Hamsun | Hunger | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Hamsun Hunger


14001. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8437-0794-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-0794-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit Hunger gelang Knut Hamsun 1890 sein literarischer Durchbruch. Nie wurde menschliches Leid so schonungslos und genau geschildert wie in diesem weltberühmten Roman über einen zerlumpten, halb verhungerten Künstler. »Keine literarische Erfahrung hat sich mir tiefer eingeprägt als Knut Hamsuns Hunger.« Roger Willemsen Die Moderne hält Einzug in Kristiania, dem heutigen Oslo. Die Stadt befindet sich im Aufbruch. Doch der namenlose Ich-Erzähler sieht sich in die Rolle des Zuschauers gedrängt. Unentwegt versucht er, unter schwierigsten materiellen Bedingungen als Journalist und Schriftsteller Beachtung zu finden ? ohne Erfolg. Dabei ist der junge Mann ein begnadeter Fabulierer, auf den Straßen Kristianias erzählt er wildfremden Leuten erfundene Geschichten ? und verschenkt schließlich sein letztes Geld an einen vermeintlich noch ärmeren Bettler. Ohne soziale Anklage wird das Bild einer Stadt präsentiert wie in einem Zerrspiegel: als pervertierte, fremde Welt, als Labyrinth einer Existenz am Rande der Gesellschaft. Zeitlos gültig ist dieser eindringliche Roman, der zu den bedeutendsten Werken der Moderne zählt und der zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts beeinflusste, darunter Marcel Proust und James Joyce.

Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geboren und gilt neben Henrik Ibsen als bedeutendster Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem Debütroman Hunger sogleich ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hoch umstrittene Hamsun starb 1952 in Nørholm.
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ZWEITES STÜCK


Ein paar Wochen später war ich eines Abends draußen.

Ich hatte wieder auf einem der Friedhöfe herumgesessen und an einem Artikel für eine der Zeitungen geschrieben; während ich damit beschäftigt war, wurde es zehn, die Dunkelheit brach herein, und die Pforte sollte geschlossen werden. Ich war hungrig, sehr hungrig; die Kronen hatten leider nur allzu kurz vorgehalten; jetzt war es zwei, fast drei Tage und Nächte her, seit ich etwas gegessen hatte, und ich fühlte mich matt, etwas entkräftet vom Führen des Bleistifts. Ich hatte ein halbes Klappmesser und ein Schlüsselbund in der Tasche, doch keine Öre.

Als die Friedhofspforte geschlossen wurde, hätte ich ja geradewegs nach Hause gehen sollen; aber aus einer instinktiven Scheu vor meinem Zimmer, in dem alles dunkel und leer war, einer verlassenen Klempnerwerkstatt, wo es mir schließlich erlaubt worden war, mich vorübergehend aufzuhalten, taumelte ich weiter, trieb ziellos am Rathaus vorbei, bis hinunter zum Wasser und hin zu einer Bank auf dem Eisenbahnkai, auf die ich mich setzte.

In diesem Augenblick befiel mich kein trauriger Gedanke, ich vergaß meine Not und fühlte mich besänftigt durch den Anblick des Hafens, der friedlich und schön im Halbdunkel lag. Aus alter Gewohnheit wollte ich mich daran erfreuen, das Stück durchzulesen, das ich gerade geschrieben hatte und das meinem leidenden Hirn als das beste erschien, was ich je geschaffen hatte. Ich holte mein Manuskript aus der Tasche, hielt es dicht vor die Augen, um besser zu sehen, und überflog eine Seite nach der anderen. Zuletzt wurde ich müde und steckte das Papier ein. Alles war still; das Wasser lag da wie blaues Perlmutt, und die kleinen Vögel flogen von hier nach da stumm an mir vorbei. Ein Polizist patrouilliert etwas weiter weg, sonst ist kein Mensch zu sehen, und der ganze Hafen liegt lautlos da.

Ich zähle wieder meine Barschaft: ein halbes Taschenmesser, ein Schlüsselbund, aber nicht eine Öre. Plötzlich greife ich in meine Tasche und ziehe erneut die Papiere hervor. Es war ein mechanischer Akt, eine unbewusste Nervenzuckung. Ich wähle ein unbeschriebenes weißes Blatt aus, und – Gott weiß, woher mir diese Idee kam – ich faltete eine Tüte, verschloss sie umsichtig, so dass sie wie voll aussah, und warf sie weit von mir aufs Pflaster; der Wind wehte sie noch etwas weiter weg, dann blieb sie liegen.

