E-Book, Deutsch, 552 Seiten
Hansen Die Kinder der Meerfrau
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-492-98636-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Historischer Roman
E-Book, Deutsch, 552 Seiten
ISBN: 978-3-492-98636-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Konrad Hansen, 1933 in Kiel geboren, studierte Germanistik, Philosophie, Theologie und Volkswirtschaft und lebt heute bei Flensburg. Er war Rundfunkredakteur, Reporter, Abteilungsleiter bei Radio Bremen und Intendant des Ohnsorg-Theaters in Hamburg. Hansen schrieb Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und die Romane »Der Spaßmacher«, »Die Männer vom Meer«, »Simons Bericht«, »Die Rückkehr der Wölfe« und »Der wilde Sommer. Roman aus dem Jahr 1945«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Das letzte Datum, an das sie sich erinnerten, war der 14. Juli 1725. Es war der Tag, an dem sie zum Amtmann in Sonderburg bestellt worden waren, um sich zu dem Gerücht zu erklären, sie hätten ungerührt zugesehen, wie ihr Vater ertrank. Seitdem war der Tag für Ties und Momme die Spanne zwischen Sonnenaufgang und Abenddämmerung, den Monat lasen sie am Stand der Sonne ab, und die Jahre begriffen sie als die wiederkehrende Folge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Manche Tage blieben ihnen im Gedächtnis haften, weil sie mit besonderen Ereignissen verknüpft waren: Der Tag, als die Fischer sie überfielen. Der Tag, als die Meerfrau zu ihnen kam. Der Tag, als die Brigg in der Dorschbucht strandete. Der Tag, als Momme fortging. Der Tag, als sie zu ihrer großen Reise aufbrachen. Der Tag, als die Meerfrau sie verließ.
Als sie sich mit sachtem Ruderschlag aus dem Hafen von Mjels stahlen, hatte der Wind schon in den Wanten der Fischerboote zu singen begonnen. Über Nacht wuchs er zum Sturm an. Querab von Ærø rissen die Seen das Ruder mit sich fort, das Boot trieb steuerlos nach Südosten.
Die Bucht, in der sie strandeten, war von einem Dünengelände gesäumt, dahinter dehnte sich eine Sumpflandschaft mit Tümpeln, Teichen und wogendem Schilf. Weder am Strand noch auf dem höhergelegenen Ufer nach Osten hin waren Anzeichenmenschlicher Besiedlung zu erkennen. Den Brüdern kam es vor, als beträten sie jungfräulichen Boden.
Ihr Boot besaß zwar kein Ruder mehr, hatte die Strandung sonst aber unbeschadet überstanden. Sie zogen es über rundgeschliffene Flintsteine bis an den Dünenrand und drehten es um; so konnte es ihnen zur Not als Unterschlupf dienen. Außer dem, was sie am Leib trugen, waren das Boot, ein Netz und ein Dutzend Angelhaken ihr einziger Besitz.
Gegen Abend flaute der Wind ab, und als es zu dämmern begann, hatte er sich gelegt Sie setzten sich auf den Kiel ihres Bootes und bedauerten, dass die See ihnen auch ihre Pfeifen und Tabaksbeutel genommen hatte. Schmauchend ließ sich besser nachdenken. Die Frage, auf die es eine Antwort zu finden galt, war, ob sie nicht zurückkehren sollten. Das Gerücht war von einem Mann ausgestreut worden, der auf der ganzen Insel als Schandmaul bekannt war. Der Amtmann hätte ihn womöglich dazu gebracht, seine Behauptung zu widerrufen. Andererseits gewann sie dadurch an Glaubwürdigkeit, dass ihr Vater sich durch den rüden Umgang mit seinen Söhnen selbst ins Gerede gebracht hatte. Viele meinten, es sei nur recht und billig, dass Ties und Momme dem Ertrinkenden nicht zu Hilfe gekommen waren. Schließlich wollte ihr heimliches Verschwinden bedacht sein: War es nicht gleichbedeutend mit einem Schuldgeständnis?
