E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Harrison Black Sheep
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98676-210-0
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Horror-Thriller
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-98676-210-0
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wer hat schon eine »normale« Familie? Doch die von Vesper ist ... sehr speziell. Mit 18 ist sie abgehauen, ohne je zurückzublicken – denn wer die strenge religiöse Gemeinschaft einmal verlassen hat, darf niemals heimkehren!
Aber dann erhält sie plötzlich die Einladung zur Hochzeit ihrer geliebten Cousine Rose. Ein Friedensangebot? Oder eine Falle? Soll sie zurückkehren in die toxische Umgebung, der sie entflohen ist? Noch einmal ihrer erbarmungslosen Mutter Constance entgegentreten?
Vespers Heimkehr wird ein schreckliches Geheimnis enthüllen …
Rachel Harrison verbindet das Unheimliche mit psychologischer Tiefe. Ein eindringliches und unvergessliches Leseerlebnis.
USA Today: »Ein höllischer Coming-of-Age-Roman mit apokalyptischen Ansätzen und einer köstlichen dunklen Ader.«
Library Journal: »Eine messerscharfe Stimme voller Witz und Humor.«
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2
Wieder einmal musste ich feststellen, dass ich mich hinsichtlich der Hölle geirrt hatte. Ich war nach wie vor überzeugt, dass sie existierte, aber es war eben nicht dieses Geburtstagslied und auch weit entfernt von Shortee’s. Dieses Mal hatte ich sie wirklich gefunden, unter den geschäftigen, dampfenden Straßen von Manhattan.
Die Hölle, das war Penn Station.
New Jersey Transit, das Schattenreich.
Ich versuchte, mich in eine schmierige Ecke zu flüchten, während ich auf meinen Zug wartete, aber es war unmöglich, nicht im Weg zu stehen. Ein Mann schmetterte seinen Koffer gegen mein Schienbein, sodass ich gegen einen Mülleimer taumelte. Er grunzte frustriert und schüttelte den Kopf, als wäre es meine Schuld gewesen.
»Tut mir so leid, Sir«, rief ich ihm nach. »Wie vermessen von mir, Masse zu besitzen.«
Er ignorierte mich und ging weiter.
Ich beobachtete meine Mitreisenden Richtung Jersey. Fremde, Menschen, die ich niemals kennenlernen würde, die an den Deckeln ihrer Kaffeebecher herumfummelten und ihre Quittungen auf den Boden fallen ließen – schamlose Umweltverschmutzung. Sie saßen auf der Treppe unter Schildern, auf denen stand, dass man nicht auf der Treppe sitzen durfte. Sie unterhielten sich laut, schimpften viel zu streng mit ihren Kindern oder überhaupt nicht. Ich sah, wie ein Kind zwischen die Beine eines überraschten Geschäftsmanns kroch. Ich sah eine junge Frau mit langen blonden Haaren und Louis-Vuitton-Gepäckset, die sich direkt vor einem großen Ventilator niederließ, sodass sie die vermutlich einzige Quelle der Erleichterung in diesem unterirdischen Brutkasten blockierte.
Ich suchte nach einem Augenpaar, das Blickkontakt aufnehmen würde, nach jemandem, der diesen existenziellen Schrecken teilte. Es gab Augen, Hunderte, vielleicht Tausende von Augen, aber sie waren alle trübe und merkwürdig leer wie die Augen von Zombies, blass leuchtend im iPhone-Licht. Diese sanfte, alles entlarvende Helligkeit.
Ich konnte gut verstehen, dass sie sich in ihre Telefone flüchteten; ich beneidete sie darum. Bei meinem war der Akku leer und ich fand keine Steckdose, um ihn aufzuladen. Ich nahm an, nahe dem Ventilator musste eine sein, aber die Blondine saß direkt davor, ihre Koffer um sich herum verteilt wie eine Brandmauer. Sie hatte sich auf dem Boden breitgemacht und sah sich ohne Kopfhörer und mit voll aufgedrehtem Ton Videos an.
