E-Book, Deutsch, 284 Seiten
Hare Der Tote im Wohnzimmer
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7517-6143-7
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inspector Malletts erster Fall
E-Book, Deutsch, 284 Seiten
ISBN: 978-3-7517-6143-7
Verlag: Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am Rande Londons liegt das ruhige Wohnviertel Daylesford Gardens. Hier kennt man sich, schätzt Ruhe und Privatsphäre. Das ändert sich, als zwei junge Makler eine grausige Entdeckung machen: Im Wohnzimmer eines kleinen Mietshauses liegt eine Leiche! Der Tote ist niemand Geringerer als der berüchtigte Börsenspekulant Lionel Ballantine, der nicht wenige Londoner um ihre Ersparnisse brachte. Was mag ihn nach Daylesford Gardens geführt haben? Und wer verbirgt sich hinter dem sonderbaren Mieter der Immobilie? Der Fall ist verzwickt - gerade richtig für den genialen Ermittler Inspector Mallett.
Cyril Hare wurde im Jahr 1900 in Mickleham, Grafschaft Surrey, als Alfred Alexander Gordon Clark geboren. Er studierte Jura am New College zu Oxford und wurde 1924 Anwalt. Daneben pflegte Clark seine schriftstellerischen Ambitionen und verfasste unter dem Pseudonym Cyril Hare neun Kriminalromane. Wie Agatha Christie und Dorothy L. Sayers zählt er zu den Vertretern des »Goldenen Zeitalters« des Detektivromans. Er starb 1985 mit nur 58 Jahren.
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1. Kapitel
Jackie Roach
Freitag, 13. November
Daylesford Gardens, South Western, gehört zu den Londoner Adressen, bei denen selbst der routinierteste Taxifahrer einen Moment zögert, wenn man sie ihm nennt. Nicht, dass er irgendwelche Schwierigkeiten hätte, die ungefähre Lage zu bestimmen, denn es handelt sich um das ruhige und respektable Viertel, wo South Kensington an Chelsea grenzt. Das Problem rührt eher von der Fantasielosigkeit seitens des Baukonsortiums her, das ursprünglich den Daylesford-Grundbesitz irgendwann Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwarf. Denn abgesehen von Daylesford Gardens gibt es noch Daylesford Terrace, Daylesford Square und die Upper und Lower Daylesford Street, ganz zu schweigen von einem hohen, unverputzten Wohnblock aus rotem Backstein, bekannt als Daylesford Court Mansions, und zwei oder drei neuen, fast eleganten kleinen Häusern, die bis heute den Namen Daylesford Mews beibehalten haben. Die Häuser in Daylesford Gardens wiederum sind weder unverputzt noch hoch oder aus Backstein, sie sind auch nicht neu und nicht im Entferntesten elegant. Im Gegenteil, sie sind gedrungen, gelb und in die Jahre gekommen und weisen auf ihren eintönigen, drei Stockwerke hohen Fassaden den gleichen schäbigen Stuckmörtel auf, gelbbraun, aber – bemüht –respektabel. Das eine oder andere dieser Häuser ist zu einer Pension herabgesunken, einige stehen im Verdacht, womöglich Untermieter zu beherbergen, doch größtenteils gelingt es ihnen immer noch, den ungleichen Kampf gegen widrige Umstände fortzuführen und das Banner der Vornehmheit hochzuhalten.
Häusermakler bezeichnen dieses Viertel von jeher als »zurückgezogen«, und die Beschreibung ist in mehr als einer Hinsicht zutreffend. Sie trifft sicherlich auf fast alle Bewohner von Daylesford Gardens zu. Die Häuser sind vor allem Rückzugsort für die nicht allzu wohlhabenden Leute mittleren Alters. Pensionierte Colonels und Richter des Amtsgerichts, ehemalige Verwaltungsbeamte und Seeoffiziere mit Halbsold, darunter ein oder zwei dünne, bleichgesichtige Männer, die zu ihrer Zeit womöglich Gebiete halb so groß wie England verwalteten, sich jetzt aber das Imperium des matschigen Rasens und der verschmutzten Lorbeerschneeballbüsche teilen, welche die »Gardens« ausmachen. Auch ihre Häuser, dezent und bescheiden, scheinen sich von einer wie auch immer gearteten geschäftigen Existenz, die sie einst hatten, zurückgezogen zu haben und mit würdevoller Resignation dem Schicksal entgegenzusehen, das Londoner Häusern bevorsteht, sobald die Erbpacht erlischt.
