E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Hanel Herzklopfen nicht ausgeschlossen
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2052-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2052-6
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Julia Hanel, geboren 1987 in Ansbach, studierte Germanistik in Bamberg und arbeitete danach als Redakteurin in Fulda. Heute lebt und arbeitet sie in Würzburg.
Autoren/Hrsg.
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Es war 5 Uhr 20, als sie aus dem Schlaf schreckte und sich den Kopf anstieß. Auch ohne den Schmerz war sie sofort hellwach. Wie immer, wenn ihr Handy zu Uhrzeiten klingelte, die ausschließlich schlechten Nachrichten vorbehalten waren. Schließlich rief niemand mitten in der Nacht an, um einem mitzuteilen, dass man mehr Datenvolumen bekam, eine Karibikreise gewonnen oder den neuen Job in der Tasche hatte. Hektisch tastete sie den Nachttisch nach ihrem Handy ab. Als sie die Nummer auf dem Display erkannte, schoss ihr Puls in die Höhe.
»Ist was mit Martha?«
»Keine Sorge, deine Großmutter liegt friedlich in ihrem Bett. Und Kristin wahrscheinlich auch. Die hat sich nämlich schon wieder krankgemeldet.«
Natalja ließ einen Schwall polnischer Schimpfwörter folgen. Wie immer, wenn es um Kristin ging, die mehr Fehltage ansammelte als ihre Kollegen Überstunden und die Atteste von so ziemlich jeder Sorte Facharzt einreichte. Feli rechnete fest damit, dass sie irgendwann noch ihre Fußpflegerin heranziehen würde, um von der Arbeit befreit zu werden.
»Kannst du einspringen? Ich weiß, du hast heute frei, aber es gibt niemanden, den ich noch fragen könnte.«
»Bin schon unterwegs«, gähnte Feli ins Telefon und schwang die Beine aus dem Bett.
Weil Nataljas verzweifelter Ton selbst einen Stein erweicht hätte. Aber vor allem, weil es ihrer Großmutter gut ging. Mehr zählte nicht. Zumindest bis sie unter der Dusche stand und eiskaltes Wasser aus den alten Leitungen schoss. Dieser verfluchte Boiler. Sie hatte ihn erst letzte Woche reparieren lassen. Der Heizungstechniker würde wohl ein zweites Mal kommen müssen. Noch eine Rechnung, seufzte sie in sich hinein. Nachdem sie ihm eine Nachricht auf der Mobilbox hinterlassen hatte – und ihrer Mitbewohnerin eine Notiz auf dem Küchentisch –, verließ sie das Haus. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen und vertrieb den letzten Rest Müdigkeit. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch, setzte ihren Fahrradhelm auf und fuhr los. Inzwischen schaffte sie die acht Kilometer nach Starnberg in unter 30 Minuten, auch wenn sie danach nicht mehr ganz taufrisch aussah. Aber abgesehen davon, dass der Bus nur einmal pro Stunde fuhr und an jedem Heuhaufen hielt, wollte sie sich das Geld für die Monatskarte sparen.
Das Seniorenheim ragte wie ein Scherenschnitt im Halbdunkel vor ihr auf, als sie durch das schmiedeeiserne Tor fuhr. Äußerlich lag es noch im Tiefschlaf, aber Feli wusste, dass der morgendliche Trubel bereits in vollem Gang war. Pflegewagen ratterten über die Flure, Lämpchen blinkten und Klingeln summten, Türen wurden geöffnet, Fenster geschlossen und Bettdecken aufgeschüttelt. Nachdem sie ihr Rad abgeschlossen hatte, steuerte sie die Umkleide an, schlüpfte in Pflegekittel und Stoffhose und band ihr langes, lockiges Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mit erstaunlich viel Tatendrang machte sie sich auf den Weg ins Schwesternzimmer, das sich der geschlechtergerechten Umbenennung in einfach nicht beugen wollte.
»Feli, hast du kurz einen Moment?«
Überrascht stellte sie fest, dass ihre Chefin bereits in ihrem Büro saß. Normalerweise kam Barbara nicht vor acht Uhr – und normalerweise wusste sie, dass ihre Mitarbeiter um diese Zeit nicht einmal den Bruchteil eines Moments hatten. Vor allem wenn der Wohnbereich vollkommen unterbesetzt war. Erst hatte eine Grippewelle das Seniorenheim im Griff gehabt, dann der Norovirus. Noch dazu gab es die Dauerseuche Kristin. Mit einer Spur Nervosität betrat Feli das Büro. Als ihr Barbara mit einer Geste zu verstehen gab, die Tür zu schließen, wurde ihr endgültig flau im Magen.
»Es ist mir wirklich unangenehm, aber … unsere Buchhaltung hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass … du mit den Zahlungen im Rückstand bist.«
Feli erstarrte.
»Was?«
»Die Miete für das Apartment deiner Großmutter konnte nicht fristgerecht abgebucht werden. Vielleicht handelt es sich auch nur um einen Fehler. Am besten rufst du mal bei deiner Bank an.«
Feli nickte, obwohl sie wusste, dass sie sich die Mühe sparen konnte. Wie wahrscheinlich war es, dass ihre Bank einen Fehler gemacht hatte – und wie wahrscheinlich, dass ihr Kontostand nach der Stromnachzahlung und dem kaputten Boiler weit unter dem Meeresspiegel lag? Barbara schien in der Zwischenzeit zum selben Ergebnis gekommen zu sein.
