Hansson | Zweiklang | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Hansson Zweiklang


1. Auflage, Ungekürzte Ausgabe 2025
ISBN: 978-3-03880-191-7
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-03880-191-7
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit dem Tod seiner Mutter lebt Torleif weit weg von seiner Familie in der Großstadt, wo er das Gefühl hat, endlich er selbst sein zu können. Doch als sein Großvater krank wird, muss Torleif zurückkehren – in sein Heimatdorf, wo seine Begeisterung für Musik als „unmännlich“ belächelt wird und „schwul“ noch als Schimpfwort gilt. Auch sein Vater und sein Bruder interessieren sich mehr für die Elchjagd als für Torleifs Leidenschaft, die Hardangerfiedel. Nur in der Geigenbauwerkstatt des Großvaters und in der örtlichen Musikschule findet er Zuflucht – bis er auf den japanischen Austauschstudenten Horimyo trifft und all die ungesagten Dinge drohen, an die Oberfläche zu treten.

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In der Nacht träume ich, dass ich an einem Folkemusikk-Wettbewerb teilnehme. Der Klang der Geige jedoch ist neu. Die Töne strömen aus ihr heraus. Fallen. Stürzen. Donnern wie der Helvetesfossen, wenn er im Frühling Schmelzwasser trägt. Die Geige singt wie nie zuvor. Als ich fertig gespielt habe, schaue ich auf sie herab. Sofort erkenne ich, welche Geige ich in der Hand halte. Es ist die Meisterfiedel meines Ururgroßvaters. Die bei Goffa oben auf dem Sekretär liegt, für den Fall, dass er hohen Besuch bekommt.

Ich wache auf, weil mein Handy vibriert. Ich seufze. Gerne wäre ich länger in dem Traum geblieben. Doch das Telefon liegt auf dem Boden und brummt in einem fort.

Ich drehe mich um und greife danach.

Es ist Vater.

Scheiße.

Nicht dass wir nicht miteinander sprächen. Oh nein. Wir telefonieren jede Woche. Sonntags am Nachmittag. Vor den Nachrichten. Ganz gleich, ob er auf der Bohrinsel ist oder zu Hause. Um diese Zeit ruft er an. Punkt. Daher weiß ich, dass etwas gewaltig nicht stimmt, wenn er sich jetzt meldet.

»Ja?«, sage ich.

»’s geht um Goffa«, sagt er.

Schon sitze ich kerzengerade im Bett.

Mein Herz pocht wie wild.

»Oh.«

»Tallak hat’n Montag gefunn. Er wollt sich nur schnell die Krag schnappen.«

Montag, denke ich, warum zum Teufel haben sie sich nicht früher gemeldet? Aber ich sage nichts, lausche bloß Vaters monotoner Stimme.

»Zuerst dachten wir, er hätt einen zu viel gehoben. Weißte.«

Ich nicke.

Mein Herzschlag dröhnt.

»Aber er hat so ’nen kirren Eindruck gemacht. Gar nich richtig reagiert. Unn dann hat Tallak ’nen Krankenwagen gerufen.«

Ich schweige.

»War ’n Schlaganfall.«

»Oh«, wiederhole ich.

Mir fällt nichts Vernünftigeres ein, was ich sagen könnte, und ich bin damit beschäftigt, so normal wie möglich zu atmen.

»Zum Glück hamse’n noch rechtzeitig behandeln könn.«

Vater zieht am anderen Ende Schleim aus dem Hals hoch. Er klingt dabei wie ein alter Hahn, der seinen Muskelmagen reinigt. Wieso kann er das nicht machen, bevor er anruft? Echt ekelhaft. Und irgendwie kommt das Geräusch durch das Telefon noch näher, als wenn er am Morgen nach der ersten Kippe über der Küchenspüle steht.

»Und jetzt?«, frage ich.

Denn ich vermute, dass er noch etwas anderes will. Vater ruft nie an, ohne etwas zu wollen.

»Aber jetz will er nach Hause«, sagt er.

Ich warte.

»Nur isses so, am Samstag beginnt die Jagdsaison.«

Er lacht verlegen.

Hätte ich mir denken können, als er die Krag, seine Flinte, erwähnt hat.

Vaters Welt dreht sich um die Jagd. Zuerst kommt die Rentierjagd oben auf den Hochebenen Anfang August. Und jetzt die Elchjagd in den Wäldern ums Dorf. Beinahe muss ich lachen. Aber ich reiße mich zusammen. Ich kapiere immer noch nicht, warum er mich angerufen hat.

