E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Harris Der lange Winter am Ende der Welt
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97732-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-97732-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Beim Versuch, im Jahr 1926 einen neuen Rekord im Alleinflug aufzustellen, schafft es John Robert Shaw bis Alaska. Doch dann gerät er in einen Sturm und gilt fortan als verschollen. Völlig unvermutet wird John 17 Jahre später gefunden - 17 Jahre, in denen er mit den Inuit gelebt hat, in einer Einöde aus ewigem Eis und Schnee. Nun sieht er sich gezwungen, zum zweiten Mal ein völlig neues Leben zu beginnen ... Ein bewegender Roman über die Macht der Liebe und den Mut, den eigenen Träumen und Passionen zu folgen.
Julie Harris, geboren 1957, lebt in Queensland, Australien. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder war unter anderem als Theaterautorin und Regisseurin tätig, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei zuwandte. 'Der lange Winter am Ende der Welt' ist ihr dritter Roman. Er erschien erstmals 1996 in deutscher Übersetzung und wurde auf Anhieb ein großer Erfolg.
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1 An dem Tag, an dem er aufwachte und seinen Namen wußte, brach fast die Sonne durch die Wolkendecke. Er erinnerte sich auch fast daran, wie er dorthin gekommen war; er erinnerte sich aber nicht, warum oder wann. Eine Zeitlang war er überzeugt, sich irgendwo südöstlich von Anchorage zu befinden. Das einzige, woran er sich vage erinnerte, war der Sturm, der sich allmählich zusammenbraute. Er war seit einer halben Stunde unterwegs gewesen und schon wieder auf dem Heimflug, als der Hundertzwanzig-Meilen-Gegenwind, der dann zum Seitenwind und schließlich zum Rückenwind wurde, jede Hoffnung auf eine Zukunft zunichte machte. In diesem Augenblick existierte nichts außer ausströmendem Treibstoff und leckgeschlagenen Ölleitungen, und als die Jenny schließlich, was unvermeidlich war, den Geist aufgab, wurde alles zu einer dunklen, stechenden Stille, bis er die Felswand sah und die erstarrte See. Und dann folgten Sekunden, die ihm wie Stunden vorkamen, bis die Maschine aufschlug und zerschellte. Bilder erschienen ihm in Wachträumen, zerbrechliche, zerfetzte, verblaßte, nicht greifbare Bilder, die nur allzuoft verwirrend waren, weil es den Anschein hatte, als gehörten sie zu jemand anderem und nicht zu ihm. Meist drehte sich nur alles in seinem Kopf, da er den Absturz in immer neuen Alpträumen durchlebte, die ihn aufschreien ließen. Wenn er aufwachte, hörte er fremde, glückliche Stimmen singen oder die Laute von spielenden Kindern. Das Echo der Trommeln verscheuchte die Dämonen, bis er wieder die Augen schloß. Die Frau war allgegenwärtig – die sanfte, beruhigende Stimme, die Berührung der behandschuhten Hand. Gelegentlich zeigten sich die neugierigen, von Pelz umrahmten Gesichter der anderen, die wahrscheinlich sehen wollten, ob er noch am Leben war oder nicht. Er lag dann reglos auf dem Rücken und beobachtete sie. Manchmal lächelte er diese Gesichter an, aber meist wünschte er, sie würden gehen und ihn in Ruhe lassen und den elenden Wind mitnehmen. Dann, eines Tages, als der Nebel sich so weit gelichtet hatte, um ihm einen Blick auf einen Strand jenseits des Felsens zu ermöglichen, als die schmale Öffnung zu dieser unwirklichen Welt aus ständiger Kälte durch einen Hauch von Sommer geöffnet wurde, kam die Frau wieder herein. Sie trug ein schweres Bündel. Sie zog die Felle herunter und versperrte ihm die Sicht. Es war zwecklos, sie zu bitten, die Tür wieder aufzumachen und etwas frische Luft einzulassen. Wann immer er sprach, lächelte sie nur. »Was hast du diesmal mitgebracht?