E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: you&ivi
Harcup Hattie Brown und die Wolkendiebe
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99379-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: you&ivi
ISBN: 978-3-492-99379-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claire Harcup begann ihre Karriere in einem Sachbuchverlag, bevor die digitale Welt sie auf andere Wege lenkte. Fünf Jahre lang beauftragte sie Kunst- und Kulturprojekte, die neue Technologien verwenden. Dann rief sie für die Royal Botanic Gardens in Kew, Großbritannien, ein Projekt ins Leben, das Menschen dazu anhält, einheimische wilde Pflanzen zu säen. Heute lebt Claire Harcup in London. Tagsüber entwirft sie Texte für Firmen und abends schreibt sie zum Spaß.
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Kapitel 5
Verhaftet. Einen Moment lang fühlten sich die Worte des Wächters unwirklich an, obwohl Hattie wusste, dass er sie gesagt hatte. Doch dann stach er Victor mit seinem Stock in die Rippen, drehte sich um, hob ihn an und zielte damit auf Hatties Schulter.
»Beweg dich!«, blaffte er.
Seine Augen waren leblos und kalt, und Hattie spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Sie wusste wirklich nicht, wie es passiert sein konnte, dass sie eben noch ihrer Mutter ein Frischkäsebrot gemacht hatte und im nächsten Moment in einer anderen Welt verhaftet wurde.
»Beweg dich!«, befahl der Wächter noch einmal. Er zog seinen Stock zurück, als wäre er ein Billardqueue und Hatties Schulter die Kugel.
»Tu, was er sagt«, sagte Victor leise. Er setzte sich in Bewegung und Hattie folgte ihm – nicht, weil sie dem scharfen Stock des Wächters entgehen wollte, sondern weil es sich richtig anfühlte zu tun, was Victor sagte. Auch wenn sie nicht wusste, warum.
Sie ging neben Victor her, hoffte, er würde merken, dass sie tat, was er sagte. Aber er schien mit Sir Gideon beschäftigt zu sein.
»Hättest du sie nicht mitgenommen, hätten wir jetzt nicht so einen Ärger.« Sir Gideon schwebte so dicht über dem Elefanten, dass er auf seinem Rüssel hätte landen können.
Victor wedelte ihn mit dem ausgefransten Rand seines Ohres fort. »Und wenn du sie nicht an den Haaren gezogen hättest, wäre ich inzwischen längst auf dem Weg zum Überall-Büro«, erwiderte er. »Ich hätte sie ohne großes Theater in die Stadt gebracht. Aber du musstest ja alles verderben.«
»Ich es verderben! Du hast meine Quest verdorben!«, rief Sir Gideon. »Du weißt, dass wir nur ein Hundertstes Kind oder Nimbus mitnehmen. Warum also sie?«
»Wer sind Nimbus und die Hundertsten Kinder?«, fragte Hattie. Sie war wild entschlossen, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Ständig redet ihr von ihnen.«
Victor sah sie an, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass sie neben ihm ging. »Sie sind sehr wichtig für Irgendwo-Nirgendwo«, erklärte er ihr.
»Und was haben sie mit mir zu tun?«
»Ja, was? Auf diese Frage hätte ich auch gern eine Antwort«, warf Sir Gideon ein.
Victor hob langsam den Rüssel, und Hattie hatte das Gefühl, sie müsse die Antwort darauf schon kennen. Doch das war unmöglich. Natürlich konnte sie es nicht wissen. Etwas an diesem Ort verwirrte sie anscheinend.
»Warum hast du sie mitgenommen?«, fragte Sir Gideon weiter.
Aber Victor konzentrierte sich inzwischen auf einen Tumult irgendwo in der Nähe im Wald. »Pssst«, machte er. »Was ist das?«
Sie blieben alle stehen. Irgendwo links von ihnen hörten sie das Knirschen von trockenen Zweigen, die zertrampelt wurden. Plötzlich kam mit großen Schritten ein Mann in der gleichen Uniform wie der Wächter aus dem Wald. Er kämpfte mit etwas, das er unter dem Arm trug. Es war in seinen Umhang gewickelt, und eine lange rote Quaste hing davon herab und schleifte um seine Füße herum im Staub. Beide Enden des Umhangs flatterten so sehr, dass Hattie eine Weile brauchte, bis sie erkannte, dass die Quaste ein Pferdeschwanz aus roten Haaren war und dass es sich bei dem, was da mit dem Wächter rang, um ein Mädchen handelte. Ein Mädchen ungefähr in ihrem Alter. Ein paar Sekunden lang sah es Hattie voller Angst in die Augen.