Die Brüder waren es gewohnt, dass jeder schweigend seinen Gedanken nachhing, bis Momme das Ergebnis ihres Grübelns in Worte fasste. Er konnte nicht nur schneller denken, er war auch der Beredtere der beiden.
»Wir riskieren Kopf und Kragen«, sagte Momme.
»Ist wohl so«, stimmte Ties ihm zu.
»Hättest du dem Alten aus dem Wasser geholfen?«
»Was fragst du, wo wir nicht dabei waren?«
»Hättest du?«
»Der Deubel soll mich holen, wenn ich nur den kleinen Finger gerührt hätte.«
Sie schliefen, bis die Sonne schon über den Dünen stand. Um ihren Hunger zu stillen, schlürften sie Möweneier aus und aßen das glibberige Fleisch der Miesmuscheln. Das Sumpfgelände diente vielen Arten von Zugvögeln als Brutplatz. Sie würden eine Vogelkoje bauen, um Enten zu fangen. Doch dazu brauchten sie Netze und Werkzeug.
An den folgenden Tagen erkundeten sie die Bucht. Am westlichen Rand mündete eine Au ins Meer; an Süßwasser würde es ihnen nicht mangeln, und in dem See weiter landeinwärts würden sie Fische angeln können, die es im Meer nicht gab. In einem Dünental entdeckten sie Reste menschlicher Behausungen. Der Anblick ernüchterte sie. Sie waren also doch nicht die ersten, die ihren Fuß auf diesen Strand gesetzt hatten.
An einer anderen Stelle hatten die Wellen mannshohe Haufen aus Treibholz aufgetürmt. Da lagen ganze Bäume, deren Wurzeln sich ineinander verkeilt hatten, da lagen glatte, entrindete Stämme, wie sie in den nordischen Ländern zum Hausbau verwendet wurden, da lagen Schiffsplanken, Ruderbänke und eine Menge zersplitterter Bohlen. Die Brüder waren sich stillschweigend einig, dass das Meer sie mit diesem Schatz dazu verlocken wollte, die Bucht in Besitz zu nehmen.
Weiter nach Osten hin fanden sie den Strand mit rundgeschliffenen Scherben übersät. Die meisten waren türkisgrün, es gab aber auch blaue, rötlich schimmernde und schwarze. Momme, auch hier als erster mit einer Erklärung zur Hand, meinte, es handle sich um die zertrümmerte Fracht eines Schiffes, das irgendwo da draußen auf dem Meeresgrund liegen musste.
Die erstaunlichste Entdeckung machte Ties: Er stieg auf ein merkwürdiges Gebilde aus zwei Findlingen, die, beide tonnenschwer, so aufeinanderlagen, dass das Gewicht eines Kindes genügt hätte, den oberen zum Wippen zu bringen. Je nachdem, zu welcher Seite Ties seinen Körper neigte, brachte der Stein durch den Zusammenprall mit dem unteren entweder einen kurzen hellen Ton oder einen dröhnenden Orgelbass hervor. Letzterer klang, als käme er aus den Tiefen der Erde, und war bei ablandigem Wind bis weit auf See hinaus zu hören, Sie nannten die von den Gletschern der Eiszeit geschaffene Steintrommel den Wackelstein. Später entdeckten sie am unteren Stein rätselhafte Ritzzeichnungen, in denen Momme bemannte Schiffe zu erkennen glaubte.
Als sie den Punkt erreicht hatten, wo das Halbrund der Bucht in eine Landzunge auslief und die Küste sich nach Westen wandte, sahen sie hinter einem vom Seewind aufgeworfenen Sandwall eine Reihe schilfgedeckter Hütten. Am Strand lagen geteerte Boote, dazwischen waren Netze zum Trocknen aufgehängt. Die Fischersiedlung war so nah, dass man sich früher oder später ins Gehege kommen musste.
Sie bestückten die Angelhaken mit Würmern und legten die Leine im brustriefen Wasser aus. Es dauerte nicht lange, bis fast an jedem Haken ein Fisch zappelte. Dorsche, Makrelen, Flundern, Heringe: Das Meer schien seinen Reichtum vor ihnen auszubreiten, um sie zum Bleiben zu bewegen.
