ihm machen dürften. Im Gegenzug haben wir versprochen, ihm ein Foto von dir zu schicken. Moment, ich glaube, ich habe einen Abzug eingesteckt, für den Fall, dass ich dich irgendwo treffe.« Er griff in seine Innentasche, und da war er wieder: der Mann, den ich in Edinburgh schon aus einer Damenhandtasche hatte auftauchen sehen und den ich jeden Morgen beim Rasieren im Spiegel erblicke.
Mich scheint es überall zu geben. Mindestens zweihundert Niederländer tragen denselben Namen wie ich. Selbst in den Appalachen laufen Doppelgänger von mir herum. Notgedrungen bin ich daher ein ausgesprochener Individualist. Zum Glück hat keiner der Doppelgänger und auch kein anderer Maarten ’t Hart dieselben Vorfahren wie ich. In Biografien und Autobiografien (etwa in Nabokovs Erinnerung, sprich) werden diese Vorfahren in der Regel ausführlich beschrieben. Nicht selten geht man dabei viele Generationen weit zurück, fast immer der männlichen Linie folgend. Das erscheint wenig sinnvoll, wenn man bedenkt, dass wir von jedem Großelternteil nur fünfundzwanzig Prozent der Gene erben. Dennoch kann es erhellend sein, jemanden durch die Beschreibung seiner Großeltern zu charakterisieren. Erbliche Eigenschaften überspringen schließlich häufig eine Generation; beim Enkel kommt die Kleptomanie des Großvaters wieder zum Vorschein. Da Großeltern oft keinen Einfluss auf die Erziehung haben, liegt es nahe, hier an Vererbung zu denken. Von den Urgroßeltern stammt dann allerdings nur noch ein Achtel unserer Gene. Ist es sinnvoll, noch weiter zurückzugehen? Auf jeden Fall ist es unsinnig, bei der Ahnenforschung nur die männliche Linie zu verfolgen.
Daher beginne ich auch lieber mit meiner Ururgroßmutter Hester van der Kooij, die natürlich mit einem Maarten ’t Hart verheiratet war und gemeinsam mit diesem im Westgaag in Maasland eine Gärtnerei bewirtschaftete. Unzufrieden über die leichtsinnige Verkündigung des Evangeliums in der Niederländisch-Reformierten Kirche in Maasland unternahm sie sonntags stundenlange Fußmärsche, um anderenorts das Wort des Herrn unverschnitten zu hören. Als sie vierzig Jahre alt war, starb sie an Tuberkulose. Am 8. Juli 1859 standen ihre zutiefst betrübten Familienangehörigen an ihrem Bett, sie jedoch sagte: »Trauert nicht, sondern singt:
›Im Festtagskleid steigt sie zum Thron,
erscheint vor Gott und seinem Sohn.‹«
Über die anderen sieben Ururgroßmütter und acht Ururgroßväter weiß ich nichts; das stört allerdings nicht weiter, ich bin stolz auf diese eine Ururgroßmutter. Von einigen meiner acht Urgroßeltern kann ich etwas mehr erzählen. Einer von ihnen hieß Hendrik ’t Hart; ein Foto zeigt einen früh gealterten Mann, der sich auf eine Schaufel stützt. Auch er war Gärtner. Des Weiteren habe ich den Großvater meiner Mutter, Leen van der Giessen, einmal leibhaftig gesehen. Seine Kinder und Enkel haben ihn nie besucht, weil er, so berichtete mir meine Mutter, ein Ungeheuer war. Das konnte und wollte ich als achtjähriges Kind nicht glauben. Er war schließlich mein Urgroßvater. Ich beschloss also, ihn zu besuchen. Ganz beiläufig horchte ich meine Onkel und Tanten aus und erfuhr so, wo er wohnte. An einem freien Mittwochnachmittag begab ich mich auf die Fähre nach Rozenburg. Fahrgeld hatte ich nicht, doch ich wusste, dass erst mitten auf dem Strom kassiert werden würde. Ich ging zum Heck und sagte zu dem Kassierer: »Mein Vater steht da vorne.«
»Wer ist denn dein Vater?«
»Der Mann da«, erwiderte ich und deutete möglichst vage auf eine kleine Gruppe von Rozenburger Hühnerbauern. Der Kassierer grummelte etwas, ging zunächst weiter und packte mich dann am Arm, als wir auf Rozenburg anlegten.
»Für dich hat keiner bezahlt«, sagte er.
»Nein«, sagte ich und riss mich los, »dafür bezahl ich nachher doppelt, wenn ich zurückfahre. Mein Urgroßvater gibt mir Geld.«
Ich war nämlich überzeugt, dass mein Urgroßvater sich sehr darüber freuen würde, seinen Urenkel zu sehen, er würde mich bestimmt mit Münzen überhäufen. Eltern waren in aller Regel nett zu ihren Kindern, hatte mich die Erfahrung gelehrt, und Großeltern waren noch viel netter zu ihren Enkeln und neigten sogar dazu, sie zu verwöhnen. Wie unvorstellbar nett mussten dann Urgroßeltern sein! Frohgemut marschierte ich über die sonnige, wunderschöne, idyllische Insel. Immer wenn ich auf Rozenburg unterwegs war, wähnte ich mich in einem fernen Land, wo die Dinge anders dufteten, wo die Menschen einen mit dem Rad gemächlicher überholten, wo immer die Sonne schien, wo sich die Vögel in einer verständlichen Sprache miteinander unterhielten. Oh, welch eine herrliche Insel! Der vollkommen stille Pfad am Fuße des winzigen Deichs, mit dem Naturgebiet De Beer an der Spitze – wie gern würde ich dort noch einmal spazieren gehen! Doch Rozenburg gibt es nicht mehr, die Insel wurde, mitten in Friedenszeiten und ganz ohne Atombombe, vollkommen ausgelöscht. Und so bekommt man heute das Gefühl, die Erinnerung an dieses Paradies beruhe auf einer Welt, die niemals existiert haben könne.
Ich ging weiter auf dem schmalen Weg, der am nach Gras duftenden Deich entlangführte. Über mir balgte sich der Westwind verspielt mit den Rozenburger Wolken. Nach einer guten Stunde erreichte ich das Häuschen, von dem ich aufgrund der mir gegebenen Beschreibungen annahm, dass es sich dabei um das Heim meines Vorfahren handelte. Es war ganz still dort; ein paar Hühner schoben bei jedem Schritt den Körper unter dem Kopf durch, eine Katze döste auf einem Zaun, ein Hahn hielt seinen Kopf schief und schaute misstrauisch, eine weiß-braune Taube mengte sich unter die Hühner, tat gerade so, als gehörte sie dazu, und pickte rasch ein paar Getreidekörner auf. Zielstrebig betrat ich den Hof. Augenblicklich erschien durch das, was ich als Kind immer als »kaputte Tür« bezeichnete, ein uraltes, ganz in Schwarz gekleidetes Männlein, das kaum größer war als ich. Der kleine Kerl brüllte. Um ihn zu beschwichtigen, rief ich aus der Ferne: »Ich bin ein Sohn von Lena van der Giessen!« Das war erst recht Öl ins Feuer; der alte Mann packte eine Bohnenstange und fing an zu tanzen. Eine Frau tauchte auf, seine Tochter, die Stiefschwester meines Großvaters, die ihn zu beruhigen versuchte. Vergeblich. Der Alte wedelte seine Bohnenstange wie eine Wünschelrute hin und her und kam drohend auf mich zu.
»Ich bin dein Urenkel!«, rief ich noch, doch es nützte...