»Was macht er mit ihr?«, rief Hattie, während sich Victor eilig vor sie stellte. Sie versuchte, ihn zu umrunden, aber er blieb vor ihr. »Lass mich das sehen!«, verlangte sie. »Ich muss sehen, was los ist.« Sie stürmte in die andere Richtung, aber er war schneller, als er aussah. Wieder versperrte er ihr den Weg. Und wieder. Und wieder. Er hörte erst auf, als der Wächter und das Mädchen verschwunden waren. »Was hat er mit ihr gemacht?«, verlangte Hattie zu wissen.
»Ich wollte nicht, dass du es siehst«, antwortete Victor.
»Aber ich habe es gesehen, also wer ist sie?«
Victor wirkte sehr ernst, und das Gefühl, dass sie irgendetwas über diesen Ort hier wissen müsste, hatte Hattie vollkommen verlassen. Was für ein dummer Gedanke das gewesen war. Stattdessen kroch nun Furcht in ihrem Bauch herum.
»Sie wird dem Reich helfen«, erklärte Victor.
»Sie sah nicht aus, als wollte sie helfen.«
Victor schnalzte mit dem Schwanz.
»Wer ist sie und was wird er ihr antun?«
Als Hatties Stimme lauter wurde, ließ der Wächter seinen Stock zwischen ihnen herabsausen. »Hör auf zu schreien!«, brüllte er. »Gefangene sollen sich ordentlich benehmen. Gefangene sollen nicht schreien. Gefangene sollen …«
Aber Hattie hörte nicht, was Gefangene seiner Meinung nach noch sein oder tun sollten, denn in ihren Ohren schwirrte es. Etwas Weiches streifte ihre Wange. Etwas Fedriges. Ein Kakadu war so nahe, dass einer seiner Flügel ihr Gesicht streichelte. Bald kamen noch andere Kakadus dazu, und es dauerte nicht lange, bis sie von einem ganzen Geschwader von ihnen umringt war. Sie stellten die blassen Federkämme auf den Köpfen auf, während sie sie mit ihren scharfen, dunklen Augen musterten.
Der erste Kakadu streckte sein Gesicht dicht vor ihres. »Wer du?«, wollte er wissen.
Was ist denn jetzt los?, dachte Hattie. Die Furcht ballte sich noch fester in ihrem Magen zusammen. Hat dieses Gefühl etwas mit dem rothaarigen Mädchen zu tun?, fragte sie sich. Es war ungefähr zur selben Zeit aufgetaucht.
Hattie versuchte, den Gesichtsausdruck des Kakadus zu deuten.
»Wer du?«, fragte der noch einmal.
»Hattie Brown.« Hattie beschloss, ihn besser anzulächeln, aber sein wilder Ausdruck wurde nicht sanfter.
»Woher?«, fragte er.
»Worcester.«
Zustimmendes Gemurmel kam von den Kakadus. Oder vielleicht war es auch Missfallen. Man konnte es schwer erkennen. So oder so beschloss Hattie, weiterhin freundlich zu bleiben.
»Warum hier?«, fuhr der Kakadu mit singender Stimme fort.
»Das weiß ich eigentlich nicht«, gab Hattie zu.
Der Kakadu neigte den Kopf, sodass sein Schnabel im rechten Winkel zu Hatties Nase stand. »Warum so komische Haare?« Sein Schnabel schoss nach vorn, und er pickte ihr eine Haarsträhne vom Kopf. Sofort spuckte er sie wieder aus. »Schlechte Haare«, sagte er angeekelt und wackelte mit seiner schwarzen Zunge. »Du brauchst Schopf.«
Während er das sagte, legte er seinen eigenen Federschopf an und stellte ihn wieder auf, um Hattie seine ganze Pracht zu zeigen. Er nickte dem restlichen Schwarm zu.