In meinem Kopf hörte ich Kerris Stimme, die mir sagte, dass ich nicht immer das Schlechteste von den Menschen denken solle. Vielleicht hätte ich diesen Rat auch angenommen, wenn sie nicht die Arbeit geschwänzt hätte, um sich mit einem Kerl zu treffen, der sie nicht mal mochte, was in direkter Folge zu meiner Entlassung geführt hatte. Und vielleicht hätte ich diesen Rat angenommen, wenn mein Instinkt nicht in 100 Prozent der Fälle richtiggelegen hätte. Und vielleicht – nur vielleicht – hätte ich ihren Rat angenommen, wenn ich nicht ausgerechnet zur Hochzeit meiner Cousine/besten Freundin mit meiner ersten und einzigen großen Liebe unterwegs wäre. Wenn ich nicht unterwegs zu dem Zuhause wäre, das ich verlassen hatte, um niemals, nie, nie wieder zurückzukommen. Und wenn ich nicht, um ehrlich zu sein, ein bisschen zu irre gewesen wäre.
»Entschuldigen Sie?«, sagte ich zu der Blondine. Ich sah die Steckdose direkt hinter ihr.
Sie tat so, als würde sie mich nicht hören.
Ich erwog, sofort aufzugeben, aber wie gesagt, ich war irre.
»Entschuldigung, hinter Ihnen ist eine Steckdose und ich muss mein Handy aufladen.« Ich hielt mein Telefon in die Höhe, als müsste ich in einem Schauprozess die Beweise präsentieren.
Erneut ignorierte sie mich. Über ihr mit Make-up zugekleistertes Gesicht huschte ein Ausdruck der Verärgerung – ihre einzige Reaktion auf meine Anwesenheit.
»Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach, aber es tat mir meinetwegen leid, nicht ihretwegen. »Ich würde nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«
Sie verdrehte die Augen und schnalzte mit der Zunge. »Mach doch, ich bin nicht im Weg!«
Aber sie war durchaus im Weg.
»Na gut«, sagte ich und gab auf.
Manchmal stellte ich mir vor, eine Art Register in meinem Innern zu haben, das durch meinen Schädel schwebte. Eine altertümlich aussehende Schriftrolle, in der ich mit Feder und Tinte all die Ereignisse notiert hatte, die meinen Zynismus bestärkten, meinen Mangel an Vertrauen in die Menschheit. Ich hatte keine Ahnung, woher diese Vorstellung kam oder welchem Zweck sie diente. Es war albern. Manchmal fühlte ich mich damit besser, manchmal nicht so sehr.
Diesmal, an diesem speziellen Tag, konnte ich nicht passiv und abgestumpft sein, weil ich aktiv genervt war. Es war eine Sache, kein Vertrauen in die Menschheit zu haben, angewidert und enttäuscht vom Großteil der Bevölkerung zu sein. Aber ich trug gerade außerdem einen frischen Groll gegen die Person mit mir herum, die ich immer für die strahlende Ausnahme gehalten hatte. Für den Inbegriff des Guten.
Ich kam nicht darüber hinweg, stellte mir immer wieder dieselbe Frage: Wie konnte Rosie mir das nur antun?
Sie überschattete alle anderen Fragen, einschließlich der, die mich im Moment sehr viel mehr hätte beschäftigen sollen, nämlich: Warum haben sie mich eingeladen? Oder eher: Wie haben sie mich eingeladen?
Ich hatte die Kirche verlassen, und wenn man das tat, war man endgültig raus; man war erledigt. Es gab kein Zurück, keine Besuche oder Ferien oder Jahrestage oder Geburtstage. Oder Hochzeiten. In den sechs Jahren, seit ich gegangen war, hatte niemand versucht, mich zu erreichen. Warum also jetzt? Warum so?
Das musste ich herausfinden. Außerdem wollte ich verdammt sein, wenn ich Rosie und Brody heiraten ließ, ohne dass sie mir zuvor in die Augen sehen mussten.
