E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Harrower Die Träume der anderen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8412-1832-2
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1832-2
Verlag: Aufbau Digital
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ich kann diese brillante Schriftstellerin nicht nachdrücklich genug empfehlen.« James Wood, The New Yorker. »Elizabeth Harrowers bester Roman: die tragische Geschichte der Schwestern Laura und Clare, die unter den Einfluss des herrschsüchtigen Felix Shaw geraten. Ein Meisterwerk.« James Wood, The New Yorker Sydney, 1940er Jahre: Anstelle der überforderten Mutter ist es Laura, die für sich und die sieben Jahre jüngere Schwester Clare das Geld nach Hause bringen muss. Als der Chef ihr das Angebot macht, für Clares Schulgebühren aufzukommen, gibt sie seinem Werben nach. Laura wird seine Frau. Dem psychischen Terror, dem beide jungen Frauen fortan ausgesetzt sind, steht Clares langsam wachsender Widerstand gegenüber, ihre Vision von einem selbstbestimmten Leben. Ein herausragender Roman über die Kraft der Frauen, wie er aktueller nicht sein könnte - das Meisterwerk einer der wichtigsten Autorinnen Australiens, übersetzt von Alissa Walser. »Was für eine Wiederentdeckung!« The Paris Review
Elizabeth Harrower, geboren 1928 in Sydney, veröffentlichte in den fünfziger und sechziger Jahren vier Romane, für die sie viel Anerkennung erhielt. Als ihre Mutter starb, der sie sehr nahestand, beendete sie abrupt ihre Schriftstellerkarriere. Seit einigen Jahren wird ihr Werk in immer mehr Ländern als literarische Wiederentdeckung gefeiert. Auf Deutsch liegt bislang nur ihr erst 2014 aufgefundener letzter Roman »In gewissen Kreisen« vor. Alissa Walser, geboren in Friedrichshafen, lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie übertrug Autorinnen wie Paula Fox und Sylvia Plath ins Deutsche.
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Teil Zwei
Felix entfernte Unkraut im Rasen. Seit sechs Wochen jätete er täglich Unkraut, er begann vor dem Frühstück und hörte nicht vor fünf Uhr nachmittags auf. Anfangs meinte Laura, diesem Durchhaltevermögen hafte etwas Krankhaftes an (auch wenn Durchhaltevermögen eigentlich eine Tugend war), aber inzwischen akzeptierte sie es.
»Ich gehe nur kurz einkaufen, Felix. Kann ich dir was mitbringen?« Sie lehnte sich vorn über das Verandageländer und rief zu ihm hinunter. Es folgte eine Pause. Sie wartete. Nach einer Weile hob er sein freudloses Gesicht, die Augen auf Höhe ihrer Schuhe, die er mit blinder Verachtung ansah. Dann beugte er seinen Rücken wieder wie ein Sklave.
Laura ging los.
So wie Jack Roberts verschwunden und angeblich wahnsinnig erfolgreich geworden war, so war auch Peter Trotter verschwunden und erfolgreich geworden. Ohne Interessen und ohne Einkommen war Felix zu mürrisch, um sich je weiter vom Haus zu entfernen als bis in den Garten. Auch wenn er diese Erfahrung schon öfter gemacht hatte, überraschte und grämte es ihn, dass er, nachdem die Firma verkauft war und Peter sie bekommen hatte, nun keine Firma mehr besaß und Peter nicht mehr wie früher regelmäßig treffen durfte. Er nahm sich vor, die Situation tapfer durchzustehen; mit den unangenehmen Konsequenzen hatte er allerdings nicht gerechnet.
Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis für verschiedenste Sachverhalte. Er konnte sehr lange Zahlenreihen, bestehend aus Pfund, Shilling und Penny, so schnell addieren wie eine Rechenmaschine. Ob er Unkraut ausgrub oder Abweichungen in den Firmenkonten verfolgte oder Kartons packte – er war fast so ausdauernd wie eine Maschine. Seine Konzentrationsfähigkeit lag weit über dem, was ein Betriebspsychologe mit dem Wort »hervorragend« beschreiben würde. Wäre er zur Schule gegangen, wäre ihm eine Karriere in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen möglich gewesen, und er hätte seine bewundernswerte Aufmerksamkeit auf die Rätsel und Fragen gelenkt, die es zu lösen galt. Jetzt, da er nichts anderes zu tun hatte, als tagein, tagaus seine enormen Rasenflächen zu jäten, wurde ihm allerdings klar, dass ihn irgendjemand mittels eines geheimen Plans in diese Situation gebracht hatte. Hinterrücks. Während er schlief. Es gab nichts Unheimlicheres und Gefährlicheres als – Menschen. Rachlustig jätete er.