Zwei Kakadus kamen herangesaust und begannen, auf ihrem Kopf herumzupicken.
Was ist eigentlich los mit dieser Welt und mit meinen Haaren?, dachte Hattie. Sie machte sich bereit, die Füße in den Boden zu stemmen, falls sie wieder in ein Tauziehen geriet.
Doch sie spürte nur das scharfe Schnappen um ihren Kopf, während die Vögel um sie herumschwirrten und -flatterten. Dabei murmelten sie in einem leisen Chor: »Wer du? Wer du?«
Ich habe es euch doch schon gesagt, hätte sie beinahe zurückgemurmelt, bevor sie sich ermahnte, dass sie sich das alles nur einbildete.
Die Vögel zogen ihr die Haare aus dem Gesicht nach hinten, und die Haut an ihrer Stirn wurde straffer. Plötzlich fühlte sich ihr Kopf oben höher an.
»So«, sagte der Kakadu. Er nickte einem der anderen Vögel zu, der ein Blatt von einem Baum pflückte. Dessen Unterseite glänzte, als der Kakadu wieder auf Hattie zuflog. Er hielt das Blatt wie einen Spiegel hoch, und Hattie starrte jemanden an, der fast so aussah wie sie. Aber diese Beinahe-Hattie Brown hatte einen seltsamen Schopf auf dem Kopf.
»Besser«, sagte der Kakadu. Er strich mit dem Flügel über den Schopf, um ihn nach hinten zu biegen. »Bessere Haare.« Dann kam er noch näher. »Bessere Hattie Brown, wer auch immer du.«
Als die Kakadus sie verließen, merkte Hattie, dass Sir Gideon und Victor immer noch stritten.
»Victor, du musst sie sofort zurückbringen!«, kreischte Sir Gideon.
»Ich muss nichts dergleichen.« Victors Stimme war immer noch ruhig.
»Dann befehle ich dir beim Kodex der Gilde der Ritterdrachen, sie mir zu übergeben, damit ich sie zurückbringen kann. Sie gehört mir.«
»Deine Kodexe gelten nicht für mich. Ich mache mit ihr, was ich will.«
»Nein, ich mache mit ihr, was ich will«, dröhnte der Wächter. Er schlug wieder mit seinem Stock nach Victor und Sir Gideon. »Für diese eine Sache können mir die Ritterdrachen nicht die Anerkennung stehlen. Sie gehört mir.«
Ich glaube nicht, dass ich irgendwem gehöre, dachte Hattie. Und sie wollte es ihnen gerade mitteilen, als sie die Kakadus zurückkommen sah. Sie krächzten eifrig, flogen über dem Wächter auf und ab, drehten aufgeregte Pirouetten in der Luft und wurden immer lauter.
»Was ist los? Was sagen sie?«, fragte der Wächter.
Victor drehte sich abrupt zu Hattie um. Sein Gesichtsausdruck zeigte dieselbe Ungläubigkeit wie zu dem Zeitpunkt, als er klein und in ihrem Kühlschrank gewesen war.
»Was sagen sie?«, fragte der Wächter noch einmal.
»Bäume sagen Nimbus hier. Nimbus im Reich«, sagte der Anführer der Kakadus zu ihm. »Lady Serena hat ihn gefunden.« Die Kakadus hatten alle stolz den Schopf aufgestellt und nickten schnell untereinander.
»Aber sie kann nicht … Lady Serena kann ihn nicht gefunden haben. Ich soll doch Nimbus finden!«, heulte Sir Gideon, während die Bäume fieberhaft zu schwanken begannen.
»Nimbus. Sie haben Nimbus gefunden.« Der Wächter sank auf die Knie und wischte sich mit dem Umhangzipfel über die Stirn und die Knollennase.
Nur Victor wirkte nicht überwältigt. Er stand ganz still, als würde ihn etwas verwirren. Er sah aus wie ein Elefant, der...