Harbort | "Ich musste sie kaputt machen." | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Harbort "Ich musste sie kaputt machen."

Anatomie eines Jahrhundert-Mörders
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0654-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Anatomie eines Jahrhundert-Mörders

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0654-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Name Joachim Georg Kroll steht für eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Kriminalgeschichte. In mehr als zwei Jahrzehnten tötete der Serienmörder mehrere Frauen und Mädchen, bevor er von der Polizei gefasst wurde. Mit analytischer Schärfe untersucht der bekannte Kriminalist Stephan Harbort den Fall des »Jahrhundertmörders«. Dabei entsteht das beeindruckende Psychogramm eines Mannes, der zeit seines Lebens von seinen Trieben gesteuert wurde.

Stephan Harbort, geboren 1964 in Düsseldorf, ist Kriminalhauptkommissar und Deutschlands bekanntester Serienmord-Experte. Er entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und ist als Fachberater für TV-Beiträge tätig.
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3


Es war kaum auszuhalten. Darbende Natur, schwitzende Menschen. Deutschland erlebte den heißesten Sommer seit dem Beginn meteorologischer Aufzeichnungen. Zweieinhalb Wochen mit örtlichen Tagestemperaturen von jeweils über 30 Grad – das hatte es bis dahin nicht gegeben. »79 Prozent der Bundesbürger«, so ermittelten die Wickert-Institute in einer Blitzumfrage, »finden die Hitzewelle unerträglich.« Und der Fernseh-Meteorologe Martin Teich unkte im ZDF: »Diese große Hochdruckzone wird uns noch einiges zu schaffen machen.«

Tatsächlichereignetesich allerorten Ungewöhnliches: Im Großraum Berlin fuhren winterliche Streukolonnen, um aufgematschten Asphalt mit Sand griffig zu halten. An der Saar schwärmten Inspektoren aus, um entlang den Flüssen zu verhindern, dass sich »die Bauern das immer knapper werdende Wasser gegenseitig abgraben«, berichtete ein Ministeriumssprecher. Züge fuhren mit Tempolimit, zwischen Köln und Koblenz lag es bei 50 km/h, weil durch Hitzeglut Gleisverformungen zu befürchten waren. Und auf den Autobahnen stauten sich kilometerweit Fahrzeugschlangen, die Betondecken waren bei Temperaturen von über 70 Grad aufgerissen. Auch in Duisburg, der gut 527 000 Einwohner zählenden Industriemetropole im Ruhrgebiet, drohten die ungewöhnlichen Witterungsbedingungen Schaden anzurichten. So musste beispielsweise im Zoo eigens ein Zeltdach installiert werden, um die seltenen Weißwale vor Sonnenbrand zu schützen.

Knapp acht Kilometer Luftlinie vom Tiergarten entfernt, im Arbeiterviertel Laar, hatte es ein kleines Mädchen viel besser als die meisten Erwachsenen, die unter der Bullenhitze ächzten. Es war der 2. Juli, ein Freitag. Das Thermometer zeigte 33,4 Grad. Tanja lachte, jauchzte und sprang immer wieder quietschvergnügt ins Wasser – denn in dem großen Innenhof der schmucklosen Häuserzeile an der Friesenstraße gab es für die vielen Kinder dieses Blocks neben einem Spielplatz auch ein Planschbecken.

Die Viereinhalbjährige aus dem Haus Nummer 3 war nicht allein, ihr zwei Jahre älterer Bruder Thomas tobte mit seiner Schwester ausgelassen über die Rasenflächen des Hinterhofs, und dann hüpften beide immer wieder in die kleine Plastikbadewanne. Es war gegen 15 Uhr, als Jutta, ein Kind aus der Nachbarschaft, sich hinzugesellte. Die Achtjährige wohnte vier Häuser weiter, in Nummer 11. Die Kinder planschten, bespritzten sich mit Wasser, rangen miteinander, sie kicherten. Mitunter wurde es laut.

Das Gejohle hatte einen Bewohner des Hauses Friesenstraße 11 aufmerksam werden lassen. Er argwöhnte, dass sich die Kinder wieder an seinem Mofa zu schaffen machen würden. Es war keine drei Wochen her, da waren die Ventile gelockert worden, beide Reifen waren platt gewesen. Er hatte die Kinder in Verdacht. Der Mann brauchte sein Mofa, um damit zur Arbeit zu kommen, und er brauchte es, um außerhalb von Duisburg herumfahren zu können – am liebsten in einsamen Gegenden, wo ihn niemand kannte. Er war häufig auf Tour, fast jeden Tag.