Der Hunger hatte jetzt angefangen, mir zuzusetzen. Ich schaute auf diese weiße Tüte, die gleichsam prall von blankem Silbergeld war, und steigerte mich in den Glauben hinein, dass sie wirklich etwas enthielt. Hoch aufgerichtet saß ich da und verleitete mich dazu, die Summe zu erraten – wenn ich richtig riet, war sie mein! Ich stellte mir die kleinen, niedlichen Zehnörestücke zuunterst vor und oben die fetten, geriffelten Kronenstücke – eine ganze Tüte voller Geld! Ich starrte sie mit weit aufgerissnen Augen an und verführte mich selbst dazu, hinzugehen und sie zu stehlen.

Dann höre ich den Wachtmeister husten – und wieso kam ich dazu, genau dasselbe zu tun? Ich erhebe mich von der Bank und huste, und ich wiederhole das dreimal, damit er es hört. Wie er sich auf die Tüte stürzen wird, wenn er kommt! Ich freute mich schon auf diesen Klamauk, rieb mir verzückt die Hände und fluchte großartig das Blaue vom Himmel. Der wird wohl mit langem Gesicht wieder abziehen, der Hund! Der wird wohl wegen dieser Lumperei in den heißesten Pfuhl der Hölle versinken! Ich war vom Hunger betrunken, mein Hunger hatte mich berauscht.

Ein paar Minuten später kommt der Wachtmeister mit seinen eisenbeschlagenen Absätzen übers Pflaster geklappert, nach allen Seiten spähend. Er lässt sich Zeit, er hat noch die ganze Nacht vor sich; er sieht die Tüte nicht – nicht ehe er ganz nahe bei ihr ist. Da bleibt er stehen und betrachtet sie. Was da liegt, sieht so weiß und wertvoll aus, ein Sümmchen vielleicht, wie? Ein Sümmchen Silbergeld? … Und er hebt sie auf. Hm! Die ist leicht, die ist sehr leicht. Vielleicht eine erlesene Feder, ein Hutschmuck … Und er öffnet sie behutsam mit seinen großen Händen und schaut hinein. Ich lachte, lachte und schlug mir aufs Knie, lachte wie ein Verrückter. Und nicht ein Laut kam mir aus der Kehle, mein Lachen war tonlos und hektisch, hatte die Inbrunst eines Weinens …

Dann klapperte es wieder übers Pflaster, und der Wachtmeister macht sich auf in Richtung Kai. Ich hatte Tränen in den Augen und schnappte nach Luft, völlig außer mir vor fieberhafter Ausgelassenheit. Ich fing an, laut zu sprechen, erzählte mir von der Tüte, machte die Bewegungen des armen Wachtmeisters nach, schaute in meine hohle Hand und wiederholte mir immer wieder: Er hat gehustet, als er sie wegwarf! Er hat gehustet, als er sie wegwarf! Zu diesen Worten fügte ich neue, gab ihnen prickelnde Ergänzungen, stellte den ganzen Satz um und spitzte ihn zu: Er hat einmal gehustet – khöhö!

Ich erschöpfte mich in Variationen dieser Worte, und es wurde später Abend, bis meine Ausgelassenheit erlosch. Mich überkam danach eine schläfrige Ruhe, eine behagliche Mattigkeit, der ich keinen Widerstand entgegensetzte. Das Dunkel war etwas dichter geworden, eine kleine Brise furchte das Perlmutt des Wassers. Die Schiffe, deren Masten ich gegen den Himmel sah, erschienen mit ihren schwarzen Rümpfen wie lautlose Ungeheuer, die mich mit gesträubten Borsten erwarteten. Ich verspürte keinen Schmerz, mein Hunger hatte ihn abgestumpft; stattdessen fühlte ich mich behaglich leer, unberührt von allem um mich her und froh, von allen ungesehen zu sein. Ich legte die Beine auf die Bank und lehnte mich zurück, so konnte ich am besten das ganze Wohlbefinden des Alleinseins auskosten. Keine Wolke war in meinem Gemüt, kein Gefühl des Unbehagens, und keine Lust und kein Verlangen in Reichweite meiner Gedanken unerfüllt. Ich lag mit offenen Augen in einem Zustand der Selbstentrücktheit, ich fühlte mich herrlich fern.

