E-Book, Deutsch, 215 Seiten
Harper DER MITTERNACHTSENGEL
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7438-7811-2
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Krimi-Klassiker!
E-Book, Deutsch, 215 Seiten
ISBN: 978-3-7438-7811-2
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Er hatte keine Vorsichtsmaßnahme vergessen, als er in dieser Nacht der Entscheidung die Lexington Avenue hinaufging: Seine Verkleidung war ebenso überlegt wie der Plan, den er bereits seit langer Zeit hegte. Nichts Außergewöhnliches ging in ihm vor. Die Gefühle hatte er ausgeschaltet, aber sein Kopf arbeitete gleich einer Präzisionsmaschine. Diesen Mann trieb keine Leidenschaft an - weder Hass noch Verzweiflung, weder Neid noch Gier; nur kalte, logische Berechnung und die feste Absicht, das perfekte Verbrechen zu begehen. Er spürte den Ehrgeiz eines Schachmeisters, dem ein fehlerfreies Spiel gelingen muss. Er empfand keine Mordlust, und dennoch war er im Begriff, jemanden umzubringen... Der Mitternachtsengel - erstmals im Jahr 1969 erschienen - ist ein geradezu klassischer Thriller, der tief in die Psyche des Täters vordringt und der die Grausamkeit und Kälte des Mörders gefährlich nah an den Leser heranführt... Ein düsteres, spannungsgeladenes Meisterwerk aus der Feder von Frank Harper!
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3.
Das Haus 63, östliche 63. Straße war mir bekannt. Verschiedentlich schon hatte ich es in Augenschein genommen und mir wenigstens von außen die Lage der Zimmer eingeprägt. Es war im Stil Louis XIV. erbaut. Ein Palast, und die Zimmer waren Säle. Das Haus war skandalumwittert. Oft waren Reporter dagewesen. In den Zeitungen schrieb man von Kunstschätzen und beispielloser Verschwendung. Schon von weitem sah ich Licht in drei Fenstern. Es waren hohe Fenster mit schweren Vorhängen, die keinen Blick ins Innere zuließen. Alle anderen Fenster waren dunkel, auch die im Dachgeschoss, wo meines Wissens ein Diener namens Bretherton wohnte, der offenbar abwesend war, wie ich aus Roths Behauptung, dass er allein wäre, schloss. Ecke Park Avenue wechselte die Verkehrsampel auf rotes Licht. Ein Dutzend Autos hielten mit einem Ruck. Aus einem der haltenden Wagen konnte ich beobachtet werden. So trat ich in ein dunkles Haustor, bis die Ampel Grünlicht zeigte. Dann überquerte ich die Fahrbahn. Nur eine Frau mit einem Pudel an der Leine stand an der gegenüberliegenden Ecke. »Einen Augenblick, Sir. Haben Sie ein Streichholz?« Mit abgewandtem Kopf eilte ich an der Frau vorüber. Der Pudel bellte mir nach. Rasch bog ich um die nächste Ecke. Wenige Schritte weiter lag das Portal. Darüber brannten zwei kleine Lampen, die man wohl für mich hatte brennen lassen, damit ich die Klingel finden konnte. Hatte ich vorhin, auf dem Weg, noch über allerlei nachgegrübelt und versucht, mir Klarheit über meine Handlungsweise zu verschaffen, so schaltete ich jetzt jeden Gedanken aus und handelte mit kalter Entschlossenheit. Ich durfte keinen Fehler machen. An meiner Fähigkeit zu töten, zumal einen Menschen, den ich persönlich gar nicht kannte, zweifelte ich nicht. Wie angewiesen, drückte ich dreimal auf den Klingelknopf. Alsbald erfolgte ein leises Geräusch, eine Sicherheitsvorrichtung wurde zurückgeschoben, und die schwere Bronzetür tat sich auf. Kaum war ich eingetreten, schloss sie sich auch schon wieder, und ein System von Riegeln versperrte sie erneut. Das beunruhigte mich übrigens nicht. leb war mit all diesen Vorrichtungen vertraut. Ich trat in eine runde Halle, in der es - so lächerlich das klingen mag - nach Weihrauch roch. In