E-Book, Deutsch, 552 Seiten
Hansen Simons Bericht
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-98635-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine nordische Odyssee. Lebensbericht des Simon Gronewech aus Lübeck, von ihm selbst erzählt im Jahre seines Todes 1402
E-Book, Deutsch, 552 Seiten
ISBN: 978-3-492-98635-9
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Konrad Hansen, 1933 in Kiel geboren, studierte Germanistik, Philosophie, Theologie und Volkswirtschaft und lebt heute bei Flensburg. Er war Rundfunkredakteur, Reporter, Abteilungsleiter bei Radio Bremen und Intendant des Ohnsorg-Theaters in Hamburg. Hansen schrieb Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und die Romane »Der Spaßmacher«, »Die Männer vom Meer«, »Simons Bericht«, »Die Rückkehr der Wölfe« und »Der wilde Sommer. Roman aus dem Jahr 1945«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erstes Kapitel
Ein Todgeweihter grüßt dich, Bruder Anselmus. Setz dich zu mir und lass es dir schmecken. Nimm von den Krebsen, nimm vom Kapaun, koste die Feigen und erquicke dich am Wein, es ist reichlich für uns beide da.
Man sagt, du seist von weit her gekommen, um bei Meister Detmar vom Orden der Minderbrüder in die Lehre zu gehen. Er selbst nennt dich seinen besten Schüler. Es heißt, du verstündest dich auf die Kunst, Unglaubliches in glaubhafte Worte zu kleiden. Man rühmt die Geläufigkeit, mit der du die Feder führst, man bewundert deine anmutige Schrift. Ferner sollst du eine Eigenschaft besitzen, die der Erzähllust förderlicher ist als lauter Beifall. Du seist, sagt man, ein so aufmerksamer wie geduldiger Zuhörer. All das gefällt mir, deshalb habe ich dich ausgewählt festzuhalten, was ich zu berichten weiß. Fangen wir also an.
Der erste Satz soll lauten: Dies ist die Lebensgeschichte des Simon Gronewech aus Lübeck, von ihm selbst erzählt im Jahre seines Todes vierzehnhundertzwei. Die weiteren Sätze magst du nach Gutdünken formen, doch diesen will ich so und nicht anders geschrieben sehn, kein Wort mehr und keines weniger.
Merk ihn dir gut, Bruder Anselmus. Und wenn du ihn niederschreibst, setz ihn für sich allein auf das erste Blatt, in großen verzierten Lettern. Und heb den Namen ein wenig hervor, damit er ins Auge springe und die Gedanken sogleich auf jenen Simon Gronewech lenke, der durch die Hand des Henkers ums Leben kam.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, meine Geschichte zu erzählen. Gestern ließ mich der Vorsprake vertraulich wissen, die Richteherren seien sich uneins, ob man mich hängen oder köpfen soll. Unter den Befürwortern des Kopfabschlagens, fügte er hinzu, befänden sich nicht minder streitbare Herren als unter jenen, die mich baumeln sehen möchten. Gibt mir dies Hoffnung auf eine hinreichend verlängerte Galgenfrist, so erfüllt mich eine weitere Nachricht mit Besorgnis: Meister Rosenfeld soll sich bereits in der Stadt befinden. Man habe ihn, sagt der Vorsprake, aus Hamburg kommen lassen, damit er den unlängst verblichenen Peter Molne vertrete. Erinnere dich, dass es Rosenfeld war, der Störtebeker und Magister Wigbold auf dem Grasbrook das Haupt abschlug und ein knappes Jahr später Godeke Michels. Sollte es nicht meiner Eitelkeit schmeicheln, dass der Rat mich durch das gleiche Richtschwert in den Tod schicken will?
Einer hat von jeher kommen sehn, dass es mit mir ein böses Ende nehmen würde. Er wäre zutiefst befriedigt, wenn er wüsste, dass seine Voraussagen sich erfüllt haben. Denn nichts verschaffte ihm größere Genugtuung, als recht zu behalten. Ich spreche von meinem Vater, dem Kaufmann und Ratsherrn Hinrich Gronewech.