Am nördlichen Ende von Daylesford Gardens, wo die Upper Daylesford Street, erfüllt vom Lärm der Omnibusse und Lieferwagen, die Grenze zu den ehemaligen Daylesford-Liegenschaften markiert, hatte der Zeitungsverkäufer Jackie Roach seinen Stand. Dort war er jeden Abend anzutreffen, und seine komische Triefnase wackelte unsicher oberhalb seines struppigen roten Schnauzbarts im Takt mit, wenn er mit heiserer Stimme rief: »News – Star – Standard!« Die meisten Hausbesitzer von Daylesford Gardens kannten ihn vom Sehen. Wie viel er über sie wusste, über ihre Lebensumstände, Gewohnheiten und Hausangestellten, ahnten vermutlich die wenigsten von ihnen. Sie gehörten, wie er es formulierte, zu seinen »Stammkunden«, und für ihn war es beinahe Ehrensache, mit den Gepflogenheiten dieser Leute vertraut zu sein. Er kannte – und mochte – den alten Colonel Petherington aus der Nr. 15, mit seinem verschlissenen grauen Anzug und der straffen Körperhaltung, der jeden Nachmittag pünktlich in seinen Club ging und jeden Abend genauso pünktlich zum Essen zurückkehrte. Er kannte die aufgetakelte Mrs. Brent aus der Nr. 34 – die er nicht mochte – und hätte ihrem Ehegatten etwas über den Mann erzählen können, der sie aufsuchte, wenn er nicht zu Hause war, sofern es ihm je in den Sinn gekommen wäre, in dieser Richtung nachzuforschen. Er kannte auch die stille, schüchterne Miss Penrose aus der Nr. 27, deren Dienstmädchen Rosa jeden Abend genau um sechs Uhr kam, um den Standard zu kaufen; auf sie war stets Verlass, wenn es darum ging, den neuesten Klatsch und Tratsch zu erfahren.
An diesem kühlen, windigen Abend hätte sich Roach über ein Schwätzchen mit jedem gefreut, der stehen geblieben wäre, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben – irgendetwas, das ihn von dem Rheuma abgelenkt hätte, das ihn zu dieser Jahreszeit immer ganz besonders plagte. Aber niemandem war im Augenblick danach, innezuhalten. Die Leute blieben gerade so lange, um Jackie eine Münze in die Hand zu drücken und sich eine Zeitung zu schnappen, als wäre ein Kerl ein Automat, um alles in der Welt! Rosa war anders. Ganz egal, wie das Wetter war, sie blieb immer kurz auf einen Schwatz an der Ecke stehen, und das konnte sie sich durchaus leisten, mit einer warmen Küche zu Hause, in die sie zurückkehren konnte.
Aber an diesem Abend würde keine Rosa kommen. Seit einem Monat war Miss Penrose nämlich verreist. Sie hielt sich im Ausland auf, und Rosa war zu ihrer Familie aufs Land gefahren. Das Haus war möbliert an einen Mr. Colin James vermietet worden. Roach kannte ihn vom Namen her, von einer flüchtigen Bekanntschaft mit Crabtree, dem Hausdiener, der Rosas Platz in Nr. 27 eingenommen hatte, gesprochen hatte er aber noch nie mit ihm und ihm auch nie eine Zeitung verkauft. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bewohnern von Daylesford Gardens war Mr. James immer noch berufstätig. Zumindest nahm er fast jeden Morgen an der Ecke einen Bus in östlicher Richtung und kehrte am Abend zurück, daher war davon auszugehen, dass er geschäftlich zu tun hatte. Roach war er deswegen nicht sympathischer. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass ein solches Verhalten auf Daylesford Gardens abfärbte.