Ties gelang es, mithilfe einer selbstgefertigten Spindel in einem Stück trockenen Holzes ein Feuer zu entfachen. Sie brieten die Fische über der offenen Flamme und meinten, dass sie selten etwas Besseres gegessen hatten. Tags darauf bauten sie einen Räucherofen. Auf einem Stück Heide zwischen Dünen und Sumpf wuchs Wacholder; sein Holz und seine Nadeln gaben den Fischen eine köstliche Würze.
Ties und Momme Gregersen waren Mitte Zwanzig, als sie sich in der Bucht ansiedelten. Sie sahen einander so ähnlich, dass man sie für Zwillinge halten konnte. Die äußere Ähnlichkeit spiegelte jedoch keine wesensmäßige Übereinstimmung wider. Ties’ Charaktermerkmale waren Gemächlichkeit, Sorgfalt, eine Scheu vor waghalsigen Unternehmungen und, dies trat indes nur selten zutage, eine Neigung zu maßlosen Zornausbrüchen. Empfindsame Gemüter erschraken bis ins Mark, wenn sich der bedächtige Ties von einem Augenblick zum nächsten in einen Berserker verwandelte.
Von Momme hatte seine Mutter schon während der Schwangerschaft gesagt, in ihr wachse ein Hansdampf in allen Gassen. Der um ein knappes Jahr Jüngere besaß die Gabe, Menschen für sich einzunehmen, wobei ihm seine Wortgewandtheit und eine lebhafte Fantasie zustatten kamen. Wenn gelegentlich Zweifel an seiner Lauterkeit aufkamen, mochte dies daher rühren, dass er die gewundenen Wege den geraden vorzog.
Das Wetter ließ es zu, dass sie etliche konnten. In dieser Zeit entstand eine Hütte, der anzusehen war, dass die Brüder keinen Wert darauf gelegt hatten, dem Auge zu schmeicheln. Sie richteten auch das Boot wieder her, damit sie ihr Netz weiter draußen in der Bucht ausbringen konnten. Das Meer meinte es gut mit ihnen; manches Mal waren so viele Fische im Netz, dass sie es nur mit äußerster Mühe ins Boot hieven konnten. Aber wohin mit dem zappelnden Reichtum? Sie gaben den Möwen, was sie nicht essen konnten. Das war weniger sündhaft, als die Fische vergammeln zu lassen, aber keinem Fischer fällt es leicht, den Ertrag seiner Arbeit an die Seevögel zu verfüttern. Andererseits wäre es für Ties und Momme undenkbar gewesen, die Hände in den Schoß zu legen, während Schwärme fetter Dorsche in die Bucht einfielen.
Wieder gab es einen Grund nachzudenken, und abermals war es Momme, der nach längerem Schweigen als erster zu sprechen begann.
»Vielleicht könnten wir dafür etwas Brot und Butter bekommen«, sagte er. »Oder ein Huhn.«
»Und wo bleiben die dann mit den Fischen ab?« fragte Ties.
»Die müssen ihre eigenen Fische ja auch irgendwo verkaufen.«
»Müssen sie wohl.«
Mit dem nächsten Fang an Bord umrundeten sie die Landspitze. Zuerst sah es aus, als ob die Fischersiedlung ausgestorben wäre. Kein Herdrauch kräuselte sich über den Sandwall empor, kein Hund schlug an. Sie ließen das Boot auflaufen, Momme sprang mit der Bootsleine an Land. Plötzlich platschte ein Stein neben dem Boot ins Wasser, ein zweiter prallte gegen die Bordwand. Als Momme sich nach einem Pfahl bückte, um die Leine festzumachen, traf ihn ein Stein an der Schulter.
»Komm zurück!« rief Ties.
Ein Mann zeigte sich auf dem Sandwall. Er hatte zwei Halbwüchsige an den Ohren gepackt und redete zornig auf sie ein. Offenbar waren es die Jungen, die sie mit Steinen beworfen hatten. Der Mann kam zum Strand herunter. Ein struppiger grauer Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, aus dem Bart ragte eine Pfeife hervor. Der Mann nahm sie aus dem Mund, spuckte braunen Saft in den Sand und sagte etwas, das die Brüder nicht...