»Wenn es dir hilft, könnten wir vorübergehend ein paar Serviceleistungen zurückfahren. Die Vollverpflegung zum Beispiel.«
In Felis Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihre Großmutter sich wieder selbst an den Herd stellte. Nicht nur dass sie beim letzten Mal einen Feuerwehreinsatz ausgelöst hatte. Es war wichtig, dass sie in Gesellschaft war und soziale Kontakte pflegte. Das hatte der Neurologe immer wieder betont.
»Danke, aber das ist nicht nötig. In letzter Zeit sind ein paar Reparaturen angefallen. Du weißt ja, wie das ist. In so einem Haus geht immer alles gleichzeitig kaputt.«
Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber es fühlte sich eher wie eine Grimasse an. Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.
»Weißt du denn schon, was du damit machst?«
Erst mit zweisekündiger Verspätung begriff Feli, dass Barbara das Haus meinte, das ihre Großmutter ihr überschrieben hatte, als sie ins Seniorenheim gezogen war. Das Haus, in dem Feli aufgewachsen war und nun wieder wohnte. Das Haus, das alles war, was ihr von ihrer Familie geblieben war. Eine Familie, die schon immer nur aus ihren Großeltern bestanden hatte.
»Willst du es verkaufen? So ein Bauplatz ist sehr gefragt.«
, hallte es in Felis Kopf nach. Genau das würde aus dem Haus werden, wenn sie sich dazu entschloss, es zu verkaufen. Eine Freifläche für einen weiteren Glasbunker mit Swimmingpool, den irgendwelche Superreichen aus München zu ihrem Drittwohnsitz machen würden. Allein die Vorstellung verursachte ihr Übelkeit. Noch dazu fragte sie sich, wo sie dann wohnen sollte. Die Mietpreise in der Gegend waren unverschämt hoch, und es gab kaum freie Wohnungen. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie wollte den Anrufer gerade wegdrücken, als sie die Nummer erkannte.
»Das ist der Heizungstechniker«, entschuldigte sie sich. »Der Boiler ist schon wieder kaputt.«
Barbara signalisierte Zustimmung und wandte sich ihrem Computer zu. Erleichtert nahm Feli den Anruf entgegen und schilderte ihr Problem. Der Mann am Telefon bot ihr einen Termin für nächste Woche an.
»Nächste Woche?« Mit Grauen dachte Feli an die eiskalte Dusche von heute Morgen zurück und legte all ihre Verzweiflung in ihre Stimme. »Wie sollen wir es so lange ohne warmes Wasser aushalten?«
Er schien Mitleid zu haben, checkte noch einmal seinen Kalender und gab vor, eine Lücke entdeckt zu haben.
»In einer Stunde schon?«
Sie warf Barbara einen unschlüssigen bis verzweifelten Blick zu. Die sah kurz von ihrem Computer auf und nickte. Feli bestätigte den Termin.
»Ich beeile mich. Versprochen.«
Barbara stieß ein Seufzen aus.
»Du hast heute eigentlich frei. Außerdem kann ich es mir nicht leisten, wenn du auch noch krank wirst.« Sie lächelte träge. »Eine Bitte hätte ich allerdings. Leo Maywald hat heute seinen ersten Tag bei uns.«
. Der Name sagte ihr nichts.
»Die Sozialstunden«, half Barbara ihr auf die Sprünge.
Richtig. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Bei der letzten Teamsitzung war der Name kurz gefallen. Das Seniorenheim arbeitete eng mit der Jugendgerichtshilfe in München zusammen und bot jungen Menschen die Möglichkeit, gemeinnützige Arbeitsstunden abzuleisten, um einer Haftstrafe zu entgehen. Meistens übernahmen sie einfache Hausmeistertätigkeiten, unterstützten den Gärtner oder halfen in der Wäscherei.
»Könntest du dich um ihn kümmern, bis Kristin wieder da ist? Die Auflagen sehen neuerdings vor, dass es eine feste Betreuungsperson in der Einsatzstelle gibt.« Barbara verdrehte die Augen. »Als ob es nicht großzügig genug ist, dass wir diese Plätze anbieten.«
»Klar«, erwiderte Feli, obwohl sie auf nichts weniger Lust hatte, als einen weiteren gelangweilten Teenager davon abzuhalten, pausenlos mit seinem Handy zu spielen oder Hashtags wie zu kreieren. »Was hat er denn angestellt? Seinen Ausweis gefälscht? Den Schulserver gehackt?«
Kurz wirkte Barbara irritiert. Dann begann sie zu verstehen.
»Eigentlich ist Herr Maywald schon …« Ihr Telefon klingelte. »Oh, da muss ich ran«, sagte sie mit Blick aufs Display. »Wir reden später noch mal, ja?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm Barbara den Hörer ab. Feli verabschiedete sich wortlos und verließ das Büro. Im Flur lief ihr eine gestresst wirkende Natalja in die Arme, die einen Pflegewagen hinter sich herzog.
»Dzieki Bogu«, seufzte sie erleichtert. »Ich dachte, du liegst im Straßengraben!«
Aus ihren Augen...