« fragte er. Sie wuchtete das Bündel auf den erhabenen Erdtisch, wandte sich ihm zu und grinste. Es war ein in Seehundfell gewickeltes Paket. Sie öffnete es und lächelte dabei immerzu, als wüßte sie, daß es seinen Schmerzen ein Ende machen würde, wenn er dies zu sehen bekam. Sie hielt eine Allwettertasche hoch, deren Griffe verrostet und zerbrochen waren. Dann förderte sie die Sachen zutage – Kuriositäten für sie, aber nicht für ihn. Das Logbuch eines Piloten, Bleistifte, Karten. Ein Kompaß, ein Dosenöffner. Sein Bowiemesser. Gabeln, Löffel. Eine verrostete Konservendose mit Bohnen. Eine gefrorene Orange, Unterwäsche und seine Ersatzmütze. Vor allem war da Papier – ein Bündel brüchigen, stockfleckigen gelben Papiers. Vielleicht war dies der Augenblick, in dem er sich zu erinnern, wahrhaft zu erinnern begann. Er nahm als erstes das Logbuch in die Hand; weil es im Meerwasser gelegen hatte, klebten die meisten Seiten zusammen. Manche rissen bei der kleinsten Berührung. Die Tinte war verlaufen, aber hier und da erkannte er ein Wort. Vor allem den letzten Eintrag: 23. April ’26. 0700 Uhr. Anchorage verlassen. Vorräte und Treibstoff ausreichend, um nach Vancouver zu fliegen. Nordöstlicher Wind, dreißig Knoten. Teuflischer Sturm, der sich im Nordwesten am Horizont zusammenbraut. Sollte es schaffen bis … John seufzte. Anchorage. Ihm fiel ein, daß er versucht hatte, aus Alaska seine Schwester anzurufen – per R-Gespräch. Er erinnerte sich, daß Mrs. Johnson ihm sagte, es nehme niemand ab, ob er es wieder versuchen könne? Sie hatte ihr ganzes einfaches Leben in Abbeville, South Carolina, verbracht. Vielleicht glaubte sie, Anchorage liege in Kentucky oder Georgia. Also hatte er Mrs. Johnson die Nachricht hinterlassen – »Sagen Sie Meg, daß ich nach Hause komme« –, und als er auflegte, wußte er, daß Meg die Nachricht nie erhalten würde. John sah die Frau an. Sie studierte das Bowiemesser, dann den Silberlöffei mit dem eingravierten BHS – er gehörte der Familie Shaw seit der Boston Tea Party. Er sah ihr an, daß sie ihn haben wollte, und so nickte er, und das Lächeln, das sie ihm dafür schenkte, war ansteckend. Sie fand ein Versteck für ihr neues Spielzeug und kam wieder, diesmal mit den beiden Schalen aus Bugholz. Eine enthielt vier Mundvoll erwärmten Seehundbluts und die andere die dicke schwarze Salbe, mit der sie ihn pünktlich zu jeder vollen Stunde einrieb – jedenfalls kam es ihm so vor. Er wehrte sich nicht mehr. Es führte zu nichts. Das Blut verursachte ihm auch keine Übelkeit mehr wie zu Anfang, und er trank es schnell mit der Würde eines Kindes, das Rizinusöl schluckt. John vermutete, daß die Salbe so etwas wie ein Antiseptikum der Eskimos war. Was immer es war, es linderte den Schmerz ein wenig. Er saß still, während sie ihm etwas davon ins Gesicht rieb. Er blieb still sitzen, als sie ihm seinen Parka auszog und auch die Brust einrieb. Er wandte jedoch wie immer das Gesicht ab, als die schwarze Salbe sorgfältig und mit sanfter Behutsamkeit auf den Stumpf seines linken Arms getupft wurde. Dann legte er sich hin, wie die Routine es verlangte, nahm das Logbuch in die Hand und versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, während die Frau seinen linken Fuß ergriff und sein linkes Bein bewegte. Er sah nicht allzu viele Wörter – die scharfen, stechenden Schmerze waren stärker als alles andere, bis das Bein taub wurde. Er hatte sich beim Absturz schwer verletzt – den Arm und fast