Laura kam bald vom Einkaufen zurück, an jedem Finger baumelte ein Einkaufsnetz, und begann die Hausarbeit, immer wieder aufseufzend, so wie sie es tat, wenn sie allein war. Als sie verstohlen durch die leichten Gardinen spähte, fiel ihr Blick auf die kauernde Gestalt ihres Ehemannes. Armer Felix!
Sein Elend war ansteckend. Nicht dass er etwas sagte! Tatsächlich schwieg er. Und er sah kaum jemanden an. Nie, nie lächelte er. Das erwartete auch niemand von ihm angesichts der Situation – er schlich nur langsam ins Haus, mit dieser düster vergrämten und verbitterten Miene, die bei ihr, wenn er an ihr vorüberlief, grässliche Angst auslöste und ein Gefühl der Schuld. Clare blickte ihm traurig nach.
»Wo ist der Herald?«
(Er sprach! Na so was!)
Felix studierte die Spalte »Unternehmen zu verkaufen« beim Frühstück, und das zog sich dann ziemlich in die Länge. Buttrige Fingerabdrücke schmückten die Ränder der Zeitungsseite.
»Komm mal für einen Moment her. Ich will ein paar Briefe diktieren.«
(Auch so eine seiner gelegentlichen Ansagen.)
Nach dem Essen und an den Wochenenden lud er seine Familie in den Wagen, fuhr hinaus, besichtigte unzählige skurrile Firmen, die geschäftstüchtige Männer (mit großem Bedauern) loszuwerden hofften, und die Art, wie diese Männer verfuhren, stand gewöhnlich im genauen Gegensatz zu dem, wie Felix seine Firma losgeworden war, denn bei ihm waren alle Gewinne in die andere Richtung geflossen. Je fadenscheiniger und verrückter die Erfindung, von der das Schicksal des Käufers abhing, desto faszinierter war Felix.
Zu einem besonders dubiosen Verkäufer sagte er: »Ich bin hin und weg. Wirklich großartig, dieser Apparat. Ich bin überzeugt. Was spricht dagegen, dass er sich verkauft wie warme Semmeln?« (Die Antwort blieb ihm der Erfinder schuldig.) »Gemessen an der Einwohnerzahl, rechne ich mit …«
Laura beäugte ängstlich die wackligen Geräte aus Kork, Blech und Schnur – Spielzeuge, Anti-Schepper-Einrichtungen für Fensterklimageräte, Handschuhtrockner. In ihrem locker gewellten Haar entdeckte sie mehrere graue Haare.
»Jetzt schon?«, fragte Clare, starrte sie überrascht an und erinnerte sich an die gar nicht lange zurückliegende Zeit, als Laura so alt war wie sie jetzt.
»Ab fünfundzwanzig braucht die Haut in der Nacht Nährstoffe«, hieß es in der Werbung, »beugen Sie verräterischen Alterserscheinungen vor, die Ihre Schönheit trüben.« Fünfundzwanzig! Darüber hatte sie immer gelacht. Die Werbung konnte alles behaupten. Aber schau einer an – bei Laura zeigten sich graue Haare.
Im Badezimmer zog Felix ein Taschentuch aus der Bademanteltasche und wischte sich die Augen. Weihnachten setzte ihm zu. Er hatte gerade ein Geschenk von Laura ausgepackt, da hatte er einen Hustenanfall vortäuschen und aus dem Zimmer gehen müssen. Damit ihm keiner folgte, hatte er mit dem Arm gefuchtelt.
»Ach, wozu denn Geld?«, sagte er und stopfte Unterwäsche, Badeanzüge, Schokolade und Bücher in Kissenbezüge.
Im Gegenzug erhielt er ein Hemd, eine Brieftasche, einen Füller, eine Pfeife, einige Nüsse und einen Kompass, den er sich seit Jahren gewünscht hatte. Laura hatte über Monate jedes Sixpencestück aus der Haushaltskasse zweimal umgedreht, um genug anzusparen. Clare hatte nach Schulschluss für Mrs. Robertsons Kunden an der Schreibmaschine gesessen, und beide hatten das Guthaben von Konten abgehoben, die jetzt nicht mehr existierten. Aber im Nachhinein hatte es sich absolut gelohnt!