Wochen hatte ich in diesem Gefühlschaos verbracht, und jetzt, am Bahnhof, das Ticket für die Heimfahrt in Händen, wünschte ich mir nur noch Ablenkung. Ich wollte mit meinem Handy spielen, mich in einem Artikel über die ethischen Aspekte von Kryptowährungen oder die Existenz von Ufos oder die schmutzige Scheidung irgendwelcher Promis verlieren. Ich wollte etwas über die Modetrends für den Herbst lesen, das Revival von Hüftjeans bejammern oder ein Foto von einem zerzausten Ben Affleck anstarren, der sich gerade in einer Drogerie in West Hollywood ein Deo kaufte.
Aber all das konnte ich nicht machen, und zwar weil diese rücksichtslose Blondine und ihr teures Designergepäck im Weg waren und sie sich weigerte, ein paar Zentimeter zur Seite zu rücken, um einer Fremden zu helfen, die höflich um einen simplen Gefallen gebeten hatte. Sie lachte über irgendetwas – ein lautes, gackerndes Kichern – und warf dabei den Kopf zurück, sodass sie gefährlich nahe an den Ventilator geriet.
Was, wenn die Blätter hungrig werden würden? Was, wenn sie ihr hübsches blondes Haar von ihrem dummen Dickkopf reißen würden? Würde sie dann auch lachen? Würde sie es bereuen, nicht zur Seite gerückt zu sein?
Ich fragte mich, ob mich meine Jugend voller religiöser Texte, die brutale Bestrafungen und aggressive Selbstjustiz beschrieben, auf derart gewalttätige Rachefantasien konditioniert hatte oder ob ich einfach nur völlig durchgeknallt war. Unmöglich zu sagen.
Ich warf mir meine Tasche über die Schulter und ging zur Toilette. Es gab eine lange, lange Schlange.
Als ich endlich ans Waschbecken kam, spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und wischte es mit einem Papiertuch ab.
Ich warf einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild. Ich hatte noch nie gern vorm Spiegel gestanden, weil mein Gesicht zu sehr dem eines Menschen glich, den ich nicht ertragen konnte. Der mich nicht ertragen konnte. Solange ich denken konnte, sah ich sie, wenn ich mich ansah. Früher hatte ich mich gefragt, ob es ihr auch so ging, aber nach Jahren des Grübelns war ich zu dem Schluss gekommen, dass Constance Wright zu egozentrisch war, um irgendjemanden außer sich selbst zu sehen.
Als ich von der Toilette zurückkam, war die Blondine weg, die Steckdose frei und ich fragte mich, ob ich einfach nur zu ungeduldig gewesen war. Womöglich war ich der Arsch in der Geschichte. Womöglich war ich zu schnell damit, die gesamte Menschheit wegen einer kleinen Unannehmlichkeit zu verdammen.
»Auf Gleis zwölf fährt ein …«
Eine Menschenwelle schwappte an mir vorbei durch den Bahnhof.
»Mit Halt in Secaucus …«
Ich wusste nicht, ob der gerade ausgerufene Zug mein Zug war; die Durchsage war zu undeutlich und wegen der vorbeiziehenden Stampede konnte ich keine der Anzeigetafeln sehen. Mir blieb keine Wahl, als mich der Masse zu ergeben, wenn ich nicht Mufasas Schicksal teilen wollte.
Ich trieb den ganzen Weg bis Gleis zwölf mit. Die Leute waren viel zu dicht an mir dran, der Wunsch nach Distanz fiel dem verzweifelten Drängeln in Richtung Zug zum Opfer. Da waren Schultern, Knie, Ellbogen, Fäuste, lauter verwirrende Extremitäten, die nicht zu mir gehörten, aber jetzt irgendwie befestigt zu sein schienen, untrennbar mit mir verbunden. Lauter heiße Münder, Atem, der meinen Nacken versengte. Jemand stank und ich fürchtete, dass ich das sein könnte. Ich hatte feuchte Haut, konnte aber nicht unterscheiden, ob die Feuchtigkeit von mir stammte oder von jemand anderem. War das mein Schweiß oder der eines Fremden?
Ich sah...