das Bein verloren. Er hatte sich das linke Schlüsselbein gebrochen, ein paar Rippen und sich auch am Kopf verletzt. An manchen Tagen, wenn sein Sehvermögen beeinträchtigt war und sein Gleichgewichtsgefühl aussetzte, wagte er nicht, sich zu rühren, sondern blieb vollkommen still liegen, denn schon die kleinste Bewegung bereitete ihm höllische Schmerzen. Diese Tage wurden jedoch immer seltener. Er war dabei, sich zu erholen, und das hatte er nur der Frau zu verdanken. Als sie fertig war, ließ sie ihn allein, aber diesmal schlief er nicht. Er langte in seine Allwettertasche und tastete blind nach einem Bleistift. Er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen. Vielleicht komme ich hier nie mehr lebend raus, dachte er, aber vielleicht findet eines Tages jemand meine Aufzeichnungen, und dann wird meine Familie wissen, daß ich nicht gestorben bin. Man wird mich vielleicht für verschollen halten, vielleicht sogar für tot, aber ich möchte nicht, daß jemand denkt, ich sei wie Bobby gestorben. Die größte Angst seiner Mutter, fast Wirklichkeit geworden. John richtete sich auf dem Bett auf, so gut er konnte, so daß er mit dem Rücken gegen das Treibholz gelehnt aufrecht sitzen konnte. Zwei der Kochtöpfe der Frau hingen ihm über die linke Schulter; der Pelz des Saums ihres Winterparka kitzelte ihn im Nacken. Es war bequemer, wenn er das rechte Bein hob, so daß das Logbuch darauf lag, aber es kam ihm fremdartig und fast unmöglich vor, mit der rechten Hand den Bleistift zu halten. Und es stellten sich keine Worte ein. War es nicht immer so gewesen? Er zeichnete statt dessen ein Flugzeug. Die Linien waren nicht ganz korrekt, aber es war doch die 1923er Jenny, die er seit wann geflogen hatte¼ Februar? War er im Februar aus Miami abgeflogen? Er konnte Daumen und Zeigefinger nur zum Teil bewegen – zum Schreiben genügte es aber. Er hatte die rechte Hand nicht mehr benutzt, seit er neun Jahre alt war. Und für John, der sich so lange Zeit bemüht hatte, sich an seinen Namen zu erinnern, kehrte die Kindheit wie eine Flutwelle zurück. So schrieb er sie auf, so schnell er konnte, falls alles wieder verschwinden würde und damit für immer verloren war wie er selbst. Es war der 14. Juni 1911. Wir lebten in der Nähe eines Flugplatzes in Abbeville, South Carolina, obwohl ich es kaum einen Flugplatz nennen kann, denn damals war es nur ein Feld, und in jenen Tagen konnte man überall landen, wo das Gelände flach und baumlos war. Und vierhundertfünfzig Meter waren alles, was Billy Taylor je gebraucht hatte. Billy Taylor flog meinen Traum, und jeden Tag um fünf nach vier gab sich meine Mutter die größte Mühe, ihren Zorn herunterzuschlucken, wenn er direkt über unser Haus hinwegbrauste. Sie murmelte etwas von neumodischen Erfindungen und fluchte leise vor sich hin, weil die Hühner seit sechs Wochen keine Eier gelegt hatten. Aber mir waren die Hühner egal. Da war immer dieser Junge, der auf dem Zaunpfahl balancierte und zusah, wie sein Held eine Maschine landete, die hustete und spuckte und brüllte, und ich rührte mich nie auch nur einen Zentimeter von der Stelle, bis Billy Taylor den Motor abgestellt hatte und herauskletterte. Ich machte einen Handel mit Gott. Ich sagte etwa, Gott, wenn du mich so fliegen läßt wie Billy Taylor, werde ich freiwillig in die Sonntagsschule gehen. Das wird Ma überraschen, nicht wahr, Gott? Dich auch, nehme ich an. Sir. Nun, Gott mußte mich gehört haben, aber trotzdem lief nie etwas so, wie ich es mir gedacht hatte. Billy Taylor sah mich nie auf diesem Zaunpfahl balancieren, jedenfalls glaubte ich das, bis zu jenem...