E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Harper Die Rache der Polly McClusky
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-8437-1710-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1710-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jordan Harper wurde 1976 in Missouri geboren. Er war Musikjournalist, Filmkritiker und Fernsehautor. Als Drehbuchautor war er u.a. Lead Writer bei den Fernsehserien The Mentalist und Gotham. Er lebt in Los Angeles, wo er als Autor und Produzent arbeitet.
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1
POLLY
Fontana
Sie ließ die Schultern hängen wie ein Loser, versteckte ihr Gesicht hinter den Haaren, aber sie hatte Augen wie ein Revolverheld.
Die Augen von ihrem Dad, sagte ihre Mom, meist nach ein paar Whiskey-Pops, wenn sie es hinbekam, über ihren Ex zu sprechen, ohne von Wut vergiftet zu werden. Dann zerkaute sie das Eis und erzählte Polly von seinen besonderen, strahlend blauen Augen. Und dass Wild Bill Hickok, Jesse James und Kampfpiloten die gleichen hätten. Dass Scharfschützenausbilder Rekruten mit genau solchen hellen, blauen Augen suchten. Polly sagte ihrer Mutter nicht, was sie wirklich dachte. Hätte sie’s getan, hätte sie gesagt, dass das mit den Revolverheldenaugen nach verkacktem Bockmist klang. Polly konnte gar keine Revolverheldenaugen haben, weil sie kein Revolverheld war. Polly war niemals gewalttätig, gegenüber nichts und niemandem, außer der Haut an ihren Fingernägeln und ihren Lippen, die sie wund kaute.
Polly hielt also nicht viel von Revolverheldenaugen. Jedenfalls nicht, bis sie eines Tages zur Tür der Fontana Middle School herausspazierte und in die Augen ihres Vaters starrte.
Revolverheldenaugen, ungelogen. Hellblau, genau wie ihre eigenen, aber da war noch was anderes, das Pollys Herz bis ins Genick schlagen ließ. Später erfuhr sie, dass Augen nicht nur spiegeln, was sie gerade sehen. Sie spiegeln auch das, was sie vorher gesehen haben.
Polly hatte ihren Dad über die Hälfte ihrer elf Jahre nicht gesehen, aber sie erkannte ihn ohne jeden Zweifel. Und als sie ihn dort entdeckte, wusste sie noch etwas. Er musste ausgebrochen sein. Ihr Dad war einer von den Bösen, ein Gangster, und eigentlich gehörte er ins Gefängnis. Ihre Mom hatte gesagt, er habe lieber einer von den Bösen sein wollen als ein Ehemann oder ein Vater. Polly wusste, dass er manchmal Briefe geschickt hatte, aber ihre Mom hatte ihr nie erlaubt, sie zu lesen, und vor ein paar Jahren hatte er aufgehört, welche zu schreiben. Sie wusste, wenn man einen Vater hatte, der einer von den Bösen war, war das praktisch so, als hätte man gar keinen. Besonders wenn er im Gefängnis saß. Sie hatte ihre Mom sagen hören, dass er noch mindestens vier Jahre vor sich hatte, vorher würden die nicht mal darüber nachdenken, ihn rauszulassen, und auch dann nur, wenn er sich gut benommen hatte. Ihre Mom hatte starke Zweifel, dass Nate McClusky dazu überhaupt in der Lage war.
Wenn er jetzt also hier stand und nicht in Susanville saß, dann musste er ausgebrochen sein. Polly fragte sich, ob sie weglaufen oder nach einem Erwachsenen schreien sollte, nach den anderen Eltern oder einem Lehrer. Aber sie tat nichts. Sie stand einfach nur da, erlaubte sich, vor Angst zu erstarren.