Gegen halb sieben, als das Gedränge in der Upper Daylesford Street seinen Höhepunkt erreichte und der lang erwartete Regen herunterzuprasseln begann, erhaschte Roach, der gerade mit tauben Fingern nach elf Pence Wechselgeld kramte, einen Blick auf Mr. James auf der anderen Straßenseite. Es war unverkennbar Mr. James, wie Roach später gegenüber gewissen, daran interessierten Leuten erklärte. Zunächst war er der einzige Bewohner von Daylesford Gardens, der einen Bart hatte. Es war keineswegs ein bescheidener Haarflaum, sondern eine buschige Masse braunen Haars, die sein Gesicht vom Mund abwärts bedeckte. Dann seine äußere Erscheinung: Er war auffallend dick, wobei seine Beleibtheit in keinem Verhältnis zu seinen dünnen Beinen stand, sodass er stets mit einem vorsichtigen Watscheln ging, als befürchtete er, sein Gewicht könne ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ohne großes Interesse nahm Roach wahr, wie die ihm vertraute, unbeholfene Gestalt vorüberging. Dann veranlasste ihn etwas, noch einmal hinzusehen, und so blickte er ihm mit neuerlicher Aufmerksamkeit hinterher. Bei diesem Etwas handelte es sich um den einfachen Umstand, dass Mr. James bei dieser Gelegenheit von einer anderen Person begleitet wurde.
»Der Alte – der für sich lebt«, lautete Roachs eigene Beschreibung für Mr. James. Die meisten Bewohner von Daylesford Gardens gehörten tatsächlich zu denjenigen, die lieber für sich blieben. Dafür achtete Roach sie umso mehr. Aber von allen war Mr. James derjenige, der vollkommen allein lebte. Während seines kurzen Aufenthalts in Nr. 27 war noch nie ein Besucher über die Türschwelle getreten, nicht einmal ein Brief oder Paket war je dort abgegeben worden, wie Crabtree zu versichern wusste. Und bislang hatte Roach Mr. Colin James immer nur allein auf der Straße gesehen.
Aber diesmal – daran bestand kein Zweifel – hatte Mr. James einen Freund gefunden. Oder falls es kein Freund war, dann doch wenigstens so etwas wie ein Bekannter, nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie nebeneinander auf dem Gehweg liefen, die Köpfe zusammengesteckt, als wären sie in ein leises, ernstes Gespräch vertieft. Wie schade, dachte Roach, dass der Fremde auf der anderen Seite ging, als sie um die Ecke bogen, sodass James ihn vollkommen mit seiner Körperfülle verdeckte. Nur um der Neugierde willen hätte Roach gern gewusst … »Die News, Sir? Ja, Sir! Fünf Pence zurück, danke Ihnen, Sir!«
Er verrenkte sich den Hals, als er in Richtung Daylesford Gardens blickte. Gegenüber von Nr. 27 stand eine Straßenlaterne, und die beiden befanden sich gerade in ihrem Lichtkegel. Das Licht fiel auf die gelbbraune Tasche, die Mr. James immer bei sich trug. Sie blieben stehen, und Mr. James kramte offensichtlich nach seinem Schlüssel. Dann schloss er auf, trat ein, und der Fremde folgte ihm. Roach, der sich gerade umdrehte, um einem Kunden eine Zeitung in die Hand zu drücken, verspürte ein merkwürdiges Gefühl des Triumphes. Mr. James hatte Besuch! In gewisser Weise kam es ihm so vor, als wäre ein lange gehaltener Rekord gebrochen worden.
Fast eine Stunde später verließ der Zeitungsverkäufer schließlich seinen Stand. Inzwischen goss es in Strömen. Die Straße lag nass und verlassen da. In der Crown in der Lower Daylesford Street würde es hingegen warm und freundlich sein. Durchgefroren und durstig klemmte sich Roach seine Zeitungen unter den Arm und machte sich in die Richtung auf den Weg, die James vor ihm eingeschlagen hatte, aber auf der anderen Straßenseite. Er war auf halbem Weg die Straße hinunter, den Blick auf den Gehweg geheftet, mit den Gedanken bereits bei der Erfrischung, die ihn erwartete, als ihn das Geräusch einer zufallenden Haustür aufblicken ließ. Er befand sich gegenüber von Nr. 27, und eine ihm vertraute Gestalt, die unvermeidliche Tasche tragend, war soeben erschienen und ging nun...