der Mitte stand die lebensgroße Statue einer nackten Frau, die flüchtig ein Wollustgefühl in mir hervorrief. Der Fußboden bestand aus schwarzem und weißem Marmor; indirektes Licht fiel auf die Spiegelwände, in denen ich mich selbst hundertfach vorübergehen sah, groß und kräftig wie ein Ringkämpfer, doch mit grüblerisch gefurchter Stirn, und das Haar - den Hut hatte ich abgenommen - genauso schwarz wie das des rabenschwarzen Engels der Nacht. Im Hintergrund der Halle zweigten Korridore ab und eine breite weiße Marmortreppe, mit nackten Frauenstatuen zu beiden Seiten, führte in das obere Stockwerk. Dies waren die Frauen um Roth. Frauen mit prangenden Brüsten und schmalen oder vollen Schenkeln, alle lächelnd, so dass ein Mann wie ich leicht den Verstand verlieren konnte. Sie stellten alle gefeierte Frauen dar. Mir war bekannt, dass Roth einen sehr berühmten Bildhauer eigens dafür beschäftigte, diese Statuen anzufertigen, oft ohne Wissen oder sogar gegen den Willen der betreffenden Frauen. »Dr. Kelly?« Die Stimme kam von oben. »Ja.« »Sie haben mich fast eine Stunde warten lassen. Wissen Sie nicht, wer ich bin?« Obwohl die Stimme hart und anmaßend klang, war doch ein schriller Ton darin. Er hatte Angst. »Ich weiß sehr gut, wer Sie sind, Mr-. Roth«, sagte ich. Und in der Tat wusste ich einiges über ihn, den ich nie zuvor gesehen hatte. So wusste ich zum Beispiel, dass er 1908 in St. Petersburg in Russland geboren war. Sein Vater, Dimitri Roth, war einer der finanziellen Berater des Zaren gewesen. Kurz nach der Revolution war die Familie aus Russland geflüchtet - über Finnland nach Berlin und später nach Paris. Aber ich wusste noch viel mehr über ihn. »Es tut mir leid. Ich wurde aufgehalten.« Den Blick auf Roth gerichtet, der oben auf dem Treppenabsatz stand, stieg ich die Stufen empor. Er trug einen schwarzen Pyjama und war barfuß. Er war gut gewachsen. Er hatte dunkelbraunes Haar und das Gesicht eines herrschsüchtigen Knaben, mit Augen, die oft als kalt und ruhelos beschrieben wurden. »Was ist mit Ihnen los?«, fragte ich. »Ich glaube, es war eine Herzattacke.« »Unsinn. Mir wurde versichert, dass Ihr Herz in Ordnung ist.« »Wer versicherte Ihnen das?« »Dr. Heimerdinger.« Er hielt mir eine sehr gepflegte Hand hin, die ich kurz ergriff und sofort wieder losließ, weil mir die Berührung widerwärtig war. Trotz seines guten Aussehens war er mir so widerwärtig, dass mir zum ersten Mal die Idee kam, dass ich vielleicht doch aus Hass handelte. »Wann hatten Sie den Anfall?« »Vor eineinhalb Stunden im Restaurant Nino, wo ich mit Magda Wald, meiner Sekretärin, war. Es lag nicht am Wein oder am Kaviar, davon bekomme ich solche Anfälle nicht. Ich brach plötzlich in Schweiß aus, und mir wurde so elend, dass ich fast in Ohnmacht fiel.« »Was kann diesen Anfall hervorgerufen haben?« »Die Zahlen«, sagte Roth mit einem verstörten Lächeln. »Die Zahlen?« »Heute waren alle Zahlen gegen mich; es war eine katastrophale Anordnung von Zahlen, so dass ich schon am Morgen nichts als Unglück für mich voraussah.« Er war bekannt dafür, dass er an allerlei Hokuspokus glaubte. Vielleicht quälte ihn zuweilen doch seine innere Verderbtheit - oder es verfolgten ihn die Menschen, die er zugrunde gerichtet hatte. »Glauben Sie wirklich an solchen Unsinn?«, fragte ich. »Es ist kein Unsinn. Es trifft immer zu, und ich richte mich danach. Ich habe sogar eine für den Vormittag anberaumte Konferenz auf drei Uhr nachts verlegt, weil zu diesem Zeitpunkt die Zahlen etwas günstiger für mich zu sein scheinen.