Obgleich er erst sechsunddreißig Jahre zählte, als ich geboren wurde, hat sich mir das Bild eines alten, starrsinnigen Mannes eingeprägt. Ich sehe ein Gesicht vor mir, dessen ledrige Haut von tiefen Furchen durchzogen ist, schmale Lippen, ein von fusseligem Barthaar umrahmtes Kinn, und ich sehe zwei blassgraue Augen, die voller Abscheu und Verachtung auf mich gerichtet sind. Von Hass zu reden wäre unbillig. Solch leidenschaftlicher Gefühle war Hinrich Gronewech nicht fähig.
Unter den Kaufleuten genoss mein Vater den Ruf, ein Muster an Rechtschaffenheit zu sein. Er schloss kein Geschäft ab, bei dem er sich, seines Vorteils halber, unredlicher Mittel hätte bedienen müssen. Man sollte denken, dass diese Eigenschaft dem Kaufmann so hinderlich sei wie einem Schiffer die Seekrankheit, doch ihm brachte sie Wohlstand. Als er die Sechzig überschritten hatte, besaß er drei Häuser, zwei Speicher am Hafen, vier eigene Schiffe und Anteile an sechs weiteren. Er hätte schon bald nach seinem vierzigsten Jahr im Rat sitzen können, wäre es ihm nicht widersinnig erschienen, für einen Profit, der sich nicht in Mark und Schilling niederschlägt, seine Geschäfte zu vernachlässigen. Als man ihm schließlich das Amt eines Weinherren aufdrängte, nahm er es unter der Bedingung an, dass man ihn während der Zeit, da er im Ratskeller wirkte, auf Rechnung der Stadt beköstige. Du kannst daraus entnehmen, dass er trotz stetig wachsenden Wohlstands eine Krämerseele blieb. Sein größtes Vergnügen war es, abends auf den Pfennig genau auszurechnen, wie viel er am Tage verdient hatte. Dann sah man ihn zuweilen auf eine fast spitzbübische Art lächeln.
Über meine Mutter weiß ich nicht viel mehr zu sagen, als dass sie eine stille, kränkliche Frau war. In jungen Jahren soll sie eine Schönheit gewesen sein, doch in meiner Erinnerung waren ihre Züge von Entbehrung gezeichnet, einer Entbehrung, so will es mir heute scheinen, die nicht vom Mangel an irdischen Gütern herrührte. Nur manchmal und seltsamerweise immer dann, wenn Onkel Bertram unser Haus betrat, gewann ihr Gesicht etwas vom einstigen Liebreiz zurück. Sie hatte vor mir meine Schwestern Mechthild und Margarete zur Welt gebracht, nach mir Katherine. Bei der Geburt ihres fünften Kindes starb sie. Damals war ich neun Jahre alt.
Nach allem, was ich dir bis jetzt von meinem Vater erzählt habe, wird es dich wundern, dass er, kurz nachdem er mich gezeugt hatte, eine unserer Mägde schwängerte. Sie hieß Mette Löding und galt, bis ihr schwellender Bauch dies augenfällig widerlegte, als ein tugendsames Mädchen. Wie es dazu kam, dass mein sittenstrenger Vater der Magd ein Kind machte, ist mir rätselhaft. Mit meinen älteren Schwestern neige ich zu der Ansicht, dass es mehr zufällig, gleichsam im Vorübergehen geschah. Aber wie dem auch sei: Mette gebar einige Monate nach meiner Geburt einen Sohn, den sie Detlef nannte. Von ihm, meinem Halbbruder, wird noch viel zu berichten sein. Rückblickend denke ich, dass mein Leben, hätte es ihn nicht gegeben, anders verlaufen wäre.
Meine Kindheit verbrachte ich in einem alten Haus in der Beckergrube. Mein Vater hatte es für billiges Geld von einem Englandfahrer erworben, der sein Vermögen in Brügge beim Würfelspiel verloren hatte. Das Haus lag nur wenige Schritte vom Hafen entfernt und war von der Diele bis unters Dach mit Waren vollgestopft. Wir lebten zwischen Wollballen, Kornsäcken, Salztonnen, Wein- und Heringsfässern. Als Bett diente mir einen Winter lang ein Haufen Zobelfelle, die einen so abscheulichen Geruch verströmten, dass ich bald selbst wie ein Zobel stank. Kurzum, ich wuchs in einem Speicher auf, umgeben von Gütern aus aller Herren Länder. Ich atmete ihre verschiedenartigen Gerüche, ich kannte die Hausmarke eines jeden Kaufmanns, mit dem mein Vater Handel trieb. Das war meine Welt, Bruder Anselmus. Zu jener Zeit erschien es mir undenkbar, dass ich etwas anderes als ein Kaufmann werden könnte.
