Von der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-86854-432-9
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerd Hankel, Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Mehr als zwei Jahrzehnte hat er in und über Ostafrika gearbeitet. Hankel ist Mitglied im Arbeitskreis Völkerstrafrecht sowie Gutachter in Prozessen mit Asylrechts- und Völkerstrafrechtsbezug.
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I Der »internationale Belang« und das »Gewissen der Menschheit«
Am 15. März 1921 wurde Talaat Pascha, der ehemalige Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reichs, auf der Berliner Hardenbergstraße, Ecke Fasanenstraße, erschossen. Täter war Soghomon Tehlirjan, ein 25jähriger Armenier.1 Während seiner Amtszeit als Innenminister (1915 – 1917) befahl Talaat Pascha, zur angeblichen Vermeidung landesverräterischer Kollaboration mit dem russischen Feind, die Ermordung oder die Deportation von hauptsächlich in Anatolien lebenden Armeniern und Armenierinnen. Er setzte dazu bevorzugt jungtürkische Milizen ein, die seiner politischen Bewegung angehörten. Außerdem sorgte er dafür, dass auch die Deportationsanordnungen letztlich als Aufforderung zur Vernichtung zu verstehen waren. Im Sommer 1916, nachdem Talaat Pascha bereits ein Jahr zuvor triumphierend bemerkt hatte, »[d]ie armenische Frage existiert nicht mehr«, hatten ca. 1,1 Millionen Armenierinnen und Armenier ihr Leben verloren.2 Sie waren verhungert, verdurstet, einzeln oder in Massen zu Tode gebracht worden. Augenzeugen berichteten: »In Musch waren die Straßen mit Körpern von Armeniern besät.« »Sobald ein Armenier sich vor die Tür wagte, wurde er getötet. Selbst alte Männer, Blinde und Invaliden wurden nicht geschont.« »Die Männer, die noch lebendig eingefangen wurden, […] wurden gleich außerhalb der Stadt erschossen. Die Frauen wurden mit den Kindern nach den nächsten Dörfern gebracht, zu Hunderten in Häuser getan und verbrannt. Andere wurden in den Fluss geworfen.«3 Jetzt war Talaat Pascha tot. Der Schütze war verhaftet worden und wartete auf seinen Prozess. Die Trauerfeier für den Getöteten fand am 19. März in Berlin statt. Anwesend waren auch die ehemaligen Außenminister Richard von Kühlmann und Arthur Zimmermann. Einige Militärs, die während des Weltkriegs auf türkischer Seite gedient hatten, waren ebenfalls erschienen. Das Auswärtige Amt ließ einen Kranz niederlegen mit der Widmung: »Einem großen Staatsmann und treuen Freund.«4 Der Prozess gegen Soghomon Tehlirjan begann am 2. Juni vor dem Landgericht Berlin-Moabit. Politischer Druck bewirkte, dass die Prozessdauer auf zwei Tage beschränkt worden war. Das Auswärtige Amt, tatkräftig daran beteiligt, Talaat Pascha und anderen Organisatoren der Massaker an den Armenierinnen und Armeniern im November 1918 die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen, wollte vermeiden, dass »die ganze Frage der aus dem Kriege bereits unliebsam bekannten Armeniergreuel« in der Verhandlung zur Sprache kam. Ebenso war ausdrücklich nicht gewünscht, dass »im Laufe des Prozesses eingehender auf die allgemeine politische Rolle Talaat Paschas und seiner Stellung zu Deutschland eingegangen würde«.5 Das Landgericht sprach den Angeklagten Tehlirjan frei. Die Geschworenen waren einstimmig zu dem Entschluss gekommen, dass Tehlirjan schuldlos an der Tat sei. Das »Nein« des Obmanns der Geschworenen auf die Frage des Gerichts nach der Schuld des Angeklagten entsprach voll und ganz den Erwartungen der Verteidigung, die, gestützt auf ein medizinisches Gutachten über die epileptische Erkrankung Tehlirjans, seine eingeschränkte Willensfreiheit zur Tatzeit geltend gemacht hatte. Fragen blieben gleichwohl, denn die offensichtlich vorsätzliche Tatbegehung Tehlirjans ließ nicht auf eine Störung seiner Willensfreiheit schließen. Insofern war es wohl ein überaus nützlicher Hinweis an die Adresse der Jury, als ihr der Verteidiger in seinem Plädoyer zurief: »Welche Jury der ganzen Welt würde Wilhelm Tell verurteilt haben, weil er den Landvogt niedergeschossen hat?«6 Ein Kommentar in der New York Times brachte es auf den Punkt: »Obwohl die Verteidigung von Tehlirjan auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädierte, war seine wirkliche Verteidigung die entsetzliche Vergangenheit von Talaat Pascha, wodurch der Freispruch des Armeniers von der Anklage des Mords in deutscher Sicht zum Todesurteil für den Türken wurde.