Hancock Schattenstunde
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15811-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-15811-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Penny Hancock wuchs in Südost-London auf und unternahm ausgedehnte Reisen als Sprachlehrerin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern in Cambridge.
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Kapitel zwei
Mona kommt mit dem ersten Herbstregen, um ihre Füße weht goldenes Laub.
Genau ein Jahr, nachdem Mummy gestorben ist.
»Mein Geschenk aus dem Süden«, witzelt Roger, während er sich die polierten Schuhe auf meiner Fußmatte abtritt.
Sie sieht anders aus, als ich dachte. Bei dem Wort »Witwe« habe ich eine ältere Frau in Schwarz erwartet. Resolut, aber verlässlich. Stattdessen ist die Frau auf der Treppe in meinem Alter. Klein, eng in einen billigen blauen Anorak gehüllt, und unter ihrem Kopftuch schauen dunkle Haarsträhnen hervor. Riesige, ernste braune Augen. Ich muss an die Madonnenstatuen in den altmodischen christlichen Läden oben in der Deptford High Street denken, an ihre seligen Gesichter, ein Inbegriff der Demut.
Ich sehe ein regelrechtes kleines Tableau vor mir: diese Frau zwischen den beiden Putten, die über ihr an meiner Tür flattern, und auf der anderen Straßenseite der Kirchturm, der in den orange schimmernden Himmel über London ragt. Im ersten Moment bin ich erleichtert.
Hinter ihnen steigt Claudia aus dem Auto. Sie tänzelt auf Zehenspitzen über das Kopfsteinpflaster, als würde im Rinnstein womöglich noch ein übel riechender Rest des viktorianischen Londons lauern. Wir sind im Deptford des 21. Jahrhunderts, und nicht im schlechteren Teil, trotzdem zeigt sie unverhohlen ihre Vorurteile.
»Kommt rein«, sage ich, und sie schieben sich an Mona vorbei.
Auch der letzte Funken Bedauern über unsere Trennung verfliegt, als Roger durch den Flur geht und dabei die Schultern hochzieht aus Angst, er könnte die Wände berühren und sich schmutzig machen.
Er trägt einen cremefarbenen Anzug mit passender Krawatte, als käme er geradewegs aus einem anderen Jahrhundert. Hätte Claudia nichts damit zu tun, würde mich seine unschuldige Aufmachung vielleicht rühren; Roger hat noch nie ganz in unserer Zeit gelebt, und früher muss ich das mal liebenswert gefunden haben.
Mona hockt auf einem der Küchenstühle, ganz vorne auf der Kante. Ich schenke den anderen einen Gin Tonic ein, und während ich mit Roger spreche, starrt sie ausdruckslos vor sich hin. Obwohl unsere Trennung so abgelaufen ist, wie sie abgelaufen ist, können Roger und ich noch miteinander reden. Das haben wir wohl nur unserem Sohn Leo zu verdanken. Eigentlich seltsam, wenn man bedenkt, welche Sorgen er uns jeden Tag macht.
»So, hier ist sie, Dora. Startklar und bereit zur Arbeit. Ich habe ihr von deinem Vater erzählt, und sie hat sich schon darauf eingestellt.«
»Danke, Roger.«
»Wie geht es Leo?«
»Es geht ihm … besser. Jedenfalls besser als vorher.«
»Er hat sich doch Arbeit gesucht, oder?«
»Er hat es versucht. Es gibt kaum was. Und er ist nicht in der besten Ausgangsposition.«
»Wäre er bei den Prüfungen nicht durchgerasselt …«
»Ich weiß.«
»Ein Praktikum – so läuft das heute. Mit deinen Verbindungen in der Medienbranche musst du doch was für ihn finden können, Theodora.«
Würde Claudia nicht zuhören, würde ich widersprechen. In Rogers Aussage schwingt so viel unausgesprochene Feindseligkeit mit. Aber ich halte mich zurück.