Später habe ich oft darüber nachgedacht, wann in meinem Vater die Ahnung aufstieg, dass ich nicht dazu berufen sei, in seine Fußtapfen zu treten. Er muss es schon sehr frühzeitig geahnt haben, lange bevor ich ihm, wenn auch gegen meinen Willen, den Beweis lieferte. Ich mag mich irren, aber ich glaube, es war ein vergleichsweise harmloser Vorfall, der seinen Zweifel weckte: Er ertappte mich dabei, als ich mit einem gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft etwas tat, das wir Kinder Oorswiesen nannten. Wir hatten uns im Abtritt eingeschlossen und unsere Geschlechtsteile entblößt. Beim Oorswiesen geschah nichts weiter, als dass man einander anschaute, mitunter auch an jenen Stellen betastete, durch die sich der eigene Körper vom anderen unterschied. Mein Vater, durch einen Knecht herbeigerufen, riss die Tür mit solcher Gewalt auf, dass sie aus den Angeln sprang. Sein Gesicht war weiß vor Zorn und Empörung. Als er unsere Blöße sah, wandte er sich voll Ekel ab und befahl dem Knecht, mich ins Haus zu schaffen. Dort rief er die Familie zusammen, um mich vor aller Augen zu bestrafen. Er tauchte eine Weidengerte in Wasser und sagte mit mühsam erzwungener Ruhe, es sei die heilige Pflicht des Vaters, den Sohn zu züchtigen, damit dieser das Erlaubte vom Verbotenen zu unterscheiden lerne.
Es war das erste Mal, dass er mich schlug. Er verlangte nicht, dass ich ihm den Rücken zukehrte. Ihm war es gleich, wo mich die Schläge trafen. Die dünne geschmeidige Gerte zerschnitt die Haut meiner Hände, meines Gesichts. Ich spürte, wie Blut über mein Gesicht rann, und leckte es von den Lippen. Ich hörte ihn vor Anstrengung stöhnen, sah, wie er schwitzte, doch zu meiner eigenen Verwunderung empfand ich keinen Schmerz. Mir war, als schlüge er einen anderen. Er nahm es für Trotz, dass ich weder jammerte noch zurückwich, und dies machte ihn rasend. Aber wie so oft in meinem Leben entging ich dem Schlimmsten, weil ein Schutzengel, diesmal in Gestalt meines Onkels Bertram, in das Geschehen eingriff.
Der würdige Domherr drückte meinen Vater auf einen Stuhl nieder und entwand ihm die Gerte.
»Lass es dabei bewenden, lieber Bruder«, sagte Onkel Bertram. »Du läufst Gefahr, dich in einen Zustand sündhafter Erregung zu steigern, wenn du in dieser Weise fortfährst. Halt also ein und erzähl mir, was er verbrochen hat.«
Es dauerte eine Weile, bis mein Vater wieder so weit zu Atem gekommen war, dass er mit allen Anzeichen des Abscheus berichten konnte, was vorgefallen war.
Der Domherr gab mir sein seidenes Schnupftuch und sagte: »Wisch dir das Blut ab, Simon. Du bist im Begriff, den Märtyrer zu spielen.« Und zu meinem Vater gewandt: »Du solltest es von einer höheren Warte aus betrachten, Hinrich. Wie willst du einem Menschen begreiflich machen, was Gut und Böse ist, wenn er den Unterschied zwischen Mann und Frau nicht kennt? Denn kommt nicht ein gerüttelt Maß an Bösem wie auch an Gutem aus jenem Unterschied?«
»Das ist pfäffisches Gerede, Bertram«, sagte mein Vater. »Wenn ich dieses Mal Nachsicht übe, wer sagt mir, dass er es beim nächsten Mal...