«7 Es war eine merkwürdige Situation. Die offizielle Politik in Deutschland wollte die »unliebsam bekannten Armeniergreuel« unter den Teppich kehren, man sieht förmlich den schmallippigen Mund oder die verhalten beschwichtigende Handbewegung aus dem Kreis der Akteure vor sich. Teile der öffentlichen Meinung wollten das Gegenteil, ein Gerichtsverfahren als Tribunal über die Verbrechen der jungtürkischen Bewegung an den Armeniern und Armenierinnen. Am Ende gab es eine Art Unentschieden. Der schnelle Freispruch verhinderte eine Beweisaufnahme zum Verbrechenskontext, der Freispruch an sich rechtfertigte den Vorwurf systematisch begangener Verbrechen durch das Osmanische Reich und seinen Organen. Hinter dem Unentschieden verbarg sich jedoch etwas, das neu war: ein Ereignis, das nicht lediglich als Irrläufer der Politik, sondern als Unrecht wahrgenommen wurde und das über die Grenzen eines Staates hinaus nachhaltig für Betroffenheit sorgte, weil es sich wegen der zivilen Opfer und ihrer Zahl eben nicht in die herkömmliche Bezeichnung »Kriegsverbrechen« einordnen ließ. Im Friedenvertrag von Sèvres, dem Friedensvertrag mit der Türkei als dem Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, hatten die alliierten Siegerstaaten Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan in Artikel 230 gefordert, die Verantwortlichen für die Massaker an den Armeniern8 auszuliefern, damit sie außerhalb der Türkei vor einem internationalen Gericht abgeurteilt werden könnten. Der Vertrag, den die Türkei am 10. August 1920 unterschrieben hatte, trat jedoch nicht in Kraft. Politischmilitärische Machtkämpfe in der Türkei und ausländische Ratlosigkeit verhinderten es.9 International waren damit die Anklagen ad acta gelegt (der spätere Friedensvertrag von Lausanne enthielt keine Bestrafungsregelung mehr), aus der Welt waren die Verbrechen allerdings nicht. Das Wissen um sie verfolgte die Täter bis nach Deutschland, wo sie Unterschlupf gefunden hatten. Das Unrecht des Völkermords war plötzlich ganz nah und verlangte eine Antwort. Die Antwort, die das Berliner Landgericht gab, war unvollständig, aber sie war nichtsdestoweniger Teil einer Stimmung, die die »juristische Überzeugung einer wohlbegründeten Gerechtigkeit« in den Gerichtssaal bringen wollte und der es aus diesem Anlass nicht übertrieben schien, die Notwendigkeit der »Erkenntnis des Wesens des Rechts und der Aufgaben der Menschheit und ihrer Zusammenhänge« zu bemühen.10 Über die Grenzen des Nationalstaats hinaus schaute auch Robert M. W. Kempner, ein Jurastudent, der das Verfahren verfolgt hatte. Sechzig Jahre später sollte er, der in zwei Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen stellvertretender Chefankläger war, im Rückblick schreiben: »Rechtspolitisch war dieser Prozess von besonderer Bedeutung, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Grundsatz zur Anerkennung kam, dass grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten.«11 Wenn auch davon auszugehen ist, dass Kempners Erinnerung stark von seinen Nürnberger Erfahrungen geprägt war und er zum Berliner Verfahren eine Traditionslinie legen wollte, die so nicht bestand (die Souveränitätsbeschränkung bei Völkerrechtsverbrechen gab es 1921 nicht, auch der Völkermordbegriff war juristisch noch nicht eingeführt), zuzustimmen ist ihm und den Stimmen aus der Verteidigung in einem Punkt, der wichtig ist, weil er eine Zäsur markiert. In einem Strafverfahren vor einem Gericht, das weit entfernt vom Tatort zusammengetreten ist, ist ein Unrecht nicht nur zum eigentlichen Verfahrensgegenstand geworden, sondern hat auch auf subtile Weise eine Ahndung erfahren. Dass die Ahndung in ihrer Form Widerspruch verdient – schließlich war ein mutmaßlicher Mord mit nicht ganz zweifelsfreien gutachterlichen Mitteln zum Verschwinden gebracht worden –, ändert nichts daran, dass die Tat hinter der Tat im Gerichtssaal präsent war. Diese Tat war zudem keine gewöhnliche Tat. Der Täter hatte sie als Organ eines Staates und unter Einsatz von dessen Machtmitteln begangen und sie in eine Dimension getrieben, die im Namen der Menschheit den Ruf nach Gerechtigkeit laut werden ließ. Dieser Ruf fiel in eine Zeit, in der er nicht neu, aber anders war. Während des Ersten Weltkriegs war immer wieder – und im Zusammenhang mit der sich rasant steigernden Kriegsgewalt in immer kürzeren Abständen – die Menschheit als Anklägerin angerufen worden. Das Erschrecken über die Folgen der neuartigen industrialisierten Kriegführung war groß. Zwar wird der Versuch, die jeweils eigene Kriegführung als...