Also frage ich freiheraus.

»Und was hat das mit mir zu tun?«

»Jemand muss ’n Auge auf’n ham«, sagt Vater. »Sie wollnen nich entlassen, bevor wir wen ham, der sich ummen kümmert, Tøllef.«

Ich zucke zusammen.

So nennt mich kaum mehr jemand, seit ich von dort weg bin. Hier nennen mich alle Torleif, Lehrer*innen wie Mitschüler*innen, mit deutlich hörbarem R und F. Genau wie damals, als ich klein war und sie in der Folkemusikk-Sendung im Radio eines von Goffas Stücken gespielt haben: »… in der Version von Torleif Nystøyl.« Und ich weiß noch, ich war so stolz, dass ich nach ihm benannt bin. Ich, nicht Tallak.

Ich seufze. Weiß, dass ich keine andere Wahl habe.

»’s geht’m schon wieder ganz gut«, redet Vater weiter. »Er ist nur ’n wenig holprig aufn Beinen. Aber sprechen kann er unn ist ganz der Alte. Er hat nach dir gefragt.«

Ich sehe Goffas große graublaue Augen vor mir.

»Wie lange?«, will ich wissen.

Um mich von all den Gedanken abzulenken, die plötzlich in meinem Kopf toben.

»Nur bis Ende der Herbstferien. Morgens unn abends kommt wer vom Pflegedienst. Unn ’ne Tante vonner Gemeinde, so ’ne Ergo-Physio-was-weiß-ich-was. Die kommt montags.«

»Okay«, sage ich. »Aber ich muss erst mit Vegard besprechen, ob ich einfach so abhauen kann. Ich stecke mitten in einem Projekt.«

Das ist gelogen.

Die Projektarbeit über mein Hauptinstrument habe ich gerade erst eingereicht. Auch die fachübergreifende Hausarbeit über Komposition, Musikgeschichte und die Tradition der Hardangerfiedel habe ich ihm gestern geschickt. Aber etwas sträubt sich in mir, das ist bei mir und Vater so. Ihm einfach so seinen Willen zu erfüllen, das bringe ich nicht über mich. Jedenfalls nicht ohne Widerstand. Vielleicht liegt es daran, dass auch ich nie etwas umsonst von ihm bekommen habe. Also nutze ich jeden noch so kleinen Gefallen, um es ihm heimzuzahlen.

»Schreib mir, wennde Bescheid weißt«, entgegnet er kurz. »Ich geh ’ne Runde in’n Wald.«

»Okay«, sage ich. »Bis dann.«

Aber er hat schon aufgelegt.

Ich gehe duschen. Mache mir im Zimmer eine Schale Müsli, aber kriege nichts runter. Immer wieder taucht Goffa vor meinem geistigen Auge auf, wie er im Krankenhaus liegt. Goffa, wie er in ein kleines Metallbett gezwängt ist, die Bettdecke wie eine Zwangsjacke um ihn gewickelt. Goffa, wie er barfuß über den Linoleumboden schlurft. Goffa, der am Fenster sitzt und sich nach Hause sehnt. In seiner Werkstatt fühlt er sich am wohlsten. Die Brille auf der Nase, während er mit gekonnter Pinselführung eine Fiedel bemalt. Da gehört er hin.

Der Donnerstag beginnt wie immer mit Norwegisch bei Astrid. Kim macht offensichtlich blau, denn sein Platz ist leer. Ich versuche, mich zu konzentrieren, aber die Worte unserer Lehrerin zerlaufen in meinem Kopf zu einem einzigen Brei. Als der Gong endlich zur großen Pause läutet, renne ich in den Park am See, wo wir uns normalerweise treffen. Sie sitzen an der üblichen Stelle und ich lasse mich auf die Picknickdecke fallen.

»Uuuh«, mache ich und lege die Hände an die Schläfen.

»Was ist los?«, fragt Rada.

Kim stupst mich gegen die Schulter.

Ich strecke die Beine aus.

»Goffa hatte einen Schlaganfall«, erzähle ich.

»Oh nein!« Rada berührt mein Bein. »Ist er okay?«

»So weit ja«, sage ich und will mir ein Lächeln abringen. Aber das Ziehen im Bauch hindert mich daran. Es fühlt sich an, als hätte ich mir den Magen verdorben. »Aber mein Vater will, dass ich über die Ferien nach Hause komme und ihm helfe.«

»What?!«, entfährt es Kim und er schiebt die Sonnenbrille hoch. »Und unser Wellness-Wochenende?!«

Daraufhin wird er beinahe von Blicken aus zwei braunen Augen durchbohrt.