Immer noch gab es keinen Laut, der mich störte; das sanfte Dunkel hatte das All vor meinen Augen verborgen und mich hier in eitel Ruhe begraben – nur das einsame Rauschen der Stille schweigt mir monoton ins Ohr. Und die dunklen Ungeheuer dort draußen werden mich ansaugen, wenn die Nacht kommt, und sie werden mich weit übers Meer tragen und durch fremde Länder, wo keine Menschen wohnen. Und sie werden mich auf Prinzessin Ylajalis Schloss bringen, wo meiner eine ungeahnte Herrlichkeit harrt, größer als die irgendeines Menschen. Und sie selbst wird in einem glanzvollen Saal sitzen, wo alles Amethyst ist, auf einem Thron gelber Rosen, und die Hand nach mir ausstrecken, wenn ich eintrete, grüßen und mir ein Willkommen zurufen, wenn ich mich nähere und niederknie: Willkommen, Ritter, mir und meinem Land! Zwanzig Sommer habe ich deiner geharrt und alle hellen Nächte dich gerufen, und wenn du trauertest, habe ich hier geweint, und wenn du schliefst, habe ich dir herrliche Träume eingehaucht … Und die Schöne nimmt meine Hand und geleitet mich, führt mich durch lange Gänge, wo große Menschenscharen Hurra rufen, durch lichte Gärten, wo dreihundert junge Mädchen tändeln und lachen, in einen weiteren Saal, wo alles schimmernder Smaragd ist. Darinnen scheint die Sonne, durch Galerien und Gänge schallen anmutige Chöre von Musik, Ströme von Duft schlagen mir entgegen. Ich halte ihre Hand in der meinen, und ich fühle den wilden Liebreiz der Bestrickung in mein Blut fluten; ich lege meinen Arm um sie, und sie flüstert: Nicht hier, komm noch weiter! Und wir treten in den roten Saal, wo alles Rubin ist, eine schäumende Pracht, in die ich hinsinke. Da fühle ich ihre Arme um mich, sie haucht in mein Antlitz, flüstert: Willkommen, Geliebter! Küss mich! Mehr … mehr …

Ich sehe von meiner Bank aus Sterne vor den Augen, und meine Gedanken stieben in einen Orkan von Licht …

Ich war, wo ich lag, eingeschlafen und wurde von einem Wachtmeister geweckt. Da befand ich mich unbarmherzig ins Leben und ins Elend zurückbeordert. Mein erstes Gefühl war ein stupides Erstaunen, mich draußen unter offnem Himmel zu finden, doch bald wurde dies von einem bittren Missmut abgelöst; ich war kurz davor zu weinen, aus Kummer, noch am Leben zu sein. Es hatte geregnet, während ich schlief, meine Kleider waren völlig durchnässt, und ich spürte eine feuchte Kälte in meinen Gliedern. Das Dunkel war noch dichter geworden, nur annähernd konnte ich die Gesichtszüge des Wachtmeisters vor mir erkennen.

Soo, sagte er, stehen Sie jetzt auf!

Ich erhob mich sofort; wenn er mir befohlen hätte, mich wieder hinzulegen, hätte ich auch gehorcht. Ich war sehr niedergeschlagen und völlig kraftlos; hinzu kam, dass ich fast augenblicklich wieder den Hunger spürte.

Nicht so schnell, Sie Esel!, rief der Wachtmeister mir nach, Sie vergessen ja Ihren Hut. Soo, gehn Sie jetzt!

Mir war doch auch so, als ob ich irgendwie – irgendwie etwas vergessen hätte, stammelte ich abwesend. Danke, gute Nacht.

Und ich taumelte weiter.

Wer jetzt ein bisschen Brot hätte! So ein köstliches kleines Roggenbrot, von dem man abbeißen konnte, während man durch die Straßen zog. Und ich ging weiter und stellte mir ebendiese besondere Sorte Roggenbrot vor, die zu haben so schön wäre. Ich hungerte bitterlich, wünschte mich tot und begraben, wurde rührselig und weinte. Mein Elend wollte kein Ende nehmen! Da machte ich unvermittelt auf der Straße halt, stampfte aufs Pflaster und fluchte laut. Wie hatte er mich doch gleich genannt? Esel? Ich werde diesem Wachtmeister zeigen, was es heißt, mich Esel zu nennen! Damit machte ich kehrt und lief zurück. Mir war vor Wut flammend heiß. Auf der Straße stolperte ich und fiel, aber ich kümmerte mich nicht darum, sprang wieder auf und lief. Unten...


Hamsun, Knut
Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geboren und gilt neben Henrik Ibsen als bedeutendster Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem Debütroman Hunger sogleich ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hoch umstrittene Hamsun starb 1952 in Nørholm.



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