E-Book, Deutsch, Band 7, 224 Seiten, Gewicht: 10 g
Reihe: Transformationen der Antike
Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, Band 7, 224 Seiten, Gewicht: 10 g
Reihe: Transformationen der Antike
ISBN: 978-3-11-021069-9
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Der Band versammelt Beiträge, die exemplarisch das Übersetzen als hermeneutisches Problem, als Vermittlung, als Suche nach der äquivalenten Form und als schöpferischen Prozess untersuchen. Gegenüber der vorherrschenden dualen Betrachtungsweise, die sich an polaren Schlagwörtern wie „frei / treu“, „verfremdend / einbürgernd“ u. ä. orientiert, hat dieser Zugriff den Vorteil, dass verschiedene Konzeptionen und Funktionen des Übersetzens sich nicht von vornherein gegenseitig ausschließen, sondern in unterschiedlichen Gewichtungen auch zusammen auftreten können und so eine differenziertere Bestimmung des komplexen Vorgangs des Übersetzens ermöglichen.
Zielgruppe
Academics, Institutes, Libraries / Wissenschaftler, Institute, Bibliotheken
Autoren/Hrsg.
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ist auf dem Fragebogen
Annäherungen an Wielands Lukian: Zum wirkungs- und rezeptionsästhetischen Umgang mit Übersetzungen aus der Weimarer Klassik (S. 81-82)
Manuel Baumbach (Zürich)
1. Übersetzungen zwischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik
Das Bedeutungspotential literarischer Texte erschließt sich – führt man die beiden unterschiedlichen Standpunkte der Konstanzer Schule einmal zusammen – sowohl über den ‚Akt des Lesens‘ (Iser), d. h. über das aktualisierende Aufgreifen von textimmanenten Appellstrukturen durch den impliziten Leser, als auch über die rezeptionsästhetische Betrachtung von Texten (Jauss), d. h. in den Lektüren ihrer historischen Leser mit deren individuellen Bildungs-, Erfahrungs- und Erwartungshorizonten.
Jede Lektüre eröffnet – ob wirkungs- oder rezeptionsästhetisch betrachtet – neue, potentiell andere Bedeutungshorizonte, und die Rezeptionsgeschichte von Texten legt Stück für Stück, jedoch nicht notwendigerweise teleologisch deren Sinnpotential frei. Was für literarische Texte gilt, lässt sich jedoch nur bedingt auf deren Übersetzungen übertragen, die sich – ganz im Sinne einer lukianischen Gattungshybride – wie Hippokentauren teils vermittelnd, teils polarisierend zwischen einer Reihe von binären Oppositionen wie Zielsprache/Ursprungssprache, imitatio/ aemulatio, Fremdheit/Vertrautheit, Eigenständigkeit/Verweishaftigkeit, Vergangenheit/ Gegenwart hin- und herbewegen und sich aus zwei Gründen gegenüber einer Befragung nach ihrem Sinnpotential auf der Basis der Konstanzer Schule als widerspenstig erweisen:
Jauss’ rezeptionsästhetischer Ansatz basiert auf dem Versuch, die verschiedenen historischen Komponenten der Sinnstiftung zu analysieren, d. h. einen Text in seiner synchronen und diachronen Rezeption zu betrachten. Damit rückt der historische oder tatsächliche Leser in den Blick, der aufgrund verschiedener Rezeptionsbedingungen und unterschiedlicher Erfahrungshorizonte Texten ‚Sinn‘ verleiht und diesen in seinen wissenschaftlichen oder kreativen Rezeptionszeugnissen dokumentiert. Entsprechend fordert Jauss eine Literaturgeschichte des Lesers, die das Bedeutungspotential eines Textes über seine historisch fassbaren Konkretisierungen bestimmt.
Und genau darin liegt mit Blick auf Übersetzungen eine Schwierigkeit: Zu Übersetzungen fehlen häufig aussagekräftige Rezeptionszeugnisse, da Übersetzungen zwar viel benutzt, aber wenig besprochen werden.3 Vielmehr verschweigen gerade Rezipienten, die fremdsprachige Literatur in Übersetzungen lesen, gern und unabhängig von ihrem Bildungsgrad deren Benutzung – sei es aus falsch verstandener Eitelkeit, sei es aufgrund der Annahme, dass eine Übersetzung im Dienste des ‚Originals‘ , steht und dieses wohl auch richtig abbilden wird. Allfällige, aus diesen Lektüren entstandene Rezeptionszeugnisse evozieren daher einen verstellten Blick sowohl auf der Produzentenseite, wenn bewusst oder unbewusst Übersetzungen mit Originallektüren gleichgesetzt werden,5 als auch besonders auf der Rezipientenseite, wenn – häufig in Ermangelung gesicherter produktionsästhetischer Kenntnisse – auf Übersetzungen basierende Rezeptionszeugnisse fälschlich auf das hinter ihnen stehende Original anstatt auf dessen Vermittlung zurückgeführt werden.
Beispiele für diese Form von referentiellen misreadings begegnen zahlreich seit der Antike, man denke nur an das bekannte Grabepigramm auf die bei den Thermopylen gefallenen dreihundert Spartaner, das Cicero seinen Lesern in lateinischer Übersetzung und mit einer von der griechischen Vorlage abweichenden politischen Nuancierung gibt, und das – über Cicero vermittelt und nochmals umgedeutet – in Friedrich Schillers Übersetzung zum geflügelten Wort werden konnte: Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.
Zu oft wird vergessen oder verdrängt, dass es sich bei dieser Äußerung nicht um den Wortlaut des antiken Originals, sondern um eine Übersetzung handelt, die im deutschen Sprachraum zwar ihrerseits den Status eines Originals erlangen konnte, aber als solches nicht unreflektiert auf die Antike bzw. deren Verständnis rückbezogen werden darf, um den Blick nicht durch das zuweilen stark abweichende Sinnpotential, das Übersetzungen transportieren, zu verstellen.