Jetzt stand er auf dem Dachboden und lugte aus dem Hoffenster. Die Kinder bemerkten den kleinwüchsigen hageren Mann mit der ausgeprägten Stirnglatze nicht. Er schaute zu, wie sich Tanja, Jutta und Thomas amüsierten. Die Kinder waren nackt. Tanja gefiel dem Mann besonders gut: der schlanke Körper, die schulterlangen blonden Haare zu zwei Zöpfen gebunden, das herzerfrischende Lachen, die schelmischen Grübchen in den Wangen. Sein Körper versteifte sich beim Anblick des Mädchens, er begann heftig zu schwitzen, Schweißperlen bildeten sich auf der breiten Stirn. Der Mann hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er knöpfte sein weißes Hemd auf. Sein Blick wurde starr, irgendwie leer, er wirkte geistesabwesend. Die dunklen Augen fixierten nur noch Tanja. Er wollte ganz nah bei ihr sein. Schweißtropfen platschten auf den hölzernen Fenstersims, während der Mann sich dort abstützte. Er war jetzt in Gedanken, begann zu phantasieren.

Ein Schrei riss ihn aus seinem Fiebertraum. Jutta war gestürzt, sie hatte sich das rechte Knie aufgeschlagen. Das Mädchen weinte, wenig später verschwand sie im etwa acht Meter langen tunnelartigen Durchgang, der vom Hinterhof zur Häuserfront führte. Sie brauchte ein Pflaster – und den Zuspruch ihrer Mutter.

Der Mann dachte nach. Er glotzte immer noch unbemerkt durch das Fenster auf den Hof. Tanja und Thomas waren noch da. Um sich besser konzentrieren zu können, begann er über den Dachboden zu schlurfen – wie immer vornübergebeugt, das linke Bein etwas nachziehend. Dann wurde das Hoffenster geschlossen, und der Mann verschwand. Er hatte sich jetzt etwas vorgenommen, er hatte einen Plan.

Gegen 15.45 Uhr kam Thomas nach Hause. Abgekämpft und müde. Wortlos und mit hängenden Schultern schlich er an seiner Mutter vorbei. Die hatte für die Kinder in der Küche kalten Zitronentee bereitgestellt. Hastig stürzte er ein Glas hinunter. Dann noch eins. Petra Bracht hatte auch ihre Tochter erwartet. Aber Tanja kam nicht. Sie hakte nach: »Tomi, wo ist denn die Tanja?«

»Die kommt gleich.«

Eine Viertelstunde verging. Thomas saß vor dem Fernseher, als seine Mutter nachfragte: »Wollte Tanja noch irgendwohin, hat sie was gesagt?«

»Nee.«

Petra Bracht wurde energisch: »Entweder du sagst jetzt, was los ist, oder ich mache die Flimmerkiste aus!«

Keine Antwort.

»Ich warte!«

»Mami, ich weiß es nicht«, lenkte Thomas ein, »die hat nur gesagt, dass sie gleich hochkommt.«

»War noch jemand bei ihr?«

»Nee.«

Hans Bracht studierte die Reiseroute nach Mannheim, als seine Frau ihm von hinten auf die Schulter tippte. »Hänschen, schau doch mal nach Tanja. Sie ist noch unten am Planschbecken. Wir wollen doch nachher los, und ich muss mich noch um die Brote und so kümmern. Gehst du mal eben?« Hans Bracht nickte.

Wenig später stieß er das Stahltor zum Innenhof auf. Es war ungewöhnlich still. Etwas bedrückt verschaffte er sich einen Überblick. Tanja war nicht zu sehen. Es war überhaupt niemand da. Eigenartig, dachte er sich. Hans Bracht rief nach seiner Tochter. Keine Antwort. Dann noch mal. Wieder nichts.