Vielleicht würde sie aber gar nicht schreien oder um Hilfe rufen müssen. Hätte ein Erwachsener hingesehen, hätte ein Blick genügt, um zu merken, dass hier was nicht stimmte. Ihr Dad sah nicht aus, als würde er zu den anderen Eltern gehören, die alle weiche Elternkörper hatten, weiche Elternaugen. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt und er war überall tätowiert. So was zeichneten die Jungs in ihrer Klasse hinten auf die Rückseiten ihrer Schulhefte, Drachen und Adler und Männer mit Äxten. Seine Muskeln waren so kräftig und klar definiert, dass es fast aussah, als hätte er gar keine Haut, als wären die Tattoos direkt auf die Muskeln gestochen. Die Haare, die auf den Bildern genauso strohblond waren wie ihre eigenen, hatte er abrasiert. Seinen Gesichtsausdruck kannte Polly weder von den Bildern, die sie im Laufe der Jahre von ihm gefunden hatte, noch aus ihrer verschwommenen Erinnerung. Sie kam nicht drauf, was sein Blick zu bedeuten hatte, aber wegen ihm fühlte sie sich noch schlechter.
Der Tag war heiß und der Himmel schmutzig, die Kinder gingen schnell zu den klimatisierten Autos ihrer Eltern. Sie ignorierten Polly, so wie Löwen mit Blut am Maul Gazellen ignorieren, weil sie gerade erst gefressen haben. Selbst in dieser verrückten Sekunde, in der sich ihr entflohener Sträflings-Dad wie in einem Horrorfilm über sie beugte, war Polly – so wie alle Loser – erleichtert, nicht beachtet zu werden.
Madison Cartwright, die damals in der vierten Klasse als Erste Pudding-Arsch zu Polly gesagt hatte, rempelte sie an, sie war zu sehr mit ihrem Handy beschäftigt, um zu schauen, wohin sie ging. Madison hatte immer neue Klamotten und sogar schon Titten und bewegte sich so geschmeidig durchs Leben wie auf dem Mond. Von ihrem bösen Blick wurde Polly heiß, als schössen Superman-Strahlen aus ihren Augen. Madison machte den Mund auf, um irgendwas messerscharf Schneidendes zu sagen. Dann sah sie Pollys Dad mit seinen Muskeln, den tätowierten Drachen und den Revolverheldenaugen. Sie drehte sich um und ging schnell weg, bekam dabei den Mund nicht mehr zu, was so bescheuert aussah, dass Polly gelacht hätte, wäre sie nicht kurz vorm Heulen gewesen.
Jetzt war nur noch verschmutzte Luft und Schweigen zwischen ihnen, als Polly und ihr Dad dort standen wie bei einem High-Noon-Duell in einem der Western, die ihr Stiefvater so gerne schaute.
»Polly«, sagte ihr Dad, seine Stimme kratzig wie Wolle. »Kennst du mich? Weißt du, wer ich bin?«
Ihre Zunge fühlte sich zum Reden zu dick an, also nickte sie, ja.
Sie dachte kaum nach, griff hinter sich an den Kopf ihres Teddybären, der aus dem Rucksack schaute, und fasste ihm ans Ohr. Das half, tat es immer. Sie verkniff es sich, den Bären rauszuziehen und an sich zu drücken.
»Hör gut zu«, sagte ihr Dad. »Du kommst mit. Jetzt sofort, keine Zeit für Theater.«
Er drehte sich um und ging auf die Straße. Ihr Gehirn riet ihr, ihm nicht zu folgen. Ihr Gehirn riet ihr, lauf wieder rein und suche Mr. Richardson. Es riet ihr zu schreien, Hilfe Hilfe Hilfe.
Aber sie tat nichts davon. Obwohl sie eigentlich unbedingt weglaufen wollte, folgte sie ihm. Schob das Bedürfnis abzuhauen, um Hilfe zu rufen, dorthin, wo sie immer alles hinschob. Was sollte sie sonst machen?
Er führte sie zu einem alten Opa von einem Auto, alle Scheiben waren heruntergekurbelt. Sie stieg ein, den Rucksack zwischen den Knien, so dass der Bär mit seinem einzigen verkratzten schwarzen Auge zu ihr aufsah.