« Das konnte eine Gefahr sein. Er erwartete noch jemand in dieser Nacht, und wenn es auch noch längst nicht drei Uhr war, so wurde ich doch von großer Ungeduld erfasst. »Ich habe das Chlorpromazin mitgebracht«, sagte ich. »Kommen Sie!« Er ging mir voran in sein großes Arbeitszimmer, in dem es noch stärker als in der Halle nach Weihrauch roch. Wahrscheinlich gehörte der lange Weihrauchhalm, den ich auf dem Kaminsims glimmen sah, auch zu dem Hokuspokus, mit dem er sich umgab. »Ich muss sicher sein, dass es nicht mein Herz ist. Horchen Sie es ab«, verlangte er. Ich streifte die Handschuhe ab und warf sie in meinen Hut, den ich auf einen Stuhl gelegt hatte. Als ich in meinem Köfferchen nach dem Stethoskop suchte, hatte ich Gelegenheit, mich im Zimmer umzublicken. Es war prunkvoll eingerichtet, mit antiken Dingen, die Königen gehört hatten. Da war, in Purpursamt, ein Thron Napoleons, und in Vitrinen links und rechts davon glitzerten die Smaragde und Brillanten der Kronen Josephines und Marie Louises. Über dem Kamin hing ein Gemälde Bonapartes; das heißt, es war nicht Bonaparte, es war Fedor Roth im Kostüm und in der Pose Napoleons. »Ich bin gleich soweit«, murmelte ich. Hinter grauen Samtvorhängen zählte ich drei Fenster. Ein grauer Teppich bedeckte den Fußboden. Auf dem Stuhl vor dem mittleren Fenster lagen die Kleider Fedor Roths. Die Smokingjacke war zu Boden gerutscht, daneben standen Lackschuhe. Ich sah den flachen Koffer (Handkoffer) mit den Initialen F. R. neben dem Schreibtisch, auf dem die Bilder seiner Eltern standen, Dimitri und Anna Roth. Auf dem Schreibtisch befand sich auch die Kartothek, über die so viele Gerüchte im Umlauf waren; angeblich enthielt sie die Namen seiner Feinde. Daneben lag ein schwarzes Notizbuch. Auf dem Tischchen zwischen den beiden Sofas vor dem Kamin entdeckte ich eine Flasche Courvoisier und zwei gewölbte Cognacgläser; ich sah den roten Abdruck von Lippenstift an einem der Gläser. »Haben Sie Besuch?«, fragte ich beunruhigt. »Nein. Magda Wald brachte mich nach Hause. Wir tranken den Cognac, bevor sie ging. So beeilen Sie sich doch!« »Ich beeile mich ja.« »Können Sie nicht sehen, dass ich am ganzen Körper bebe?« »Das gibt sich gleich.« Er öffnete die Pyjamajacke über seinem glatten und unbehaarten Brustkorb, als ich mit dem Stethoskop in der Hand an ihn herantrat. Sein Herz abzuhorchen - in der genauen Art, die ich meinem Freund abgesehen hatte - war eigentlich nur Zeitverlust. Daten flogen durch meinen Kopf, als ich die Prozedur vornahm. 1929: Ausweisung aus Frankreich wegen skrupelloser Spekulationen mit dem Franc. 1931: Ankauf nahezu wertloser Goldminen in Korea. 1933: Verkauf der Minen für zwölf Millionen Dollar an die Regierung Japans. 1934: Flucht aus Japan. 1936: Ausweisung aus England wegen Devisenschwindeleien. 1938: Trifft mit portugiesischem Pass in Amerika ein und reißt innerhalb eines Jahres die Aktienmehrheit eines halben Dutzends angesehener Gesellschaften an sich. 1940: Heiratet Diana Alison; große Feier im Waldorf-Astoria, zu der der Bürgermeister von New York und mehrere Botschafter erscheinen. 1941: Selbstmord der jungen Frau. 1943: Verweigert Kriegsdienst auf Grund portugiesischer Staatsangehörigkeit. 1945: Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis deswegen. 1949: Heiratet Barbara (Babs) Taylor, Erbin eines Millionenvermögens. 1931: Scheidung. 1953: Wird des verbotenen Waffenhandels mit Russland angeklagt. 1954: Washington leitet Ausweisungsverfahren gegen Roth ein... »Ihr Herz ist in Ordnung«, sagte ich schließlich. »Prüfen Sie auch meinen Blutdruck.« »Wozu? Ihnen fehlt nichts. Es sind nur die Nerven.« »Das Chlorpromazin, Doktor!...