Augenblicke später ließ ihn etwas stutzig werden; etwas Vertrautes, das er zu kennen glaubte. Er ging einige Schritte. Und er lag richtig: Es war das Kleidchen seiner Tochter, das unweit des Wasserbassins über dem Zaun hing, sorgfältig zusammengelegt. Tanja musste es ausgezogen haben, damit es nicht nass wurde; genauso wie ihre Schuhe. Hans Bracht griff nach dem Kleidungsstück. Er verharrte einen Moment, dachte nach. Das war schon komisch: Tanja war nicht besonders ordnungsliebend, das wusste er; aber ohne Kleid und Schuhe, halbnackt, seine Tochter wäre so nirgends hingegangen. Bestimmt nicht. Der 34-Jährige spürte, wie sich sein Magen langsam zu verkrampfen begann. Ein Gefühl bahnte sich seinen Weg, das er gut kannte, mit dem er sich aber nie hatte anfreunden wollen, und gegen das er sich nicht wirklich wehren konnte: ein Hauch von Angst.

Quatsch! machte er sich Mut. Tanja ist bestimmt schon oben. Oder ist sie eventuell doch gestürzt? Hat Tomi sie vielleicht geschubst? Ist sie womöglich bewusstlos geworden, nachdem sie gefallen war? Liegt sie hinter einem der vielen Sträucher? Oder auf der Kellertreppe? Oder hatte sie einfach nur die Hitze nicht vertragen? Hans Bracht wusste, dass es diese und viele andere Möglichkeiten gab, die meisten davon erschienen auch ihm abwegig. Dennoch inspizierte er nochmals den Hinterhof, die Kellerräume, jede Ecke, jeden Winkel. Keine Spur von Tanja. Anschließend suchte er die Friesenstraße ab. Er traf einen Nachbarn: »Haben Sie die Tanja gesehen?«

»Tut mir Leid, nein.«

Er fragte auf dem Bürgersteig spielende Kinder: »Ihr kennt doch die Tanja, war sie hier?«

Kopfschütteln.

Der besorgte Vater wurde beobachtet – von demjenigen, der im Haus Friesenstraße 11 im zweiten Stock wohnte, vom Treppenaufgang gesehen rechts. Der Mann stand schräg hinter einer altmodischen, schmuddeligen Gardine. Er wollte sehen, aber nicht gesehen werden. Sein Oberhemd war schweißfeucht. Und er war nervös.

Sie wird schon längst zu Hause sein! Hans Bracht machte sich erwartungsvoll auf den Heimweg. Seine Frau hatte ihn früher erwartet, eine knappe halbe Stunde war nun schon vergangen. »Und?« Hans Bracht drückte seiner Frau enttäuscht Kleid und Schuhe in die Hände. »Die Sachen hab’ ich unten auf der Bank gefunden. Ich hab’ alles nach ihr abgesucht, nichts. Keiner hat sie gesehen.« Er fluchte. Und dann wurde es für einen Moment still, für einen quälend langen Augenblick.

»Hans, wir müssen etwas unternehmen!«

»Jetzt beruhig’ dich, sie kommt schon noch oder wir finden sie.« Hans Bracht versuchte auch sich selbst in die Pflicht zu nehmen, kühlen Kopf zu bewahren: »Wir gehen noch mal los, wir beide. Die Kleine muss doch irgendwo sein. Tomi bleibt hier, falls Tanja doch noch auftaucht.«

Anfangs war dieses Gefühl nur unangenehm gewesen, lästig, unbequem – denn Tanja hatte sich schon häufiger verspätet; allerdings nur für ein paar Minuten, höchstens eine Viertelstunde. Und sie war währenddessen nie unbeaufsichtigt geblieben. Jetzt war es irgendwie anders, das spürten ihre Eltern. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, keine Orientierung. Tanja hatte den Nahbereich der Wohnung verlassen. Daran zweifelten sie nicht mehr. Es schien keine Alternative zu geben. Ihre Tochter musste sich also an einem Ort aufhalten, den sie unter normalen Umständen nicht hätte aufsuchen dürfen. Allein die nicht zu leugnende Existenz der theoretischen Möglichkeit, dass diese nicht normalen Umstände sich tatsächlich ereignet haben könnten, beflügelte die Phantasie. Aber diese...


Harbort, Stephan
Stephan Harbort, geboren 1964 in Düsseldorf, ist Kriminalhauptkommissar und Deutschlands bekanntester Serienmord-Experte. Er entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und ist als Fachberater für TV-Beiträge tätig.



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