»Und du?«, fragt Rada. »Was willst du?«

Sie sieht mir direkt ins Gesicht.

»Keine Ahnung!«, sage ich und stehe auf. »Oder doch. Eigentlich schon. Ich habe mir geschworen, nie wieder in dieses verdammte Drecksloch zurückzugehen.«

»Aber es geht um deinen Goffa«, sagt Kim.

Ich nicke und schaue aufs Wasser. Es liegt vollkommen still da. Nicht die kleinste Bewegung auf der Oberfläche.

»Niemand dort weiß davon«, sage ich leise.

»Hä?«, macht Kim.

Ich drehe mich wieder zu ihnen herum.

»Niemand im Dorf weiß, dass ich queer bin.«

»Oh«, sagt Rada.

»Ich weiß«, sage ich.

»Na, aber hallo!«, schreit Kim förmlich und springt von der Decke auf. »Dann ist das doch die perfekte Gelegenheit, diesen Hillbillys zu zeigen, wer du WIRKLICH bist. The fabulous Torleif Tjønnstaul, ladies and gentlemen.«

»Gentlemen findest du dort eher nicht«, sage ich und lache trocken.

»Mist«, sagt Rada und hält das Handy in die Höhe. »In fünf Minuten beginnt die vierte Stunde.«

Also machen wir uns auf den Weg zurück zur Schule.

Zum Glück sind die letzten beiden Stunden am Donnerstag Selbststudium im Hauptinstrument. Ich springe schnell rauf in mein Zimmer und schnappe mir den Geigenkoffer. Die besten Überäume sind belegt, war ja klar, also muss ich mit dem in der Ecke vorliebnehmen, in dem es immer nach Zwiebeln stinkt. Aber heute ist das egal. Ich denke an das, was Vater gesagt hat, als ich die Geige aus dem Koffer nehme. Der Drachenkopf sieht mich prüfend an. Ein Glück, dass Tallak die Flinte holen wollte.

Mein Blick wandert den Geigenhals entlang bis zu der Stelle, wo die Saiten unter dem Drachenkopf befestigt sind. Das Einzige, was eine Hardangerfiedel und ein Gewehr gemeinsam haben, ist das kleine Loch oben in der Spitze. Es sieht dem eckigen Visier der Krag sehr ähnlich. Oder zumindest dem Visier von der, die Goffa im Waffenschrank hinter dem Plumpsklo aufbewahrt. Ich habe sie nur einmal ausprobiert. Tallak hatte Blechbüchsen am Feldrand aufgestellt. Dann habe ich abgedrückt. Ein Schuss. Und noch einer. Nichts, aber rein gar nichts hat mir daran gefallen. Weder der Geruch des Schießpulvers noch der nach feuchtem Lehmboden. Nicht der Ruck in der Schulter. Nicht das Geräusch einer Kugel, die ihr Ziel trifft. Metall auf Metall. Klack-klack. Klack-klack.

Tallak aber machte weiter. Huschte zwischen dem Feldrand und der Flinte hin und her.

Ich ging ins Haus.

Setzte mich an den Ofen. Und lauschte Goffas Spiel. Das leise Klicken von Tallak und der Krag wurde Teil des Stücks.

Jetzt stimme ich meine Fiedel, aber die richtigen Töne lassen sich heute nur schwer einfangen. Ich sehe Goffas große graublaue Augen vor mir. Seine warmen Hände. Ach, verdammt. Es geht um Goffa. Ich fische das Handy aus der Jackentasche und suche die Verbindung zum Dorf heraus. In einer halben...


Blatzheim, Meike
Meike Blatzheim, geboren 1985, lebt im Bergischen Land und arbeitet als Lektorin, Autorencoach und Übersetzerin aus den skandinavischen Sprachen.

Hansson, Elin
Elin Hansson, geboren 1985, lebt auf einer kleinen Farm im ländlichen Norwegen. Früher hat sie als Fotografin gearbeitet, bevor sie anfing, Kinder- und Jugendbücher zu schreiben. Sie spielt Hardangerfiedel, seit sie zehn Jahre alt war.

Onkels, Sarah
Sarah Onkels stammt aus dem Rheinland und hat Skandinavistik und Keltologie in Bonn, Köln und Turku studiert. Sie übersetzt aus dem Finnischen und Schwedischen und lebt nach Stationen in Finnland und Kanada in Troisdorf bei Bonn. Inspiration findet sie beim Reisen, Lesen und in der Natur.



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