»Ein Praktikum ist genauso schwer zu bekommen wie eine richtige Stelle, Roger. Und du verstehst nicht, worum es geht; sein Selbstwertgefühl ist angeschlagen …«
»Ein Grund mehr für ihn, sich was zu suchen. Der Junge braucht Feuer unterm Hintern.«
Ich lache. »Probier es mit der Peitsche, wenn du willst. Es wird nicht funktionieren. Du hast ja keine Ahnung.«
Ich könnte mich ohrfeigen, als ich höre, wie meine Stimme kippt. Ich will mich nicht vor den anderen aufregen, aber ich ertrage es nicht, wenn Leo so missverstanden wird. Genauso wenig ertrage ich es, dass sich mein Sohn, mein bildhübscher Junge, derart verändert hat. Ich schlucke. Ich will auch nicht danach beurteilt werden, was aus ihm geworden ist, seit er bei mir wohnt.
»Er ist hier«, sage ich leise. »Du kannst gerne selbst mit ihm reden.«
»Dann gehe ich mal kurz zu ihm«, sagt Roger und drückt Claudias Schulter. »Was hast du gesagt, wo er ist?«
»Im Wohnzimmer.«
Wieder bin ich in eine Falle getappt. Roger wird mir vorwerfen, ich würde nichts dagegen unternehmen, dass Leo den Fernseher mit Beschlag belegt.
»Sei behutsam, Roger. Er ist sehr empfindsam. Regt sich leicht auf.«
»Empfindsam. Ein fauler Egoist trifft es wohl eher. Ich werde ihm mal den Kopf waschen.«
Als Roger sich aufrichtet, regen sich die ganzen alten Selbstzweifel in mir. Ich sollte ihm widersprechen, aber dazu fehlt mir die Kraft. Außerdem stehe ich im Moment wegen Mona in seiner Schuld.
»Aber nicht zu lange, Liebling«, säuselt Claudia und lächelt affektiert. »Der Tisch ist für acht reserviert. Um diese Zeit kommt man schlecht durch London.«
»Es dauert nur einen Moment«, sagt er.
Er geht und lässt mich mit Claudia und Mona allein in der Küche. Wir bilden ein verlegenes Trio. Mona hat immer noch kein Wort gesagt, und Claudia will sich nicht setzen. Stattdessen klopft sie mit ihren kurzen Pfennigabsätzen auf meinen Natursteinboden und dreht ihr Glas in den Händen hin und her. Wahrscheinlich hat sie Angst, Endymions Haare könnten an ihren Luxus-Trenchcoat von Aquascutum gelangen. Ich frage mich, warum sie nicht mit Leo reden will. Immerhin ist sie seine Stiefmutter, er hat mehrere Jahre bei ihr gelebt, bevor er zu mir zurückgekommen ist.
»Mona, Dora würde Ihnen gerne Ihren Wohnbereich zeigen«, sagt sie. »Nicht wahr, Dora?«
Natürlich. In Claudias Welt, der Welt, die ich hinter mir gelassen habe, verkehrt man nicht mit Bediensteten.
»Wohnbereich« ist leicht übertrieben. Mona soll in der Kammer hinter der Küche schlafen, die früher mein Arbeitszimmer und dann Leos Lernzimmer war. Durch den schmalen Spalt in der offenen Tür sehe ich die Kleidung, die sich auf dem Boden türmt, und den schiefen Stapel aus Büchern und Zeitschriften auf dem Tisch. Seit Leo Ende letzten Jahres die Oberstufe abgebrochen hat, wird das Zimmer vor allem als Abladeplatz benutzt. Überall liegen seine alten Schulhefte und Bücher, DVDs, die er nicht mehr anschaut, und Kleidung, aus der er herausgewachsen ist.