Die silberne Abdeckung fehlte, da wo man sonst den Schlüssel ins Lenkradschloss steckt. Stattdessen ragten Kabel heraus. Ihr Dad griff unter den Sitz und zog einen langen, stumpfen Schraubenzieher hervor, rammte ihn in das Loch und drehte. Der Wagen hustete. Sprang aber nicht an.
Polly brachte den nicht vorhandenen Schlüssel mit der Tatsache zusammen, dass ihr Dad einer von den Bösen war, und begriff, dass sie in einem gestohlenen Auto saß. Sie sah aus dem Fenster zurück zur Schule, als könnte sie dort vielleicht noch die echte Polly unter dem schmutzigen Himmel stehen sehen.
Polly öffnete ihren Rucksack weit genug, um den Bären herauszuziehen.
Er war dreißig Zentimeter groß und braun, nur an den Pfoten, Ohren und der Schnauze war er weiß, wobei die weißen Stellen eigentlich nicht mehr richtig weiß waren. Sie hatten eher die Farbe von dem Packpapier, das Polly im Kunstunterricht verwendete. Eines seiner schwarzen Glasaugen fehlte, zurückgeblieben war nur noch ein trockener Kleberrest, als hätte er den grünen Star. Sie nahm den Bären mit geübten Händen, so dass er auf ihrem Schoss stehen und sich umsehen konnte. Sie hatte Stunde um Stunde mit ihm geübt, bis er sich geschmeidig und elegant bewegte, wie ein echtes Lebewesen.
»Mensch, Mädchen«, hatte ihre Mom einmal gesagt. »Manchmal hab ich das Gefühl, ich weiß besser, was in dem ausgestopften Bären vorgeht als in dir.«
Als sie die Stimme ihrer Mom im Kopf hörte, fragte Polly sich, wo sie war. Wieso ließ sie zu, dass das hier mit Polly geschah?
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für einen Teddybär?«, fragte ihr Dad.
Der Bär schüttelte den Kopf, nein. Ihr Dad musterte Polly so, wie die Leute das immer machten, wenn sie den Bären bewegte, als wäre er lebendig. In dem Blick steckte eine Frage: Tickst du nicht richtig?
Polly fand nicht, dass sie nicht richtig tickte. Sie wusste, dass sie zu alt war für einen Teddybären. Sie wusste, dass der Bär nicht lebendig war. Sie wusste, dass er nur aus Füllmaterial und Plüsch bestand. Aber es war ihr egal.
Wahrscheinlich tickte sie nicht richtig.
Sie sah den Bären in ihren Händen tanzen, bis sie ruhig war, sich lange genug konzentrieren konnte, um die Frage zu stellen, die sie gleich hatte stellen wollen, als sie ihren Dad gesehen hatte.
»Bist du ausgebrochen?«
Ihr Dad schnaubte durch die Nase, ein entfernt mit einem Lachen verwandtes Geräusch.
»Nein. Mein Scheiß-Anwalt hat mich rausgehaun.«
Polly wusste nicht, was das bedeutete, und das machte alles noch schlimmer. Ein Ausbruch war wenigstens ein Begriff, den ihr Gehirn kannte und den sie verstand. Mit raushaun konnte sie nichts anfangen.
Er brachte den Motor dazu, anzuspringen. Aber noch bevor er ausparkte, entdeckte er etwas im Rückspiegel und richtete sich kerzengerade auf. Polly drehte sich um, wollte sehen, was er sah. Ein Polizeiwagen fuhr vorschriftsmäßig langsam – wegen der Schule – an ihnen vorbei. Polly hatte ein Gefühl, das sie nie zuvor gehabt hatte, als wäre die ganze Welt und alles darin nur eine Glasscheibe, die jeden Augenblick zerbersten konnte.
Der Polizeiwagen rollte außer Sichtweite. Ihr Dad sagte etwas zu sich selbst. Für Polly klang es wie verfluchter wandelnder Zombie, aber warum...