Geben und nehmen, Geld ausgeben, echtes Geld, und dafür Waren erhalten – für Felix war das ein über jedes normale Maß hinaus symbolischer, schmerzhafter und lohnender Akt. Zu geben hieß gleichermaßen zu sühnen, damit verschaffte er sich neue Vorteile, bekommen hieß gleichermaßen bewundert, geliebt und respektiert zu werden.
»Nach dem Frühstück runter an den Strand, danach zum Weihnachtsessen nach Hause. Was hältst du davon?« Die Arme locker schwingend, marschierte er nach hinten Richtung Schlafzimmer und rief von dort nach vorn.
Als hätte Felix mit seinem Lächeln die Tore nach Utopia geöffnet, schaute Laura aus dem Bett zu ihm auf, sie – wieder einmal sichtlich eingelullt von einem in rotes und blaues Papier eingepackten Beweis seiner Zuneigung. Da war er endlich: der wirkliche Felix! Sie meinte damit nicht den Schenkenden, sondern den Mann mit dem großen Herzen, der sich von traditionellen Ritualen so schnell rühren ließ, den Mann, der sie und Clare jetzt voller Sympathie ansah und sich nach ihrer Anerkennung sehnte, und es erleichterte sie zutiefst, dass er darum bat. Säckeweise, er könnte säckeweise Wohlwollen haben. Von heute an stand ihr hoffnungsvoll klar vor Augen und Geist: Das war Felix, und so würde er immer bleiben. Himmel, er war auch nicht anders als alle anderen; nichts als schön sollte alles sein. Laura bemerkte, dass er endlich glaubte, dass sie es nicht auf sein Leben abgesehen hatte, nicht auf sein Erspartes oder seinen Stolz, sondern dass sie wollte, was er wollte – das Beste für Felix. Nervös spielten ihre Finger an einem blauen sternbedruckten Papier herum und zerknitterten es.
Jenseits der Stacheldrahtbarrikaden, die man aufgestellt hatte, um die japanischen Angreifer aufzuhalten, glänzte der trockene Sand und gab unter ihren Füßen knirschend nach. Es herrschte eine starke, tosende Brandung, der Strand war überfüllt. Clare ging allein ins Wasser, sie ließ die anderen unter dem gestreiften Schirm zurück, wo sie alle kaum Platz hatten. Laura hielt ihre Beine in die Sonne, Felix seinen Rücken. Die Wellen hoben Clare hinauf und ließen sie sanft hinabgleiten. Ihre Arme und Beine bewegten sich wie Seegras im flaschengrünen Wasser. Als sie, Gesicht nach unten, im Wasser lag und sich tragen ließ, hätte sie erleichtert aufstöhnen können. Was für ein strahlender Tag! Hinauf, hinauf und sanft hinab, der Ozean dehnte sich aus. Sie lag träumend auf dem Wasser, bewegte schwebend Beine und Finger, als wäre es eine verlässliche Matratze.
»Ich habe vor einigen Tagen Reg Carrolls Kunstblumenmanufaktur gekauft.« Am zweiten Weihnachtsfeiertag rückte Felix mit der Sprache heraus.
Laura schützte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne und sah zu ihm hoch, barfuß stand er da und löste am vorderen Ende des Gartenschlauchs einen Knoten. »Ach, was du nicht sagst, mein Lieber. Es freut mich, dass du etwas gefunden hast.«
»Du und die kleine Clare, ihr seid auch dabei.«
»Ach ja? Hast du gehört, Clare?«
Clare, die lustlose Gärtnerin, hockte vor einem Petunienbeet und zupfte Unkraut. »Wobei?«
»Ein wenig im Büro aushelfen, ein wenig in der Produktion.« Felix löste den letzten Knoten und drehte mit einem ziemlich abgründigen Blick auf seine Angestellten an der Schlauchdüse herum. »Fünf Mädels sind schon da. Wenn ihr zwei noch dazukommt, läuft es rund. Ach und übrigens«, hob er überspannt an und konnte seinen Stolz nicht verbergen. »Reg und seine Frau kommen morgen Abend zum Essen, wirf also am besten zwei, drei Kartoffeln mehr in den Topf.«
Himmel, war er gut drauf, er konnte...