Ich gehe Mona voran zur Tür, um sie vor Claudias neugierigem Blick abzuschirmen; sie soll das Durcheinander im Zimmer nicht sehen. Ich wollte eigentlich aufräumen, aber wegen der Arbeit und Daddy habe ich keine freie Minute gefunden. Das würde Claudia mit ihren ganzen Hausangestellten nie begreifen.
Bei näherem Hinsehen glaube ich, dass Mona doch ein paar Jahre älter ist als ich. Schiefe Zähne. Schlecht ernährt, matte braune Haut. Ein paar dunkle Pünktchen auf einer Wange.
Als ich für sie die Vorhänge zurückziehe, Endymion aus dem Zimmer scheuche und die Decke auf ihrem Bett glatt streiche, überkommt mich ein warmes Gefühl. Alles an ihr – ihre billige Kleidung, ihr ungeschminktes Gesicht – wirkt nach Claudias harter Oberfläche tröstlich. Am liebsten würde ich sie umarmen.
Ich zeige ihr das kleine Bad vor ihrem Zimmer.
»Ich lasse Sie dann mal auspacken«, sage ich.
Sie zieht ihren Mantel aus.
Nachdem sie ihre Kapuze abgestreift hat, stelle ich fest, dass ihr schwarzes Haar glatt, schlaff und recht fettig ist. Ihr Kinn ist leicht gepolstert. Der Körper wird von mehreren Lagen Kleidung verdeckt, aber man sieht, wie rundlich sie ist. Sie konnte wahrscheinlich nie ein Fitnessstudio besuchen, hat keine Ahnung von gesunder Ernährung und war vielleicht nie beim Zahnarzt – in ihrer Heimat ist so etwas teuer. Ich helfe ihr, denke ich. Ich werde ihr Leben besser machen. Ein fairer Handel – immerhin ist sie hier, um mir das Leben zu erleichtern.
»Morgen zeige ich Ihnen alles und stelle Sie Daddy vor. Sie sind bestimmt müde. Möchten Sie etwas essen? Etwas trinken?«
Sie starrt mich an.
»Essen«, sage ich laut und deute es an. »Trinken?«
»Ah. Nein, danke.«
Sie macht Anstalten, sich zu verbeugen. Ich winke ab, um ihr zu zeigen, dass solche Unterwürfigkeit nicht nötig ist, dann lasse ich sie allein und schließe die Tür hinter mir.
Roger ist nach seiner Begegnung mit Leo schon wieder in die Küche zurückgekehrt.
»Ich habe ihm gesagt, dass er den Fernseher ausmachen muss. Und dass ich keinen Soundtrack hören will, wenn ich mit ihm rede.«
»Und?«
»Irgendwo hat er ein paar unschöne Angewohnheiten aufgeschnappt. Er ist fast schon pampig. Was ist los, Dora?«
»Wie ich gesagt habe. Er ist niedergeschlagen. Der Arzt meint, er sei depressiv.«
Claudia blickt zu Roger auf. Hat sie sich Botox spritzen lassen? Ihr Gesicht wirkt so starr, als könnte es nicht einmal etwas verraten, wenn sie es wollte.
»Depressiv? Er hatte die besten Voraussetzungen, Dora. Ich habe für seine Bildung mehr ausgegeben als für irgendetwas anderes – ich habe sogar dieses Haus bezahlt!«
»Es liegt doch nicht am Geld. Oder an der Schule. Wir sind die Belastung – es war nicht leicht für ihn.«
Jetzt zielt Roger genau auf meine wunde Stelle.
»Wir? Oder du, Dora? Bei dir kommt die Arbeit doch vor allem anderen.«
»Hör mal, Roger, darüber will ich jetzt nicht reden. Claudia möchte das bestimmt nicht hören, oder, Claudia? Wir können uns später treffen und das besprechen.«
Roger seufzt. »Ich gehe mal mit ihm essen, solange wir hier sind. Er braucht ein Ultimatum.«
»Na ja.« Ich habe genug von dem Thema. »Danke,...




